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Sechstes Kapitel

Wie die meisten empfindsamen Frauen, vermied auch Mama jene Auftritte am peinlichsten, die ihr Mitgefühl erregten und gab sich immer die allergrößte Mühe, so etwas nicht zu sehen; Tante Olgas Nerven waren kräftiger, sie hatte keine Angst davor, dem Kummer ins Angesicht zu schauen, und darum verließ sie auch jetzt unsere Nachbarinnen nicht und besuchte sie noch, als wir schon in unserer neuen Wohnung waren. Das feine Taktgefühl verhinderte vermutlich die Tante daran, jene direkt danach zu fragen, ob sie wohl Geld genug hätten, den Zins für den folgenden, den anbrechenden Monat zu entrichten, aber sie gab auf das Sorgfältigste acht, wie der Tag, an dem der festgesetzte Termin für die Zahlung war, verlaufen würde. Ich kann mich noch gut daran erinnern, mit welcher Unruhe und wieviel herzlicher Aufregung sie diesen Tag in ihrem Gedächtnis bewahrte und immer nur vor dem einen Angst hatte, ihn irgendwie zu übersehen, – und wie sie, als er herankam, schon am frühen Morgen zu jenem Hause lief, in dem unsere armen Nachbarinnen noch immer unter der Fuchtel Pawlins hausten. Ihr erster Blick galt, als sie den Hof betrat, den Fenstern … allein die Fensterrahmen waren auf ihrem Platz … Die Tante beruhigte sich. Es verging ein weiterer Monat – und wieder gab Tante Olga auf den Termintag acht und wieder lief sie mit dem Gelde in der Tasche zu den früheren Nachbarn, und wieder traf sie alles in solcher Ordnung und Ruhe an, als es jenen in ihrer bedrängten Lage überhaupt nur möglich war. Die Wohnung war warm, wenn sie auch freilich mit der Zeit immer leerer aussah. Doch als schließlich der dritte Monat angebrochen war, starb den armen Leuten die alte Großmutter … Sonderbare Gerüchte gingen um: man sprach davon, sie hätte sich mit dem Phosphor von Streichhölzern vergiftet und zwar hätte sie das bei voller Klarheit und mit erstaunlicher Sachkenntnis getan. Sie hatte den Phosphor nicht in Wasser aufgelöst oder in Spiritus, wie es die meisten tun, die sich auf diese Weise vergiften wollen, sondern in Öl, in dem der Phosphor sich restlos auflösen läßt. Man sagte ferner, daß sie sich einzig aus dem Grund vergiftet habe, um nicht ihrer armen Tochter, die sie nicht im Stich lassen wollte, zur Last zu fallen, denn deren Leben war durch die schlechtbezahlten Stunden, die sie gab, sehr kümmerlich geworden, wogegen es, wenn sie nur das Töchterchen gehabt hätte, ihr möglich gewesen wäre, einen Posten als Klassendame oder als Erzieherin zu finden. Die Großmutter wollte ihrer Tochter die Hände frei machen und führte ihre Absicht mit erstaunlicher Ruhe aus. Ich kann natürlich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob und wieweit alle diese Gerüchte über Vergiftung auf Wahrheit beruhten; ich weiß nur, daß die Alte beerdigt wurde und daß es keine Polizeigeschichten gab, und daß dennoch die Rechnung der alten Dame nicht aufging: wenn sie auch durch ihren Tod der Tochter die Hände frei gemacht hatte, erhielt diese trotzdem die gewünschte Stellung nicht, sondern mußte im Gegenteil nach wie vor schlechtbezahlte Stunden geben, und verdarb mit dem ewigen Hin- und Herlaufen ihre Gesundheit so völlig, daß die kleinste Erkältung genügte, ihr eine ernsthafte Krankheit zuzuziehen, der die ärmste Frau in weniger als einem Monat zum Schluß erlag.

Sie starb, ohne ihrer Tochter das geringste hinterlassen zu können: kein Hab und Gut und nicht einmal Menschen, die für sie hätten sorgen können, sogar meine gute Tante Olga weilte um die Zeit nicht in der Stadt, sie war damals gerade zu Verwandten gereist und kehrte erst an dem widerwärtigen Lage zurück, als der schäbige Leichenwagen mit dem Sarge sich in der Frühe des Februarmorgens über den schmutzigen Schnee zum Wolkower Friedhof bewegte, auf dem Wagen saß die verweinte Ljuba, am Kopfende des Sarges, hinter dem Wagen aber ging Pawlin … Mit einem Worte, es war alles genau so, wie Tante Olga es in ihrem Traum gesehen. Pawlin trug einen dunkelgrauen Mantel, mit Wolfspelz gefüttert, und ging barhäuptig. Tante Olga nahm sich den Vorfall sehr zu Herzen und entschloß sich, nachdem sie zuvor mit Mama gesprochen, die verwaiste Ljuba zu uns zu nehmen, wenigstens solange, bis es gelungen wäre, sie irgendwo allein ihr Plan erwies sich als überflüssig, denn Ljuba war bereits untergebracht und zwar offenbar nicht schlechter, als sie es bei uns mit unseren sehr beschränkten Mitteln gehabt hätte, zudem verfügten wir über keinerlei nennenswerte gewichtige oder bedeutende Beziehungen. Der gleiche Pawlin, der noch vor wenigen Monaten sie, ihre Mutter und ihre Großmutter ans ihrer Wohnung hinausgefroren hatte, wurde jetzt zum Urheber all der Fürsorge, die dem verwaisten Mädelchen zufiel.

Nachdem Tante Olga mit Mama gesprochen, ging sie zu Pawlin, um von ihm zu erfahren, wo Ljuba zu finden sei, – aber als sie das Haus betrat, sah sie ihn nicht in seinem Sessel sitzen. Seit der Zeit, daß Pawlin in diesem Hause die bunte Livree angezogen und den Stab mit dem Goldknauf in die Hand genommen, war dies wohl das erste Mal, daß er seine Pflichten vernachlässigte.

Tante erkundigte sich nach dem Verbleib des Portiers und erfuhr, daß er vom Friedhof bereits zurückgekehrt sei, das Kind aber hätte er von dort nach Hause getragen und sei jetzt in seinem Zimmer.

Ohne erst lange zu überlegen, begab sich Tante zu Pawlins unantastbarem Gemach und öffnete die Türe. Es war ein sehr kleines Zimmerchen, in dem ein Diwan stand, auf dem jetzt die weinende Ljuba lag, vor ihr kniete Pawlin und zog dem Kinde statt der naßgewordenen Stiefel anderes Schuhwerk an.

Als Tante eintrat, stand er auf und sagte, indem er sich höflich verbeugte:

»Die Gnädigste kommt bestimmt wegen des Fräuleins?«

»Ja,« entgegnete die Tante.

»Und wünschen Sie, sie jetzt mitzunehmen?«

»Ja.«

»Wie es Ihnen beliebt.«

Das Mädelchen streckte die Arme nach der Tante aus und wurde von ihr in unser Haus gebracht, allein noch am gleichen Abend erschien Pawlin bei uns und bat, man möge der Tante melden, er sei gekommen, um mit ihr über die Waise zu sprechen.

Pawlin wurde in den Salon gebeten und dort sprach die Tante mit ihm. Sie sprachen länger als eine halbe Stunde, worauf Pawlin fortging, die Tante aber war, als sie zu Mama zurückkehrte, voller Bewunderung über Pawlins Verstand und die Festigkeit seines Charakters.

Pawlin begann damit, daß er der Tante mitteilte, es sei sein Wunsch, Ljuba zu sich zu nehmen, jedoch bestehe er nicht darauf, wenn das Mädelchen besser untergebracht werden könnte. Um der Tante die Möglichkeit zu geben, seine Mittel und seine Zuverlässigkeit beurteilen zu können, hielt er es für notwendig, ihr seine Vergangenheit zu erzählen und seine jetzige Lage zu entwickeln, um ihr darauf mitzuteilen, was er für Absichten mit Ljuba habe. Er erzählte, daß er als Leibeigener geboren wurde und anfangs Musik erlernen mußte, die ihm jedoch nicht zusagte, und daß er dann später aus dem Musikanten ein Kammerdiener geworden sei, und sich schließlich gegen eine hohe Summe freigekauft habe; und wie er dann im Laufe der Zeit, nachdem es ihm gelungen, durch Fleiß und Sparsamkeit eine ziemlich große Summe zusammenzubringen, auch noch seine alte Mutter freigekauft habe und seine Schwester und deren Mann, seinen Schwager, und für diese auf der großen Landstraße nach Tula ein großes Wirtshaus gepachtet habe. Und da er sich für verpflichtet gehalten, die Wirtschaft seiner Verwandten fernerhin zu unterstützen, hätte er selber nicht geheiratet, sondern eben nur für seine Verwandten gelebt: vor einem Monat aber sei ihm die Nachricht geworden, daß die Cholera alle seine Verwandten hingerafft hätte. Und da er völlig einsam und zudem der Ansicht sei, daß für ihn die Zeit, zu heiraten, vorüber wäre, äußerte Pawlin den Wunsch, den Rest seiner Tage der Waise Ljuba zu widmen, deren verlassene Lage sein Mitgefühl für das Kind aufs höchste gesteigert hätte.

Diese gute Regung rührte meine Tante so sehr, daß sie Pawlin die Hand gab und ihn bat, Platz zu nehmen, damit er ihr den Plan, den er sich hinsichtlich Ljuba zurechtgelegt hätte, umständlicher entwickeln könnte. Die Tante war nämlich davon überzeugt, daß der würdevolle Pawlin, wenn er sich schon dazu entschlossen, das Kind aufzunehmen, bestimmt einen festen Plan für die Zukunft gefaßt hätte, den er sicherlich auch ausführen wollte, – und sie täuschte sich nicht. In der Tat hatte Pawlin schon, seinen Plan und zwar einen sehr gründlichen und durchaus ausführbaren, der voll und ganz seinem soliden und gefestigten Charakter entsprach. Er hatte nicht nur die Anstalten getroffen, das Mädchen aufzunehmen und aufzuziehen, sondern hatte auch bereits den ganzen Weg überlegt, auf dem sie ins Leben treten könnte, um darin fest Fuß zu fassen. Und hierbei wurden einige Züge seines Charakters offenbar, die bislang nicht zutage getreten waren, und zwar: Gradheit, Bescheidenheit und Verachtung aller eitlen Bestrebungen von Menschen, die höher hinauf wollen, als ihnen zukam. Vielleicht war es ein zu bescheidenes Los, das Pawlin der Waise zugedacht hatte: er sagte zur Tante, er beabsichtige, Ljuba zu einer ihm bekannten und ausgezeichneten Dame in die Schule zu geben, dort sollte das Mädchen in vier Jahren das nach seiner Ansicht Allernotwendigste lernen, nämlich Lesen und Schreiben, Religion und Arithmetik, aber auch »geschichtliche Kenntnisse« und von dort wolle er sie darauf in eine Schule für Handarbeiten geben und wenn sie dann mit dieser letzteren Wissenschaft fertig geworden, würde er genügend Geld beisammen haben, um ihr einen Laden zu kaufen und sie mit der Zeit an einen ehrbaren Mann verheiraten, der ihrer wert wäre. »Und auf solche Weise«, fügte er hinzu: »meine ich, kommen wir besser zum Ziele; an die Wohlgeborenheit kann man sich, wenn das Schicksal sie einem gibt, freilich sehr leicht gewöhnen, das wichtigste aber ist, daß der Mensch jene Mittel in die Hand bekommt, die ihm erlauben, später auf sich selber zu bauen.

Dieser einfache und bequeme Erziehungsplan gefiel der Tante, die ja selber vernünftig und schlicht war, ganz außergewöhnlich, Mama jedoch war Pawlins Plan nicht ganz nach Sinn: sie fand, daß niemand das Recht habe, auf diese Weise »die Zukunft der armen Waise gegen alles, worauf sie ihrer Herkunft nach ein Recht habe, zu verbauen.« Hierüber konnten sich Mama und Tante auf keinerlei Weise einigen und würden vermutlich noch lange darüber gestritten haben, wenn nicht der Zufall dazwischen gekommen wäre und das Ganze auf seine Weise entschieden hätte; Mamas Gesundheit erforderte gebieterisch einen Klimawechsel, sie mußte Petersburg auf ein Jahr verlassen und zu ihrem Bruder reisen, ich wurde derweilen in Petersburg in ein Pensionat gesteckt, meine gute Tante dagegen ging ihrer Wege und traf für ihr ferneres Leben eine ganz besondere Entscheidung: sie trat nämlich in ein ziemlich einsames Frauenkloster, das hinter Kiew am Ufer des Dnjepr lag, ein. Auf diese Weise blieb uns denn nichts anderes übrig, als, ob wir es nun wollten oder nicht, die Fürsorge für die verwaiste Ljuba der alleinigen Obhut Pawlins zu übergeben, dessen Eifer für das Kind und dessen Mittel, ihm das Leben zu gestalten, sicherlich bei weitem die unseren übertrafen. Zudem waren auch die moralischen Bürgschaften, die Pawlin der Tante gab, als er von ihr Abschied nahm, durchaus geeignet, uns über Ljubas ferneres Schicksal zu beruhigen. Pawlin äußerte sich der Tante gegenüber etwa folgendermaßen:

»Gnädigste,« sagte er, »es ist mir bekannt, daß man mich für einen bösen Menschen hält, das rührt aber hauptsächlich daher, daß ich der Ansicht bin, ein jeder Mensch müßte vor allem seine Pflicht erfüllen. Ich habe kein grausames Herz, aber die Praxis hat mich gelehrt, daß jeder an seiner eigenen Not selber viel Schuld trägt: wenn man zuviel Nachsicht mit einem Menschen hat, bestärkt man ihn dadurch nur in seinen Fehlern. Man soll freilich jedem Menschen helfen, aber nicht, indem man ihm noch mehr nachsieht, denn dadurch wird der Mensch nur noch schwächer, man muß ihm helfen, sich auf die Beine zu stellen und fernerhin sein Leben vernünftiger zu leben, damit er sich hinfort selber vor unfreundlich gesinnten Menschen schützen könnte.«

Da ließen denn Mama und Tante die kleine Ljuba, der sie aufrichtig nachtrauerten, bei Pawlin, und überließen es ihm, nach seinem Belieben eine Frau ohne Schwächen aus ihr zu bilden, die sich selber zu schützen fähig wäre; allein es kam ganz was anderes dabei heraus, nämlich, daß sie, dieses kleine Mädchen, etwas aus Pawlin machte, was er, dieser starke Mensch, schwerlich jemals zu werden vermutet hätte.


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