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Fünftes Kapitel

Wir reisten also ab und fanden, als wir zurückkehrten, unsere die ganze Zeit über unbewohnte Wohnung in außerordentlich gutem Zustande vor, dagegen wohnten jetzt Tür an Tür mit uns neue Mieter. Und zwar eine junge Dame mit ihrer alten Mutter und einer sechsjährigen Tochter, die ein sehr schönes Mädchen war. Die neuen Nachbarn gingen uns natürlich gar nichts an, trotzdem aber stellten Mama und Tante unwillkürlich einen merkwürdigen, ja sonderbaren Familienzug in den Gesichtern unserer drei neuen Nachbarinnen fest. Die drei standen in verschiedenen Lebensphasen und doch waren diese Gesichter – die verwelkte Schönheit sowohl, als auch die blühende und die noch kaum entfaltete – wie durchtränkt oder gesättigt von einer ihnen eigenen Trauer und es sprach aus ihnen die schicksalsvolle Vorherbestimmung des Unglücks.

Tante Olga versuchte in Erfahrung zu bringen, ob sie nicht am Ende arm seien, – aber es stellte sich zu ihrer Freude heraus, daß diese Familie ihren Ernährer habe; es stellte sich heraus, daß die junge Dame einen Regimentsarzt zum Gatten habe und daß die drei sorgenlos leben konnten. Die Tante bekreuzigte sich und sagte nur das eine »Gottlob!« Dieses Gottlob ging sowohl unsere Nachbarinnen an, als auch die Tante selber, die nämlich noch in der ersten Nacht ihrer Rückkehr in die Stadt im Traume sah, wie Pawlin und seine zwei Henker zu unseren Nachbarinnen kamen und aus ihren Fenstern alles auf den Hof warfen, gleichzeitig aber wurde vom Hof ein Sarg getragen und auf diesem Sarg saß das wunderhübsche Mädchen mit dem von Trauer gesättigten Gesicht und den Zügen schicksalsvollen Unglücks, Pawlin überschritt in seiner bunten Livree, der gestickten Schärpe und dem Dreimaster hinter dem Zuge her. Er hielt in der einen Hand seinen Stab mit glänzendem Knauf und einer Fackel, in der anderen aber – seinen eigenen abgeschnittenen Kopf, von unterhalb der Erde aber flatterten rings um ihn her blaß-rosige Vögel auf: Sie schwangen sich schnell in die Höhe und vollführten dabei mit ihren Flügeln einen unerträglichen Lärm, von oben jedoch fielen von diesen selben Flügeln weiße kleine Federchen, die in dem Maße, in welchem sie sich der Erde näherten, immer mehr zu verglimmender Asche wurden. Ein Augenblick – und schon war nichts mehr von der Buntheit der Uniform Pawlins da, schwarz ragte er empor, als sei er ein verkohlter Baumstumpf, und jetzt hatte er auch seinen Kopf wieder, aber der war so schrecklich, daß die Tante sich davor entsetzte, aufschrie und aufwachte, – allein sie wachte in der Überzeugung auf, daß sie einen Wahrtraum gesehen, der nicht ohne Folgen sein könnte.

Sie täuschte sich nicht, die Tante: der Traum kündigte eine Wahrheit an: schwere und schicksalsvolle Prüfungen standen dem unerschütterlichen Pawlin bevor.

Es begann damit, daß, als wir eines Morgens um die Zeit der grausamsten Winterkälte erwachten, wir in der Wohnung unserer neuen Nachbarinnen drei herausgenommene Fensterrahmen bemerkten. Mütterchen und Tante wußten sofort, daß das nur das Werk unseres » guten« Pawlin sein konnte und ächzten leise. Draußen herrschte, wie ich Ihnen bereits sagte, der bitterste Frost, und es war wahrhaftig nicht schwer, sich vorzustellen, was die armen Frauen jetzt wohl empfinden mußten, deren Behausung unser guter Pawlin im tiefsten Winter in eine sommerliche Lage versetzt hatte. Es war klar, daß sie in ihren Zimmern mit den herausgenommenen Fenstern zu Stein erstarren mußten. Nervös, wie Mama nun einmal war, geriet sie in den heftigsten Zorn: mehrfach bezeichnete sie unseren »guten« Pawlin als einen Henker, Juden oder Räuber und schickte augenblicks unser Stubenmädchen hinüber, mit der Bitte, die Nachbarinnen möchten ihr den Gefallen tun, auf eine Weile mit einem unserer Zimmer, das auch sofort zu ihrem Empfang hergerichtet wurde, vorlieb zu nehmen. Aber unser Stubenmädchen kam mit dem Bescheide zurück, die gnädige Frau sei ausgegangen und ihre alte Mutter lasse uns für unsere Freundlichkeit Dank sagen, müßte jedoch das Anerbieten meiner Mama entschieden ablehnen. Ihre Ablehnung motivierte die Alte damit, daß sie auf ihre Tochter warte und fest davon überzeugt sei, daß dieselbe bald mit dem Gelde zurückkommen würde, und daß sie alsdann die Schuld bezahlen könnten, worauf alles wieder ins Gleis kommen dürste. Mama schickte einen zweiten Boten mit der Bitte hinüber, uns doch mindestens das kleine Mädchen anzuvertrauen, das sich bei den herausgenommenen Fensterrahmen erkälten könnte. Diese Botschaft war erfolgreicher: ich sehe es noch heute, wie man das sechsjährige Mädelchen mit dem sehr hübschen Gesichtchen, das doch bereits so etwas wie einen Stempel trug, zu uns herüberbrachte. Es gibt solche Gesichter, ja, wahrhaftig, es gibt sie: diese Beobachtung habe ich mehrfach in meinem Leben machen können. Es war nur zu schade, daß unser kleiner Besuch die schwierige Lage, in die seine Angehörigen geraten waren, damals noch nicht voll verstand, denn, nachdem die Kleine das warmgefütterte Seidenmäntelchen abgestreift, in welchem man sie zu uns geschafft hatte, war es ihr erstes, alle Aufmerksamkeit darauf zu verwenden, mit der größtmöglichsten Grazie bei uns einzutreten und eine niedliche Verbeugung zu machen, was ihr übrigens ausgezeichnet gelang. Es war offensichtlich, daß man sich mit ihrer äußeren Wohlerzogenheit und ihren Manieren große Mühe gegeben hatte, damals waren übrigens Kinder, die nicht ins Zimmer zu treten oder sich nicht zu verbeugen verstanden, noch nicht in Mode gekommen, – damals gab es noch keine Mütter, die zuvor Fröbel-Kurse durchmachen.

Noch ehe die Kleine, die Ljúba hieß, bei uns recht warm geworden, kehrte ihre Mutter, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, nach Hause zurück. Wir sahen, wie die junge Frau die Wohnung betrat, allein zu unserem größten Erstaunen eilte sie nicht augenblicks zu uns herüber, um ihr Töchterchen zu holen, ja, sie schickte auch niemand nach ihr und es folgten ihr auch nicht, wie immer in den Fällen, wenn die ausständige Summe bezahlt worden war, die Leute mit den herausgenommenen Fensterrahmen … Das waren schlechte Anzeichen: es war mithin nicht schwer zu erraten, daß unsere arme Nachbarin ohne Geld zurückgekehrt war: meine Mama und Tante Olga erfaßten das sofort und ohne sich lange zu besinnen, eilte die letztere in die ruinierte Wohnung hinüber, kehrte nach einer Minute wieder zurück und sperrte ihre Schatulle auf und war flugs wiederum drüben bei den Nachbarinnen. Zehn Minuten darauf zog denn auch die bekannte Prozession über den Hof: die Hausknechte, die Rahmen, die Hämmer, die Zangen, die Nägel und der Blecheimer mit dem Kitt, und hinter all diesem schritt der bunte Pawlin mit dem mir bis heute Angst einflößenden Zahlbuche. Es war klar, daß die gute Tante die notwendige Summe aufgebracht, und daß unsere Nachbarinnen das Geld angenommen und ihren Mietzins damit beglichen hatten. Die Nebenwohnung wurde nunmehr ohne Verzug wieder hergerichtet und geheizt. Da aber die Zimmer, die einige Stunden hindurch ohne Fenster gewesen waren, in erheblichem Maße abgekühlt waren, weigerten sich Mama und Tante Olga nicht nur, die kleine Ljuba nach Hause zurückkehren zu lassen, sondern es gelang ihnen auch, die Mutter für diesen Tag zu Gast zu haben. Sie baten auch Ljubas Großmutter, herüberzukommen, doch die alte Dame bedankte sich höflich und war um nichts in der Welt zu bewegen, ihre Wohnung zu verlassen und so blieb sie denn zu Hause. Ljubas Mutter dagegen blieb bei uns bis Mitternacht und erzählte uns bitter weinend, daß ihr Gatte als Arzt in einem der damals in Ungarn stehenden russischen Regimenter diene – daß sie allerdings nicht das geringste Vermögen besäßen, daß sie jedoch bislang ohne Sorgen gelebt, solange nicht der Gatte mit seinem Regiment ins Feld gerückt war. Anfangs schickte er ihnen freilich regelmäßig das Nötige zu ihrem Unterhalt, seit zwei Monaten aber sei er völlig verstummt und es fehle jede Nachricht von ihm.

»Und Gott weiß,« rief schluchzend die Dame, »leicht möglich … daß er gar nicht mehr am Leben ist, oder vielleicht gefangen, oder ist ihm am Ende noch etwas Schlimmeres passiert – und dann … mein armes Kind … mein armes Kind, was wird mit ihm geschehn?«

Sie blickte die kleine Ljuba an, mit der ich spielte, indem ich sie auf einem Sessel postiert und mich selber auf die Knie vor ihr niedergelassen hatte, und mußte sich plötzlich abwenden, wobei sie die Augen mit der Hand verdeckte und in einer sonderbaren Entrückung murmelte:

»Dunkel, so dunkel; ich kann in solche Finsternis nicht schauen!«

Und mit einem Male kam ein Schaudern über sie, sie eilte auf ihr Kind zu und preßte es an ihre Brust und verharrte lange in dieser Stellung.

Tante Olga wußte mehr als sie: sie wußte, daß der Ernährer dieser Waisen nicht mehr auf der Welt war: entweder hatte eine Ungarnkugel ihn niedergestreckt oder ein schleichendes Fieber ihm den Garaus gemacht. Die Großmutter wußte es und hatte es Tante Olga gesagt, damit diese ihr helfe, die schicksalsvolle Nachricht der armen Witwe mitzuteilen und ihr beistehe, das ganze Grauen ihrer hilflosen Lage zu erfassen.

Die Tante führte diesen traurigen Auftrag vermutlich aus, obwohl ich nicht weiß, wie und wann sie es tat, aber meine empfindsame und nervöse Mutter wollte nach diesem Tage unter keinen Umständen länger in unserer Wohnung bleiben und so zogen wir denn tatsächlich schon bald danach in ein anderes Haus, in welchem es keinen Pawlin gab und keinen von den grausamen Bräuchen, die er immer mit solcher Strenge zur Anwendung brachte.


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