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55. Kapitel

Eines Abends – Jochen Braun stand noch bei dem Schützenfisch und beobachtete dessen originelle Art, Fliegen, die über dem Wasserspiegel am Rohrhalm saßen, herunterzuspritzen – kam der dicke Hartwig an ihn heran und forderte den Maler auf, nach sieben Uhr, wenn das Haus geschlossen würde, noch zu bleiben, denn die Riesenschlangen würden gefüttert. Braun sagte natürlich zu. Die Fütterung der Riesenschlangen ging nur noch vor geladenem Publikum vonstatten.

Hinter den fünf Zentimeter dicken Scheiben lagen die beiden Schlangen, die fressen sollten. Sie waren um die Mitte des Leibes so dick, wie ein Männerkopf stark ist, und etwa sechs bis sieben Meter lang. Die eine lag zusammengerollt im Wasserbecken, während die andere, halb aufgerollt, frei auf dem Boden ihrer gemeinschaftlichen Behausung lag.

Als ungefähr zwanzig bis dreißig Gäste zugegen waren, kam der Direktor. Er war ein mittelgroßer Mann, der weder stämmig noch schmächtig war. Scharfe Gläser vor den Augen, wenig Haar auf dem Kopf, ziemlich große Nase und gestutzter grauer Schnurrbart waren typisch für sein Aussehen. Sein Jackett trug er, wie immer, offen.

Er unterhielt sich leise mit einigen der Herren, die ihm bekannt waren. Es schienen ebenso wie er selbst Wissenschaftler zu sein. Inzwischen war noch eine Reihe von Besuchern gekommen, und der Direktor begann den Vortrag, der der Fütterung voranzugehen pflegte.

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Der Schützenfisch spritzt eine Fliege vom Halm

Mit seiner ruhigen Stimme begrüßte er die Anwesenden und begann. Nach seiner Meinung ist die Schlange, besonders die Riesenschlange, in hohem Maße dumm. Ihr Benehmen zeugt dafür, daß ihr jede Kombinationsgabe fehlt. Ihre Sinne, Geruchssinn, Gehör und Auge, sind mangelhaft. Das Gehör scheint ihr so gut wie ganz zu fehlen, ebenso der Geruchssinn. Das Auge nimmt nur auf kurze Entfernungen Bewegungen wahr.

Vielen der Zuhörer war es überraschend zu hören, daß die »kluge« Schlange so mangelhaft ausgerüstet sein sollte.

Dann begann die Fütterung. Zuerst schluckte der Riesenwaran, der mit seiner spielenden langen, gespaltenen Zunge und dem intensiven Blick an den Drachen der Sage erinnert, ein ausgewachsenes Kaninchen mit zwei energischen Bewegungen seines Schlundes. Das dauerte alles in allem drei Sekunden. Dann wurden zwei große Ferkel von 35 bis 40 Pfund Gewicht zu den beiden Riesenschlangen gelassen. Die Menschen, die gekommen waren, das Ende der beiden rosigen, sanguinischen Tiere mit anzusehen, hielten den Atem an.

Braun hielt Block und Stift parat, und seine Augen waren unverwandt auf die im Vordergrund liegende Schlange gerichtet. Doch die beiden riesigen Kaltblüter rührten sich nicht. Die Schweine gingen in dem weitläufigen Terrarium umher, stiegen über die auf dem Trockenen liegende Schlange hinweg, ohne die schauerliche Gefahr zu ahnen, in der sie schwebten.

Jetzt glitt die Schlange im Hintergrund aus dem Wasser. Langsam floß sie über einen Ast und Steine. Ihre Bewegungen waren gleichmäßig, ruhig und sehr langsam. Es war für die Zuschauer eine Minute fast unerträglicher Spannung. Doch dann blieb auch diese Schlange in völliger Bewegungslosigkeit liegen.

Der Direktor machte nun darauf aufmerksam, daß man mit der Möglichkeit rechnen könne, die Schlangen nicht in Aktion treten zu sehen.

Er berichtete von einem Fall, der sich vor Jahren ereignet hatte. Damals hatte man das Schwein über Nacht bei der Riesenschlange gelassen. Am Morgen fand man zwar das Schwein unversehrt, wohl aber die Schlange verletzt. Das Schwein hatte sie nämlich am Schwanzende angeknabbert!

Der Sprecher wies auf die Unfähigkeit der Schlange hin, sich gegen diesen schmerzhaften Angriff zu wehren. Denn das setze eine geistige Funktion voraus, meinte er, über die die Riesenschlange nicht verfüge. Alles was den durch Hunger hervorgerufenen Instinkt des Fanges überschreitet, leistet die Riesenschlange nicht, es seien denn die Handlungen, die dem Paarungstrieb dienen.

Er wurde von einem vieltönigen Ausruf unterbrochen. Dort hinter der Scheibe war eine Bewegung entstanden. Eine Bewegung, schneller als ein Gedanke. Braun hatte wie ein Habicht aufgepaßt, und doch hatte er nichts wahrnehmen können als eine ungeheuer schnelle Wendung, ohne daß sein Auge eine Phase beobachtet oder gar sein Stift eine Linie zu Papier gebracht hätte.

Die Schlange im Hintergrund hatte das eine Schwein an der Keule gepackt und es von unten herauf bis zur Mitte des Leibes in seine Umschlingung gepreßt. Kopf, Herz und Lungen blieben frei, und so litt das gräßlich schreiende Schwein namenlos. Alle Knochen und Muskeln, die innerhalb der Umschlingung waren, wurden zermalmt. Das Blut wurde in den Vorderkörper und den Kopf gepreßt, so daß sich das Tier blaurot färbte.

Die Schreie der gefolterten Kreatur gellten minutenlang durch das Haus.

Dann endlich wurde es still. Das Schwein war erlöst, es war verendet. Auch die Menschen atmeten erleichtert auf – erschauernd alle vor der elementaren Gewalt der Natur. Kein Raubtier tötet so grausam wie die Schlange, besonders wenn sie, wie in diesem Falle, hinten packt, anstatt, wie in den meisten Fällen, am Kopf.

Nachdem das Reptil eine Weile mit dem toten Schwein in seinen Ringen stillgelegen hatte, löste es die Umschlingung, denn eine Schlange kann ja im zusammengerollten Zustand nicht schlucken. Nachdem sie aufgerollt war, fing sie an, den Kopf des Opfers zu suchen. Wie gering die Vernunft der Riesenschlange ist, wurde nun deutlich. Die Schlange, die doch in engster Berührung mit dem Ferkel gewesen war, glitt auf der Suche nach dem Kopf durch den ganzen Raum. Es dauerte über eine Viertelstunde, bis sie ihn endlich hatte. Da jede Schlange ihr Opfer im Ganzen verschlingt, muß sie beim Kopf anfangen, weil sich nur so die Beine nach hinten anlegen, die Stellung, in der der Körper verschluckt werden kann.

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Die Riesenschlange erdrosselt das Schwein

Nun darf man nicht sagen, die Schlange fraß das Ferkel, sie verschlang oder verschluckte es auch nicht. Am besten wird der Vorgang dadurch bezeichnet, daß sie sich mühevoll über das Schwein stülpte. Es war, als wenn eine Hülle Zentimeter um Zentimeter über das getötete Tier gezogen würde.

Endlich war das Ferkel verschwunden, und man sah den dicken Ballen langsam zur Mitte des Schlangenleibes rutschen, wo er als unförmige Ausbuchtung liegenblieb.

Da die andere Schlange keinerlei Anstalten machte, das zweite Schweinchen zu fassen, verabschiedete sich der Direktor. Auch die Besucher gingen. Sie waren schon an der Treppe, als das gellende Schreien des Schweines sie eiligst kehrtmachen ließ. Im Sturmschritt lief die kleine Schar von Menschen zum Riesenschlangenkäfig zurück, um wenigstens noch einen Teil des zweiten Dramas zu sehen.

Doch dort stand das Schweinchen gesund und drall und schubberte sein Hinterteil in der ulkigen Weise, wie es Schweine tun, am dicken Leib der bewegungslos daliegenden Schlange. Hartwig, der Wärter, hatte sich einen kleinen Scherz mit den Herrschaften erlaubt, er war es, der das Schweinequieken so echt hatte erschallen lassen.

Als die Besucher endgültig gegangen waren, holte der Wärter das Ferkel aus dem Schlangenterrarium. Es war für die nächste Zeit, möglicherweise für immer, vor dem Tod durch die Riesenschlange gerettet.


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