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1. Kapitel

Aus dem Büro eines Zoo trat ein Junge von etwa zwölf Jahren. Er hatte einen Schilfleinenanzug mit kurzen Hosen, die die Knie frei ließen, und einen sogenannten Russenkittel an. Er nahm mehrere Stufen auf einmal, als er die Treppe heruntersprang. Einen zusammenlegbaren, dreibeinigen Stuhl trug er, und unter dem Arm einen Zeichenblock. Es war ein großer Augenblick in seinem Leben, denn er hatte soeben eine Studienkarte bekommen, die es ihm ermöglichte, ohne Eintritt zu bezahlen, jederzeit in den Zoo gehen und dort zeichnen zu können. Voll Stolz zeigte er die Karte an der Sperre. Der Kontrolleur lächelte, als der Bengel, kaum daß er im Zoo war, drauflosrannte, als wäre keine Sekunde zu verlieren. Jochen Braun war ja nicht zum erstenmal im Zoo, aber die neue Studienkarte gab ihm doch ein Gefühl, als wäre ihm der ganze Zoologische Garten geschenkt worden.

Er ging ins Papageienhaus. Da war ein toller Lärm. Die Vögel erwarteten wohl eine Mahlzeit und waren daher in begreiflicher Aufregung. So brausend und vielfältig das Gekreisch, so reich und flammend schienen dem Jungen Formen und Farben der Sittiche, Amazonen, Graupapageien und Araras, der Edelpapageien und all der Unterarten, an denen das Papageiengeschlecht so reich ist.

Jochen hatte es einer der Molukkenkakadus angetan. Er ließ sich nieder und fing an zu zeichnen.

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Jochen ließ sich nieder und fing an zu zeichnen...

Schwer und ungelenk war die Hand, und oft änderte der Vogel seine Stellung. Aber das Auge dieses Jungen sah das Wesentliche des Tieres so intensiv, er war so ganz auf diesen Kakadu eingestellt, daß die Zeichnung, trotz aller kindlichen Mängel, die ihr anhafteten, typisch und lebendig im Ausdruck wurde. Leute blieben stehen und machten Bemerkungen, fragten wohl auch dies oder jenes. Manche gaben auch Ratschläge, und das waren die lästigsten. Doch der Junge antwortete nicht. Und die Aufdringlichen, die meinten, es wäre ja nur ein Kind, dessen Zeitvertreib man nicht so ernst zu nehmen brauchte, begriffen, daß sie störten, und gingen, je nach Veranlagung, mit oder ohne Kommentar weiter. Schließlich ging auch Jochen nach Hause. Er hatte das Gefühl, seine Arbeit wäre gelungen, und auf dem Heimweg mußte er viele Male den Block aufklappen und seinen Kakadu ansehen.

Die Wahrheit zu sagen, er gefiel ihm immer besser, und als er dann in der Wohnung bei den Eltern war, zeigte er dem Papa voll Erwartung die Arbeit. Der freute sich, denn er hatte, ohne Maler zu sein, den sicheren Blick für das Echte und sah unter dem Mangel an Technik und der ungelenken Hand des Anfängers das Talent.


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