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Drittes Kapitel

Mütterchen und Olga Petrowna, ihre Schwester, die damals nie recht gesund war und sich meiner Erziehung annahm, bewohnten eine kleine Wohnung im zweiten Hofe von Anna Lwownas Hause. Ich kann mich natürlich nicht mehr erinnern, wieviel wir für unsere Wohnung zahlten und kann auch nicht sagen, was mit uns geschehen wäre, wenn wir es einmal versäumt hätten, die Miete am festgesetzten Tage zu entrichten. Es ist anzunehmen, daß Anna Lwowna sich nicht viel um das Andenken ihres verlorenen Gatten gekümmert und mithin seiner Schwester, die meine Mutter war, keine Nachsicht erwiesen hätte, allein warum meine Mutter es vorzog, im Hause der Schwägerin zu leben, in welchem uns auf den ersten Schritt eine Unannehmlichkeit widerfuhr, die uns zum ersten Male mit Pawlin zusammenbrachte, das weiß nur Gott. Es war am Weihnachtsabend, als wir in das Haus der Tante zogen. Der Tag hatte Frost gebracht und war wie immer um die Jahreszeit in Petersburg sehr kurz, so daß, als die Fuhren mit unseren einfachen Möbeln auf den Hof kamen, die Dämmerung bereits herein gebrochen war. Mütterchen war gerade bei der Tante Anna Lwowna, Tante Olga aber, die Anna Lwowna nicht ausstehen konnte, und ich spazierten in der leeren Wohnung auf und ab; doch kaum waren unsere Möbel eingetroffen, als auch Mütterchen bereits in der Wohnung erschien, um Anweisungen zu geben, wohin man die einzelnen Sachen zu stellen hätte. Sie erzählte, daß Anna Lwowna selber ihr das anempfohlen hätte und so war sie denn da und sagte zu den Dienstleuten, sie möchten mit dem Hereintragen beginnen, allein die Dienstleute blickten einander unentschlossen an, denn hinter ihren Schultern wuchs Pawlins Gestalt empor und hinter ihm kamen schon seine zwei Adjutanten mit den bekannten Werkzeugen.

»Was wünschest du, mein Bester?« fragte man.

»Ich bitte um das Geld für einen Monat,« entgegnete Pawlin und öffnete vor Mama sein Buch.

»Schon gut, mein Bester, schon gut; ich schick es dir morgen früh herüber,« erwiderte Mama mit der ihr angeborenen Freundlichkeit und schob dabei Pawlin und sein Buch beiseite und rief nach den Dienstleuten, die Dienstleute jedoch rührten sich nicht, Pawlin aber lächelte unmerklich und entgegnete, daß er bis morgen unmöglich warten könnte und daß das Geld ihm unbedingt sofort und zwar in diesem Augenblick bezahlt werden müßte.

Mama hielt das für eine Unverschämtheit und wurde ganz blaß, so böse machte es sie.

Pawlin merkte es, es war ihm augenscheinlich sehr unangenehm, er runzelte die Brauen und beeilte sich, mit einer gewissen nervösen Ungeduld in der Stimme, hinzuzufügen:

»Gnädigste! so ist es hier Brauch.«

»Vortrefflich, daß das dein Brauch ist, aber ich sollte doch meinen, du könntest dir überlegen …«

Mütterchen fand, da sie zornig war, keine Worte und hielt inne.

Pawlin jedoch entgegnete ihr auf die letzten Worte:

»Das kann ich.«

»Weißt du, daß Anna Lwowna mir keine Fremde ist, sondern daß wir verwandt sind?«

»Das weiß ich.«

»Wenn du es also weißt, was … ja, was willst du denn noch?« …

»Das Geld … sonst kann ich nicht erlauben, daß Ihre Möbel hereingetragen werden.«

»Was kannst du nicht erlauben? Sollen die Möbel vielleicht die Nacht über auf dem Hofe stehen und wir vielleicht auf dem Fußboden schlafen?«

»Auf dem Fußboden sollen Sie nicht schlafen, ich bitte Sie, von hier fortzugehen, denn sonst muß ich sogleich den Befehl erteilen, die Fensterrahmen auszuheben,« entgegnete Pawlin und runzelte wiederum nervös die Augenbrauen: »so ist es bei uns eben Sitte.«

Unsere Dienstboten und die Kutscher, die uns unsere Möbel hergefahren hatten, tuschelten ganz verstört miteinander. Pawlin stand mit seinem Buch im Vorzimmer und beachtete es nicht.

»Aber das ist ja zu lächerlich,« rief Mama, »Ich war doch soeben noch bei Anna Lwowna und sie hat mir mit keinem Wort angedeutet, daß sie mir die Summe nicht bis morgen stunden könnte … Ich saß zu lange bei ihr, und jetzt ist es zu spät geworden, zur Bank zu gehen und Geld zu holen … Aber … aber das ist doch alles Unsinn! Ich habe gar keine Absicht, mich mit dir lange zu streiten,« fügte Mütterchen erzürnt hinzu und sagte, sie ginge jetzt sofort zu Anna Lwowna.

»Das wird vergebens sein,« warf Pawlin trocken hin.

»Das geht dich nichts an, mein Bester!«

Sie nahm in ihrer Erregung ein Tuch, das sie sich um die Schultern warf und eilte zur Hausfrau, Pawlin aber gab unterdessen, ohne seinen Posten zu verlassen, seinen Assistenten einen Wink, den wir nicht bemerkten, doch wehte schon eine Minute darauf zu unserem nicht geringen Erstaunen aus dem Zimmer, das als Schlafzimmer gedacht war, eine durchdringende Kälte. Ich, der ich mich bis dahin mit Betrachtung von Pawlins bunter Ausstaffierung beschäftigt hatte, drehte mich um und sah, daß die Hausknechte gerade einen der inneren Fensterrahmen aus der Wohnung trugen, gleichzeitig kam von der anderen Seite Mama und sagte, vor Kälte und Unwillen bebend, in französischer Sprache:

»Stell dir das nur vor, Olga: wie gefällt dir Anna Lwowna? Denk mal: sie hat mich nicht empfangen!«

Aber die gute Tante Olga erwiderte, daß sie das vorausgesehen hätte.

»Ist das nicht furchtbar!« entgegnete Maman: »Ich bin überzeugt, daß sie zu Hause ist, denn es ist noch keine Viertelstunde her, daß wir uns trennten; und dennoch sagt man mir, daß sie zur Mitternachtsmesse gefahren sei. Wie ist es denn nur denkbar, daß sie der Mitternachtsmesse beiwohnt, wenn man hier in ihrem Hause die Verwandten ihres Mannes so bitter kränkt! Wir wollen fort von hier, mag alles auf dem Hofe stehen bleiben, ich will unter keinen Umständen hier wohnen, mein Fuß soll dieses Haus nicht mehr betreten! Zieh dich an und laß uns in irgend ein Gasthaus gehn. Ich will keine Minute länger diesen Taugenichts sehen!«

Nachdem meine nervöse Mama dieses an Pawlins Adresse gerichtete Kompliment hinausgeschleudert, begann sie hastig, mich in meinen warmen Mantel zu hüllen. Die Verwirrung der Dienstboten wuchs von Minute zu Minute; die Hausknechte mit den aus den Angeln gehobenen Fensterrahmen lachten leise; die Fuhrleute unten auf dem Hof schrien und murrten laut, daß es ihnen zu lange dauere und daß man sie endlich fortlassen solle; und durch die herausgenommenen Fensterrahmen kroch die Kälte immer fühlbarer in die Wohnung. Pawlin stand noch immer in seiner gemessenen Haltung da, nichts auf seinem Gesicht ließ auch nur auf die geringste Unruhe schließen. Und wie sonderbar Ihnen auch der Vergleich erscheinen sollte, er erinnerte mich, während ich ihn so dastehen sah, an Goethe, dessen würdevolle und bis zur Kälte ruhige Erscheinung ich auf einer Gravüre, die in eines meiner Kinderbücher geklebt war, oft betrachtet hatte. Es war, als gingen die kleinen Leiden der Menschen Pawlin nicht im geringsten an, es war, als hätte er lediglich eine allgemeine Harmonie dessen, was rings geschah, im Sinne.

Doch ungeachtet dieser meiner Beobachtungen weiß ich noch heute nicht, womit dieses lächerliche und gleicherweise ärgerliche Hindernis, das sich uns in den Weg stellte, geendet haben würde; vermutlich wären wir, wenn sich nicht Tante Olga eingemischt hätte, einfach fortgeschickt worden. Sie trat mit Mama ein wenig beiseite und vermochte sie, französisch redend, endlich dahin zu bestimmen, daß wir durch Übereilung nichts gewinnen und der verehrten Anna Lwowna hierdurch nichts anhaben würden, da sie vermutlich bereits öfters ähnliche Dinge erlebt hätte und dennoch nicht anderen Sinnes geworden sei.

»Aber ich bin davon überzeugt, daß nicht sie es ist, sondern einzig dieser Grobian,« meinte schließlich meine Mama fast nachgebend.

»Ich aber bin vom Gegenteil überzeugt, davon nämlich, daß sie es ist und nicht etwa ›dieser Grobian‹, wie du ihn nennst. Er scheint mir ein sehr guter und ehrlicher Mensch zu sein, denn er tut seine Pflicht mit der denkbar größten Genauigkeit und ich muß sagen, daß ich dies sowohl zu würdigen als auch zu schätzen weiß,« entgegnete Olga.

»Doch wir, was sollen wir jetzt tun? Es ist lächerlich: ich habe nicht genug Geld bei mir, ich versäumte, es rechtzeitig zu holen …«

»Wir werden es bekommen und bezahlen.«

»Wo? die Bank ist jetzt geschlossen, es ist inzwischen Abend geworden und wir haben hier keine Bekannten (wir waren damals gerade aus der Provinz nach Petersburg gezogen). Ich kann es doch nicht von Anna Lwowna leihen, um es ihr danach wiederzugeben.«

»Nein, natürlich nicht,« entgegnete Tante Olga. Sie näherte sich gleich darauf Pawlin und fragte ihn, während sie zwei Brillantringe vom Finger streifte: »Wäre es Ihnen möglich, dies hier als Pfand bis übermorgen aufzubewahren? Übermorgen werden wir das Geld haben und die Ringe auslösen.«

»Gnädigste, ich habe die Pflicht, der gnädigen Frau das Geld sogleich vorzulegen,« erwiderte Pawlin voll des tiefsten Respektes vor Olga.

Man konnte aus der Intonation seiner Stimme darauf schließen, wie dankbar er ihr dafür war, daß sie sich vor Mama für ihn verwendet hatte.

»Nun, dann schicken Sie in irgendeinen Laden und lassen Sie diese Ringe verpfänden.«

Pawlin überlegte – und winkte dann mit einem Augenzwinkern einen seiner Hausknechte heran, er befahl ihm, Olgas Verlangen zu erfüllen und die Ringe bei einem ihm bekannten Ladeninhaber zu versetzen, dessen Namen er nannte und ihn der Genauigkeit halber noch einmal wiederholte.

In der Zwischenzeit, bis der ausgeschickte Hausknecht mit dem Gelde zurückkam, und zwar brachte er uns mehr, als wir für diesen Zweck überhaupt benötigten, half Pawlin dem andern den herausgehobenen Fensterrahmen wieder einzusetzen; nachdem er dann das Verlangte von uns erhalten hatte, verbeugte er sich schweigend und verließ uns.

Tante Olga, die nicht nur sehr gescheit und gut war, sondern auch einen ausgezeichneten und heiteren Charakter hatte und sehr witzig sein konnte, begann sogleich nach Pawlins Fortgehen auf das lustigste über die überwundene schwierige Lage zu spotten und brachte hierdurch nicht nur Mama und mich in die allerbeste Stimmung, sondern auch unsere Bedienung und die Fuhrleute, zumal die letzteren, die, während sie unsere Möbel von unten in die Wohnung trugen, die ganze Zeit über Witze auf Kosten Anna Lwownas machten und sie Teufelin nannten und Hexe und ihr auch noch andere schmeichelhafte Beinamen zulegten.

Schon nach einer Stunde stand jedes Möbelstück, wo es stehen sollte, die kleineren Sachen waren, so gut es eben ging, geordnet und die Wohnung nach Kräften in Stand gesetzt, und nach einer weiteren Stunde, die Mütterchen, Tante und ich damit verbrachten, daß wir zum Nachtgottesdienst gingen, waren die Zimmer bereits schön warm und wir konnten auf unseren frischüberzogenen Betten in den Feiertag hinüberschlafen. Nach einem weiteren Tage wurden, wie es sich von selber versteht, die Ringe der Tante Olga ausgelöst und so nahm unser Leben seinen gewöhnlichen Verlauf, obwohl wir nach den Unannehmlichkeiten, die uns bei den ersten Schritten zugestoßen, entschlossen waren, hier nicht lange zu bleiben. Mama meinte sogar, wir würden nicht länger als einen Monat in dieser Wohnung bleiben und daß sie, wenn es ihr gelänge, schon vorher passende Räumlichkeiten zu finden, auch schon früher ausziehen würde. Niemand widersprach ihr, aber zum großen Arger Mamas fand sich keine bequemere Wohnung, und die, in der wir jetzt lebten, war warm und trocken und sagte uns ausgezeichnet zu. Zudem zeichnete sich Tante Anna Lwownas düsteres Haus, dank dem darin herrschenden strengen Geiste Pawlins, durch Stille und Sauberkeit aus, was Tante Olga mehrfach hervorhob, und so gelang es ihr, Mama nach und nach zu besänftigen und zum Entschluß zu bringen, nicht vor dem Anbruch des Sommers umzuziehen.

»Wir schädigen sie dadurch nicht im mindesten,« meinte Tante Olga in bezug auf die verehrliche Anna Lwowna, »denn wir allein sind es, die durch einen Umzug Mühe und Verluste haben werden. Lohnt sich das wirklich?«

Nach und nach erklärte sich Mütterchen damit einverstanden, daß Anna Lwowna so viel Aufregung nicht wert sei und entschloß sich, noch einen Monat zuzugeben, freilich nur unter der einen Bedingung, daß der »Grobian«, das heißt Pawlin, ihre Ruhe nicht ferner störe, und sich niemals wieder in unserer Wohnung zeige.

Tante Olga nahm es auf sich, das zu arrangieren – und begab sich am Tage, bevor unser zweiter Monatszins fällig war, selber mit dem Gelds zur Portiersloge und händigte es Pawlin ein.

Weder Mama noch Tante Olga unterhielten mit Anna Lwowna irgendwelche Beziehungen, ja, ich konnte sogar trotz meiner damaligen geringen Erfahrungen die Beobachtung machen, daß Tante Olga unüberwindlichen Abscheu vor Anna Lwowna empfand. Wir lebten in dem Hause, als wären wir fremde Leute, die keineswegs mit der Hausbesitzerin bekannt feien, aber das drückte uns wenig, – und auch sie störte es vermutlich nicht. – Von Zeit zu Zeit konnten wir durch unsere Fenster beobachten, wie Pawlin seine, schicksalsvollen Umgänge vollzog und durchs Haus schritt, um die Mietgelder einzukassieren; wir konnten wahrnehmen, wie als Folge davon bald in der einen und anderen Wohnung gähnende Öffnungen statt der Fenster entstanden; aber da es uns nicht mehr direkt anging, gewöhnten wir uns bald daran und begannen mit der Zeit sogar darüber zu lachen. Läßt sich das ändern? – Da sieht man wieder einmal die Macht des »Ungeheuers Gewohnheit«. Aber wir lachten nicht über den Kummer der Mieter, die ausgefroren wurden, sondern darüber, daß so etwas in einer großen Stadt möglich war, ganz, als sei dieses Haus ein Wirtshaus in einsamer Steppe. Der würdevolle und bunte Pawlin mit der Miene und Figur Goethes, die Hausknechte mit ihren Instrumenten, die so sehr an jene von Steuben gemalten Söldner erinnerten, die Christus kreuzigten, das schnelle Ausheben und Einsetzen der Fenster und nicht zum mindesten der völlige Gleichmut aller gegen diese Eigenmächtigkeit – ja, in der Tat, hatte das alles nicht etwas Tragikomisches an sich? Bei uns zeigte Pawlin sich nie mehr, denn als der zweite Monat um war, wandte Tante Olga sein Erscheinen wiederum dadurch ab, daß sie sich am Vorabend mit dem Mietzins persönlich in seine Portierloge begab; und ebenso machte sie es, als der vierte Monat anbrach, – kurz, diese Sitte bürgerte sich bei uns ein, – und so lebten wir denn dank ihr unbehelligt in unserer guten und bequemen Wohnung und vergaßen allmählich, daß das Haus Anna Lwowna gehörte, ihr, die uns auf eine so originelle Weise fast um das Weihnachtsfest gebracht hatte. Wir gedachten ihrer nur dann, wenn wir durch unsere Fenster die Fenster ihrer Prunkräume erleuchtet sahen, und meinten dann gleichgültig: »Sie empfängt Gäste« oder etwas ähnliches. Mit Pawlin ging es uns anders, ich weiß selber nicht mehr recht, wie das kam, aber plötzlich wurde sein Name, der anfangs nie ausgesprochen werden durfte, nicht nur ohne Erbitterung oder Zorn genannt, sondern sogar mit einem Gefühl, das dem Respekt nicht unähnlich sah.


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