Hans Hopfen
Die Heirath des Herrn von Waldenberg
Hans Hopfen

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IV.

Im tiefen Dunkel lag das Haus der Waldenberger.

Auf den blendenden, goldigen Tag war eine finstere Nacht gekommen. Man sah keine Sterne. Schatten schienen sich mit Schatten zu balgen. Es war schwül wie in einer Augustnacht, und fern hinter dem Walde zuckte zuweilen ein Schimmer auf, rothglühend und hastig verschwindend, wie wenn man wirklich mitten im Sommer wäre.

Man wußte selbst nicht warum, man mochte nicht vor die Thüre und wer doch herauskam, meinte, jeden Augenblick müßte was Verdrießliches losgehen. Ein Wolkenbruch, ein Ziegel vom Dach, ein Hund hinter der Ecke, ein Strolch hinterm Zaun.

Wer sich im Wandern verspätet und noch unterwegs war, der stieß an Stock und Stein, nahm die Bäume für Menschen und kletterte auf jeden Holzstoß, um nach rechts und links zu sehen, wo etwa ein Licht blinken möchte in der Rabenschwärze, 116 wo etwa eine Menschenwohnung wäre in dieser unheimlichen Natur, die sich anließ, als wenn ein boshafter Dämon sie in einen Sack gesteckt hätte.

Auch Haus Waldenberg lag still und finster.

Nur im Halbgeschoß war Lichtschimmer hinter einem Fenster. Aber dieß Fenster lag der Straße abgekehrt gegen die Wiese und den Fluß. Es gehörte dem Zimmer, da der Herr einsam zu zechen liebte oder mit Bettinen plauderte, wenn es diese vergönnte.

Orlando's Tochter kam nicht immer wie gerufen. Sie zögerte oft mit Willen und freute sich, unter der Thüre lauernd, wenn sie ihn öfters nach ihr rufen und dann ungeduldig in der Stube hin und wider gehen hörte.

Waldemar hatte heute auf den Aeckern, auf dem Markt allerhand Aerger mit nach Hause gebracht. Er war überhaupt barsch gelaunt in diesen Frühlingstagen, die alle Welt lachen machten. Vielleicht war auch ihm weicher um's Herz als sonst, und gerade das wollt' er nicht zeigen.

Mit dem Aerger hatte es indessen seine Richtigkeit.

So sehr, daß ihm selbst die Lust zum Trinken vergangen war. Er stieg verdrießlich in der Stube herum, rückte den Tisch beiseite, gab dem ersten besten Stuhl einen Tritt und dachte darüber nach, warum es Leute geben müsse, denen Alles, woran sie rühren, mißräth. In dieser Stimmung war er 117 überzeugt, zweifelsohne selbst zu dieser Gattung von Schlemihlen zu gehören. Sein Schicksal wie sein Haus, die Gegend wie die Verhältnisse, in denen er leben mußte, schienen ihm gleicherweise mißrathen und verpfuscht. Er sah keine Hoffnung und keine Freude mehr in der Welt. Einfältiges Dasein!

Waldemar befand sich, wie schon gesagt, keineswegs oft in solcher Stimmung. Aber es paßte ihm vielleicht gerade heute, solchem Gedankengang sich zu überlassen. Und überdieß hatten es der Mai und die Sommernachtschwüle auch ihm angethan.

Nach geraumer Weile konnt' er sich der Wahrnehmung nicht entschlagen, daß, was ihn eben am meisten verdröße, keineswegs das mißlungene Geschäft, sondern genau betrachtet kein anderes Uebel wäre, als daß Bettina, die gestern zutraulicher und aufrichtiger gewesen war als je vordem, heut über Gebühr und Verhoffen auf sich warten ließ.

Endlich kam sie doch. Und wie er das schöne Mädchen vor sich sah, waren auch die Falten auf seiner Stirne schon geglättet.

Sein Herz ward freilich nur unruhiger als vorher. Er wollte von keinem Labetrunk hören. Er wollte sich nicht einmal behaglich an den Tisch setzen. Er ging nach wie vor in der Stube hin und wider und zwang auch Bettinen, neben ihm auf und nieder zu wandeln. 118

Es war ihm Bedürfniß, den ganzen Aerger, den er am Tage mit in den Kauf bekommen, vor dem klugen Wesen, das Leid und Freude mit ihm theilte, auszuschütten. Auch mit der traurigen Lebensanschauung, auch mit der verdrießlichen Stimmung, die ihm von alledem zurückgeblieben, hielt er nicht zurück. Und als sie ihm den Kleinmuth, die Schwarzseherei verwies, die ganz und gar nicht zu seinem sonst so tapferen, unverfrorenen Wesen paßten, ward er nur heftiger im Behaupten. Bettina konnte sich gar nicht erinnern, ihn je so wild, kaum, ihn je so laut reden gehört zu haben.

Und seine Leidenschaftlichkeit, sein Zorn gegen das Geschick steigerten sich mit jeder Minute.

Es kam etwas wie Furcht über sie. Aber eine Furcht, die sie nur fester an seine Seite bannte. Eine Furcht, deren Schauder sie wonnig überrieselten. Sie sagte sich, daß es jetzt das Beste wäre, weit weg zu laufen. Und antwortete sich selbst darauf, daß sie dazu nicht mehr die Kraft besäße.

Sie hatte in diesen letzten Wochen muthwillig und bewußt mit dem Herzen dieses Mannes und mit der Ruhe dieses Herzens gespielt. Sie hatte sich der Macht über diese männliche Seele gefreut und sich gefreut, diese Macht erst ein bischen und dann immer mehr zu mißbrauchen. Und nun sie glaubte, ihn zu Allem bringen zu können, was sie 119 gut dünkte, mitten im Gefühl der Sicherheit, erklärte sich ihr eigenes Wesen machtlos in seinem Bann und unterthan ganz und gar.

Worte schienen Beiden nur mehr eine nichtige Zuflucht. Dennoch haschten sie emsig nach Worten.

Und ob auch kein Wort noch ihre nächste Zukunft besprach, dennoch sahen sie ihr gemeinsames Schicksal nah und klar vor ihnen liegen, wie ein im nächsten Augenblick erreichbares Ziel. Gerade weil dieß Ziel so nahe lag, waren sie ohne Hast und genoßen Hoffnung und Erwartung verweilend aus, wie ein ruheloser Wanderer kurz vor dem ersehnten Ende seiner hastigen Fahrt innehält und sich das Ziel noch einmal von Außen betrachtet, eh' er eintritt.

»Ich kann und mag Sie so nicht reden hören,« sprach Bettina. »Ich bin gewohnt, zu Ihnen emporzusehen wie zu einem Muster, wie zu einem unerschütterlichen Hort im Unglück. Rauben Sie mir diese Zuversicht um Gottes willen nicht!«

»Ich bin nur ein Mensch,« erwiederte Waldemar, »nicht besser, nicht fühlloser, nicht unerschütterlicher als andere Menschenkinder. Etwas trägen Gefühls von Natur, braucht es länger, bis Leid und Freude mich aufbringen, aber endlich empfind' ich es vielleicht unerträglicher als ein Anderer, zu dulden und zu darben. Ich habe keinen Himmel zu stürmen mich unterfangen, meine Wünsche gingen nach hausbackenem 120 Glück und pflichtschuldigem Dasein. Ich versage mich keiner Mühe, ich übe Geduld, Sie hören mich zum ersten Male murren . . .

»Aber wenn's immer nur versagend zurückantwortet, wenn es aller Enden nur Steine statt Brod gibt, wenn jedes Glück, wie es Einen von ferne sieht, den Rücken wendet – was Wunder, wenn man sich endlich im Unmuth bückt, um einen Stein nach dem fliehenden Glück zu werfen! Ich weiß, auch der Zorn dieser Stunde wird vorübergehen, ja doch! Aber in dieser Stunde – glauben Sie mir – weiß ich nicht, wie es weitergehen soll, wenn nicht endlich einmal wieder ein bischen Freude in dieß stockdunkle, schwüle Dasein fällt. Nein, wahrlich, ich weiß es nicht.«

»Herr von Waldenberg,« versetzte Bettina und sie wußte es vielleicht selbst nicht, daß sie in der Erregung die Fingerspitzen auf des Mannes geballte Faust legte, als sollte ihn nicht nur ihr Wort besänftigen. »Es gab einen Tag, da auch mir das Leben unerträglich geworden schien. Ich hatte die Thüre schon aufgestoßen und den Fuß auf die Schwelle gesetzt, um dieß alte Erdenhaus unwillig zu verlassen. Der Ton eines Leierkastens, nicht viel mehr als das Knarren der Thürangel, machte mich auf der Schwelle noch zaudern. Und da ich zauderte, mußt' ich auch verweilen. Und –« 121

Sie sprach nicht weiter.

Waldemar sah der Stockenden mit großen Augen in's Gesicht, und weil sie seinen Blick aushielt und erwiederte, sagten ihre Augen Vieles, was ihr Mund verschwieg. Er aber wollte es auch mit Worten hören.

»Und?« sprach er fragend, »warum vollenden Sie Ihre Rede nicht? Sie haben so schön begonnen, aber Ihr Muth versagt, den Schluß Ihrer Betheuerung zu ziehen. Oder haben Sie den Muth, zu sagen, daß es der Mühe werth war, auf der Schwelle des alten Erdenhauses umzukehren? Wären Sie um ein Glück ärmer von hinnen gegangen damals, als Sie sich heute fühlen? Hat Ihr Leben werthvolleren, hat es beseligenderen Inhalt gewonnen seitdem, als da Sie es satt hatten?«

Ein sieghaftes Lächeln huschte über Bettinens rothe Lippen. Noch einmal fühlte sie sich dem mächtigeren Mann überlegen. Ueberlegen durch die Klarheit ihres Gefühls und durch dessen Sicherheit.

»Ja!« sagte sie. »Ja, Herr von Waldenberg, es war des Bleibens werth. Ich fühle mich bereichert und beseligt und würde mich tief beklagen, wenn Ungeduld und Kleinmuth mich um das gebracht hätten, was mir noch vorbehalten war.«

Sie hatte längst die Finger zurückgezogen. Waldemar aber faßte das Mädchen nun bei beiden Händen. 122 Dabei schüttelte er heftig das Haupt und sprach, das Angesicht dicht vor ihrem Angesicht: »Armes Kind, es mag ein Vorrecht der Weiber sein, sich mit dem Schatten der Dinge zu begnügen, statt mit deren Besitz, aber mich dünkt, ein Schattenspiel an der Wand macht das alte Haus nicht wohnlicher, nicht verweilenswerther. Mich dünkt, uns Beiden sei das gleiche Glück versagt, uns Beiden könne nicht geholfen werden –«

»O weh!« rief auf einmal Orlando's Tochter kläglich aus, obschon sie sich dabei zu lächeln zwang. »Wenn das ein Schattenspiel sein soll, so mache ich die Erfahrung vom Gegentheil. Lassen Sie mich los! Sie brechen mir im Eifer der Rede die Handgelenke! . . . Au, au! Ich bin wie nie überzeugt, kein Schatten zu sein. Und Sie sind auch keiner!«

Sie führte die gerötheten Handknöchel einen nach dem andern an den Mund, hauchte darauf und küßte sie, nochmals ihr klägliches »Au, au!« wiederholend.

»Verzeihen Sie mir!« sprach Waldemar, »ich weiß heute nicht, was ich thue, nicht, was ich rede. Sie aber, Bettina, sollten auch nicht also reden, wie sie soeben gethan. So nicht, in diesem Augenblick nicht!«

Das Mädchen rieb sich noch immer die Handgelenke, machte ein schmollendes Mäulchen und sagte: 123

»Nun denn, so schweigen wir lieber! Schweigen Sie sich aus, Schatten eines Mannes, der Sie sind!«

Des Mädchens Uebermuth schien Waldemar auf einmal anzustecken, ihr Vorwurf ihn aufzustacheln. Er lachte. »Ich bin kein Schatten, liebe Kleine, und habe mich nie für einen gehalten. Beweis davon!«

Er ergriff sie, aber nicht bei den Händen, sondern um den Leib und wollte sie küssen. Sie sehnte sich nach seinem Kuß. Aber sie wollte sich nicht leichten Kaufes geben und wehrte sich aus Leibeskräften, ihm immer wieder an seiner eigenen Brust, in seinen ungestümen Armen entweichend, die ihr doch nicht wieder wehe thun wollten. Die Adern schwollen, ihr Gesicht ward feuerroth, die Haare gingen ihr los. Im lachenden Ringen hörte sie die Uhr auf dem Kamin schlagen, daran sie standen. Die Stunde dünkte sie bedeutsam, dennoch konnte sie in der Hast nicht zählen, wie viel es geschlagen. Sie lachte, kratzte, biß den Stürmischen in die Hand. Und also in verliebtem Handgemenge geschah's, daß Waldemar, ohne solchen Schaden zu wollen, die gute alte Uhr, noch ehe sie ausgeschlagen hatte, mit dem Ellenbogen vom Mantel des Kamins hinabstieß.

Klirrend, krachend, berstend stürzte sie zu den Füßen der beiden Menschen hin. Und die Beiden stutzten und sahen verblüfft zu Boden, wo das aus 124 dem Kasten gefallene Schlagwerk in einem unendlich scheinenden Klingklanggerassel wimmerte, just als verröchelte der verunglückte Zeitmesser also seine Seele.

Bevor die Kette, die den Glockenhammer in Bewegung hielt, abgelaufen, hatte sich Bettina von der Ueberraschung erholt. Ein gewisses Ehrgefühl erwacht bei jedem, auch dem ungleichsten Kampfe. Sie wollte den Zwischenfall zu ihrem Vortheil nützen. Sowie Waldemar vom Boden die Augen aufschlug, noch ehe er die Hand gehoben, sprang sie zur Thüre hinaus und die stockdunkle Treppe hinab und lief kichernd davon, in die Nacht hinaus, in den Garten.

Waldemar eilte der Fliehenden nach. Er wußte wohl, daß er sie haschen müßte. Aus dem Gehöfte würde sie nicht rennen und – wußte sie sich auch zu verstecken, daß er sie nicht gleich fand – über kurz oder lang mußte sie doch zur Thüre wieder herein.

Lächelnd überlegte er, was das Klügere wäre: die Fliehende im Laufe zu überholen oder still an der Thüre sich in den Hinterhalt zu legen, die Uebermüthige durch Geduld besiegend. Doch fürchtete Waldemar schon, da er den ersten Schritt in's Freie that, daß Bettinens Uebermuth größer sein werde, als seine heutige Geduld.

Orlando's Tochter hörte, wie der erhitzte Mann hinter ihr drein kam. Sie schlug mit List den Weg 125 unter den Bäumen ein, wo sie wußte, daß es jetzt am dunkelsten.

Aber bald schien es ihr im Laufen, daß es ringsher nicht heller war. Sie, die jählings aus der lichten Stube kam, sah Alles rundum schwarz in Schwarz. Ihm würd' es wohl auch nicht besser gehen; nur der raschelnde Kies konnte ihm den Weg verrathen, den sie nahm. Diesen zu vermeiden, bog sie über die Wiese beiseite. Nun links herum, am Gemäuer der Rückseite entlang. Wenn Waldemar nicht hinter dem Thore lauernd stand, so kam sie unerhascht in's Haus zurück, in ihr Stübchen und konnte ihn auslachen.

Wünschte sie, daß er klüger wäre als sie? Sie wußte es nicht. Sie lachte nur und lief dahin.

Da, o weh! alle Klugheit zu Schanden! Ehe sie noch an's Gemäuer kam, haschte sie eine starke Hand und zwei Arme schlangen sich um ihren Leib und hielten sie fest, ach, so fest wie mit eisernen Klammern.

»Pfui, Herr von Waldenberg!« sagte leise die kichernde Bettina, während sie sich machtlos des Mannes Armen zu entwinden strebte. »Das ist nicht ehrlich! Lassen Sie mich los!«

Sie ward aber nicht losgelassen. Und was ihr noch häßlicher vorkam in der finsteren Nacht, war, daß der böse Mensch kein Wort reden wollte und sie 126 stumm vor sich hielt, ohne ihr in's Gesicht zu sehen. Nicht einmal einen zweiten Versuch, ihr einen Kuß zu rauben, machte er. Also war's wohl darauf abgesehen, sie zu erschrecken?

Sie stampfte mit dem Fuß in's junge Gras und wiederholte just so leise wie zuvor: »Lassen Sie mich los, Herr Baron! Ich fürchte mich doch nicht. Aber dieß Spiel mißfällt mir!«

»Ich sehe und staune, wie Du alle Furcht verlernt hast. Aber mir gefällt dieß Spiel noch weniger als Dir!« versetzte jetzt gleichfalls gedämpften Tons eine Tenorstimme, die vor verhaltener Wuth etwas heiser schien.

Bettina zuckte zusammen, wie sie diese leise Stimme hörte, und sie sah auf die Hände, die sie hielten, und schauderte. »Jesus, Maria! Sind Sie es, Vater Bolle!« hatte sie gesagt und nun zitterte sie am ganzen Leibe.

»Vater nicht, aber Bolle! . . . Komm'!« antwortete der Mann im Dunkeln und ließ ihren Arm los, sie um so fester bei der andern Hand fassend. Er faßte sie just da, wo sie vorhin Waldenberg so empfindlich gedrückt hatte – nicht eben viel vorsichtiger – doch beklagte sich Bettina jetzt nicht, sondern folgte dem Abgewandten, der sie hinter sich herzog durch's finstere Gras, über die Wiese hinab gegen den Fluß. 127

Nach Gestalt und Haltung, nach dem Ton der Stimme und nicht zum wenigsten nach der richterlich heroischen Art mit ihr zu verfahren, glaubte sie nach wie vor, daß kein Anderer als Vater Bolle sie vom Hause Waldenberg hinwegführte.

Sein seltsames Wort vorhin deutete sie sich so, daß der zornige Eduard ihr zu verstehen gegeben, sie habe durch ihr leichtfertiges Gebahren das Recht verwirkt, ihn Vater zu nennen. Sie hatte ihn schon einmal in solchem Zorne gesehen. Damals hatte der strenge Mann ihr bitteres Unrecht gethan. Aber heute?!

Wenn sie nicht heute schuldig geworden war, nicht elend und verworfen für's ganze Leben, so dankte sie's nur ihm, der, wie ein Engel vom Himmel gefallen, zwischen sie und die Sünde getreten war.

Keinem andern Menschen in der Welt wäre sie so willenlos und zerknirscht gefolgt, wie sie jetzunder that.

Die Dankbarkeit, die Erinnerung an alte Zeiten und ihren todten Vater machten sie zahm und beugten ihr Haupt. Wie ein Lamm ließ sie sich von seinem Arm nachziehen. Und er faßte sie nicht sanft an, sondern mit väterlicher Strenge, und er mäßigte nicht einmal seinen langen, hastigen Schritt. Aber das war Bolle's Art.

Freilich wohl! Aber daß Bolle's Basil eben so 128 gar nicht aus der Art geschlagen war, daran dachte Bettina schon aus dem Einen Grunde nicht, weil sie seit Jahren nicht mehr daran dachte, daß überhaupt ein lebendes Wesen Namens Basilius Bolle auf der Welt sei, und außerdem auch aus dem Grunde, weil sie es für undenkbar hielt, daß irgend ein anderes Wesen außer dem alten Sänger, der mit der Güte und Treue eines Vaters auch das Recht väterlicher Strenge erworben hatte, also kurzen Prozeß mit ihr zu machen wagte.

Es kostete sie schon Ueberwindung zu sagen: »Vater Bolle, Du thust mir weh. Fasse mich nicht so hart an, ich folge ja gutwillig . . . Aber dorthinaus geht kein Weg! Die Wiese ist bis zum Fluß hinab eingeplankt . . . Wir müssen umkehren.«

»Nein!« sagte Basil und blieb stehen. »Du kehrst nicht zum Schlosse zurück! Und wo ich herein gefunden allein, werd' ich mit Dir auch hinaus finden. Aber Du magst Dich meinethalben hier verschnaufen!«

Es war etwas weniger dunkel hier unten am Fluß oder hatten sich Bettinens Augen allmälig an die Dunkelheit gewöhnt. Wie sie jetzund Beide neben einander stehen blieben zu eines Augenblickes Rast und das zerknirschte Mädchen zum ersten Mal die Wimpern emporhob, um dem Alten in's lang entbehrte Angesicht zu sehen, erschrak es wie nie zuvor im Leben. Der Mensch neben ihr war ihr 129 wildfremd . . . sie meinte dieß Angesicht nie gesehen zu haben.

»Wer sind Sie?« rief sie, an der Hand zerrend, die sie hielt. »Ich kenne Sie nicht! Sie sind nicht Bolle! Sie sind ein Betrüger! Was wollen Sie von mir?«

Das Rauschen der Frühlingswasser im Fluß, an dessen Ufer sie standen, hinderte, daß ihre Worte weiter oben vernommen wurden.

Waldemar von Waldenberg, der noch immer mit glühendem Kopf und leisem Athem zwischen Thür' und Angel seiner Hauspforte stand, kam es wohl so vor, als ob die Stimmen der Nacht in Bäumen und Wassern auf einmal lauter auf einander träfen. Aber lauter als diese schlug ihm sein Herz. Er dachte keiner Gefahr. Die Gegend war sicher, sein Hausfrieden nie verletzt worden und er hatte jetzt nur für Einen Gedanken Raum.

Basil verstand Bettinen um so besser. Er war auf solchen Ausbruch wohl gefaßt und antwortete:

»Ich heiße Bolle, Basilius Bolle. Und wir Beide sind alte Bekannte, Hausmütterchen. Wir haben schon als Kinder zusammen gespielt.«

»Lassen Sie mich los! Wir sind keine Kinder mehr!«

»Nein! Und Du spielst jetzt andere Spiele . . . Aber, wie schon gesagt, dieselben gefallen mir nicht.« 130

»So gehen Sie, wenn's Ihnen nicht gefällt.«

»Das thu' ich – aber Sie gehen mit mir!«

»Niemals! Wer gibt Ihnen ein Recht, hier einzubrechen und mich fortzuschleppen?!«

»Hier einzubrechen – wenn man das so nennen will – der Zufall, Sie wegzuführen – mein Herz und mein Ehrgefühl.«

»Ihre Unverschämtheit!«

»Nein! Mein Ehrgefühl! Ich will nicht, daß ein Wesen, das von meinem Vater erzogen worden ist, den Weg gehe, auf dem ich Sie just aufgefangen habe! Ich habe mich Zeitlebens als Ihren Bruder betrachtet. Ich will mich dessen nicht zu schämen haben. Oder – wenn Sie nicht alle Scham verloren haben – waren Sie jetzt eben auf dem rechten Wege?«

»Habe ich Ihnen Rede zu stehen? Sie sind mir ein Fremder!«

»Und doch standen Sie willig dem Namen Bolle Rede!«

»Sie lehren mich, daß das thöricht war.«

Bettina fing an, sich aus aller Leibeskraft loszuarbeiten, sie drohte, daß sie um Hülfe schreien würde, wenn Basil sie nicht augenblicklich freiließe.

Auf einmal fuhr ein Gedanke durch sein Hirn, der ihm sein Thun in anderem Lichte zeigte.

»Halt! ein Wort!« sprach er. »Entscheiden Sie 131 selbst, mein Fräulein. Aber hören Sie mich genau an und seien Sie wahr!«

Bettina sah ihm trotzig in's Gesicht, da er anhub. Aber sie senkte bald Wimpern und Haupt, wie er fortfuhr:

»Wir haben als Kinder zusammen gespielt, Bettina. Ich habe Ihren Vater geliebt, nein, ich habe den guten Mann vergöttert. Sie sind meinem Vater Dank, großen Dank schuldig.

»Nun denn, bei Ihrem seligen Vater, bei Ihrer Dankbarkeit, bei Allem, was Ihnen noch heilig geblieben auf dieser Welt, reden Sie ehrlich und wahr: Ist es noch der Mühe werth, Sie vor dem Verderben zu retten? . . . Verstehen Sie mich nicht falsch! ich mein' es in der Weise des schlichten Volkes, nicht nach den Grundsätzen Derer, die Schlösser bewohnen; ich meine, können Sie noch vor meinen Vater mit gutem Gewissen hintreten und sich des alten Mannes würdige Tochter nennen? Ich meine, bin ich nicht der lächerlichste Kerl auf Erden, daß ich mich aus dem Feuer zu holen plage, was schon zu Kohle schwarzgebrannt ist?«

Es focht eine Minute lang Bettinen teuflisch an, ihre Freiheit mit einer Lüge zu erkaufen. Sie sah mitten im Tumulte des Zorns und Widerstreitens, daß sie den Gespielen ihrer Jugend, der frech in ihr Leben eingriff, nicht härter strafen konnte, als wenn 132 sie sich verworfen bekannte. Sie vermochte solch' Geständniß ja hinterher wieder unschädlich zu machen; sie konnte es morgen schriftlich widerrufen, was sie in Nacht und Nebel aus Zwang gestanden, und konnte dann den Thoren noch überdieß auslachen.

Aber sie brachte die Lüge doch nicht über ihre Zunge. Sie wollte nicht lügen beim heiligen Gedächtniß ihres armen Vaters. Mehr noch, sie wollte auch keinen Augenblick vor dem Sohne des Mannes, welcher sie mit Opfern der Liebe aufgezogen und brav gemacht hatte, wie eine Verworfene da stehen. Der Gedanke war ihr unerträglich.

Es fiel ihr ein, wie, da sie Beide Kinder waren, sie es nie hatte dulden mögen, daß der starke Bengel, obschon er der Aeltere war, sich was Besseres dünkte, als sie selber zu sein bewies. Unwillkürlich, mit der instinktiven Gewalt der Erinnerung tauchte dieß alte, längst vergessene kindische Gefühl in ihrer Seele wieder auf. Und so übte mitten in Hader und Groll Vergangenheit den ersten Zwang auf ihr Herz, ob sie sich dessen auch kaum bewußt ward.

»Reden Sie!« rief Basil und zog sie tiefer an den Rand des Flusses hinab. Es kam Bettinen vor, daß Der die Schuldige zwar nicht mit sich nehmen, aber in die jähen Wasser hinabstoßen möchte. Die Gefahr, in welcher ihr Leben zu schweben schien, erschreckte sie nicht, sie gab der tollen Szene, darin 133 Bettina eine peinliche Rolle spielte, eine höhere Weihe. Sie überlegte. So heftig rührte also ihr Geschick den Mann, der sie ein Jahrzehnt aus dem Auge verloren hatte? Des Mannes Ehrgefühl in Ehren! Aber was ging ihn eines vergessenen Mädchens Schicksal an, wenn er es nicht liebte?

So fühlte sie sich von einer Leidenschaft der andern in die Arme geworfen. Schaudernd vor sich selbst und doch nicht ohne Stolz erfuhr sie die Gewalt, die sie über Männerherzen ausübte.

Dieser sinnberückenden Gewalt auf einmal inne, maß sie den Mann, der sich zum Richter über ihr Handeln aufwarf, mit der siegenden Venus grausamem Blick und es freute sie, ihn durch Schweigen zu peinigen.

Er legte dieß Schweigen anders aus und warf ihre Hand von sich.

Sie wandte sich schon zur Flucht.

Da fühlte sie, daß sie mit seiner und Vater Eduard's Verachtung belastet nicht zu fliehen im Stande war.

»Ich hätte nicht geantwortet, wenn Sie mich nicht frei gegeben hätten,« sagte sie nun. »So mögen Sie's wissen, daß ich vor keinem Vater, keinem Könige der Welt und keinem Priester des Himmels die Augen niederzuschlagen brauche und jeder Ehre werth bin, die ein streng, aber rechtlich 134 denkender Mann irgend einem Mädchen zu erweisen vermag. Damit Gott befohlen!«

Sie wollte eilends an ihm vorüber.

»Halt!« rief Basil und wehrte ihrer Flucht. »Geben Sie noch eine Antwort. Nicht mir, geben Sie die Antwort sich selbst. Die Hand auf's Herz! Glauben Sie, nach jenem Hause heimkehrend, jetzt, in dieser Nacht noch heimkehrend, auch morgen, übermorgen die stolze Antwort geben zu können, die Ihnen just so wohl anstand?«

Bettina wollte mit voller Zuversicht bejahen. Da brachte sie kein Wort über die Lippen. Die Antwort blieb aus.

Basil hatte seine letzten Worte nicht mit der wilden Heftigkeit hervorgestoßen, wie alles Andere. Es war ein rührender Ton in seiner Mahnung, als säh' er das Glück seines eigenen Lebens dahinschwinden. Es war Bettinen wieder, als hörte sie des alten Eduard väterliche Stimme. Und wie der Sturm ihrer Gefühle sich also gegen sie selbst kehrte, fühlte sich ihr Körper plötzlich auch von all' der Aufregung und Anstrengung so ermattet, daß sie in's Gras auf die Kniee sank. Sie führte die Hand nachdenklich an die Stirne, während ein Seufzer ihre Brust und eine Thräne die Wimper verließ.

»Bettina!« rief es jetzt von Oben, leidenschaftlich und doch ganz vorsichtig, leise, um keinen 135 Hausgenossen zu wecken und ihm dieß Versteckenspiel zu verrathen.

Sie erkannte Waldemar's Stimme aus dem hohen Garten, der, über ihr Ausbleiben geängstigt, sie suchend unter dem Baumgang herumirrte. Wenn er an's Ufer herabkam und die beiden Männer sich hier trafen, gab es ein Unglück!

Sie blickte scheu den verwünschten Retter an. Er stand ruhig und maß sie mit den Augen und sprach fast verächtlich:

»Nun denn, warum gehen Sie nicht? Sie hören doch, daß Sie gerufen werden!«

Bettina raffte sich auf und wollte davon. Aber sie konnte nicht weiter. Ihre Kniee versagten. Ihr Gewissen schien Schlingen um ihre Füße zu legen.

Sie wollte sich überwinden, wollte dennoch fliehen. Da, wie sie geradeaus vor sich hinsah, sträubten sich plötzlich ihre Haare, die Augen öffneten sich weit und unwillkürlich falteten sich krampfhaft ihre Hände.

Drüben über dem Fluß, tief unten am Wasser stand eine alte graue Weide, deren Zweige der Wind langsam bewegte. Die Nacht war zu dunkel, um klar zu sehen. Bettina sah nur einen helleren Gegenstand sich nebelhaft über der Woge bewegen. Und wie ihre Sinne erhitzt waren und ihr Herz erschreckt, meinte sie im ersten Augenblick nicht anders, als ihr 136 todter Vater stände drunten am Fluß und winkte drohend mit dem Leichentuche.

Sie wußte in der nächsten Sekunde, daß diese Sinnestäuschung flüchtig war. Aber der zwingende Eindruck blieb. Ihre überreizten Sehnerven hatten nur außer ihr gesehen, was in ihrem Herzen sich vollzog.

Sie wankte und sprach: »Mir selber graut vor meiner Zukunft. Aber ich kann nicht von Waldenberg fort!«

»Bettina!« klang es wieder von Oben – schon ängstlicher, unvorsichtiger und näher als vorhin.

Basilius zuckte die Achseln und lachte geringschätzig. Er legte sich ihre Antwort falsch zurecht und meinte wohl, sie könnte nicht, weil sie nicht wollte.

»Ich kann nicht, weil ich nicht darf,« belehrte ihn Bettina.

»Nicht dürfen?« versetzte Bolle. »Sich nicht retten dürfen aus den Schlingen der Sünde, sich nicht retten dürfen aus dem Zauberkreis der Leidenschaften?! Was heißt das, nicht dürfen?«

»Es heißt, daß ich zu bleiben versprochen, geschworen habe!«

»Dem Herrn Major?!«

»Nein, ich hab' es der Frau versprochen! Auf ihr Verlangen in ihre Hände. Glauben Sie mir, ich wäre längst nicht mehr hier, wenn ich nicht in 137 einem unseligen Augenblick, da mir's wie ein Gebot der Pflicht erschien, den Eid auf meine Seele geladen hätte, weder zu Fuß, noch zu Wagen, noch anderswie, ohne die Einwilligung der Frau von Waldenberg, ihr Haus zu verlassen.«

»Bettina! sind Sie unten am Wasser?« rief Waldemar jetzt laut von der Wiese herab. »Mich dünkt, ich höre Sie reden. Geben Sie ein Zeichen, geben Sie einen Laut, wenn Sie hier sind . . . Bettina!«

Ein halblauter Fluch kam hinter diesen Worten. Dann hörte man die Schritte des Barons, der nach diesem vergeblichen Versuch wieder weiter gegen das Haus zurückschritt.

Ein lautes Wort hätte jetzt Bettinen befreit. Aber sie fürchtete den Zusammenstoß der Männer und sie wollte sicher sein, daß Bolle's Sohn ihr Glauben schenkte und seinem Vater nicht rathen durfte, sie zu verfluchen und zu vergessen.

Basil hatte sie an der Hand ergriffen und raunte ihr jetzt in's Ohr: »Wollen Sie mich glauben machen, daß die Frau dieses Mannes Sie nicht entlassen will?«

»Sie läßt mich nicht!« gab Bettina ebenso flüsternd zur Antwort, »durchaus nicht! Und eben darum, ob ich mag oder nicht, muß ich bleiben. Verstanden? ich muß! ich bin gebunden, geschehe, was mag!« 138

»Wahnsinn, der ansteckt!« sagte Basil.

»Lassen Sie mich. Ich gehe zurück!«

»Niemals!«

»Ich kann nicht fort. Es ist unmöglich!« rief Bettina und wehrte sich mit erholter Kraft.

Bolle lachte: »Unmöglich?! Nothwendig ist es und darum möglich! Nicht zu Fuß, nicht zu Roß, und ist doch so einfach zu machen!«

Mit diesem Worte seines Vaters bückte er sich und hob Bettinen auf seine Arme.

»Wer ernstlich will, braucht nicht Roß, nicht Wagen noch Füße und kann doch dem Verderben entrinnen. Ein Freund in der Noth thut's auch!«

Dieß gesagt, schritt Basil mit seiner Last, die ihn nicht sonderlich zu drücken schien, so eilig er konnte, stromaufwärts am Ufer entlang. War er drüben über dem Zaun, so bargen ihn Hecken und Büsche, bis er auf eine kleine Straße kam. So weit hatte er die Gegend heute Nacht trotz der Dunkelheit auskundschaften können, um den nächsten Bescheid zu wissen. Und da auf Waldenberg nicht viele Leute zur Verfolgung bereit sein konnten, durfte er hoffen, in dieser rabenschwarzen Nacht unentdeckt zu entkommen, wenn anders Bettina sich von der Nothwendigkeit ihrer Flucht gutwillig überzeugen ließ.

Sein gewaltsames Vorgehen aber hatte in dem überraschten Mädchen alle Geister des Widerstandes 139 wachgerüttelt. Und nicht nur ihr beleidigtes Selbstgefühl empörte sich, es fiel sie auch Angst so überwältigend an, daß sie ohne weiteres Denken laut auf um Hülfe schrie und mit vor Verzweiflung gellender Stimme Waldemar von Waldenberg beim Namen rief.

»Wo, wo!« hörte man den Major ziemlich ferne rufen. »Bettina, wo?!« Er mußte nahe am Hause sein.

»Am Fluß, bei den Weiden! . . . Hülfe!« schrie die Entführte.

Das Wasser rauschte, der Boden knirschte, abgefallene Zweige knackten unter Basil's eiligen Tritten.

Bettina schlug wild um sich auf seinen Armen. Dennoch fühlte sie, ob auch ihre Wuth darum in Thränen ausbrach, wie ihre Kraft immer mehr versagte.

»Halten Sie sich still! Wenn ich Sie jetzt abwerfen muß, werf' ich Sie – so wahr mir Gott helfe! – in's Wasser. Eid gegen Eid! Sehen Sie sich vor! Sie müssen von hier fort! Machen Sie dann, was Sie wollen. Jetzt aber lassen Sie die Possen! Mir ist höllisch ernst zu Muth!« flüsterte Basil ihr zu und sie fühlte, daß er Wort halten würde.

Warum kam von Waldemar keine Antwort?

Eine Minute war auf ihren letzten Ruf droben Alles still geworden. 140

Jetzt auf einmal hörte sie ihn wieder rufen: »Bettina! Wo nun! . . . Ich komme!«

»Aha!« sagte Basil, »er hat sich ein Schießgewehr geholt. Liebe macht blind. Oder er sieht die Finsterniß nicht nur, sondern auch durch die Finsterniß. Nehmen Sie sich in Acht, Bettina, und schweigen Sie! In seiner Wuth trifft er auch möglicherweise Sie.«

»Bettina!« scholl es näher und näher. Sie hörten den Verfolger in rasenden Sprüngen die Wiese herabeilen.

Im Hause droben wurden Lichter hell und Stimmen tönten hinter den Fliehenden. Aber auch vor ihnen tönte nun eine Stimme und eine Gestalt sprang aus dem Dunkel Basil entgegen, hart vor dem Zaun, den dieser beinahe schon erreicht hatte.

Die Stimme dünkte Bettinen sehr bekannt, aber sie vermochte doch den Mann im Finstern nicht zu erkennen, der jetzt Dem, der sie trug, zuraunte: »Rasch, rasch! Ich habe den Zaun bearbeitet! Nicht nöthig überzusteigen. Seitwärts durch! . . . Ade! . . . Ich eile dem Andern entgegen, ihn aufzuhalten!«

Der Schatten war vorüber! Basil hatte sich nicht Zeit genommen, zu antworten.

Bolle's Sohn stand mit seiner Last auf den Armen am Zaune. Ob auch die Planken zur Seite geschoben waren, er mußte doch eine Böschung 141 hinansteigen, die hier zur Grenze künstlich aufgeworfen worden war.

Der starke Mann athmete schwer unter der Anstrengung. Tiefer hing ihm die Last über den Armen, aber das Mädchen rührte sich nicht mehr.

Noch einen Schritt, noch ein Stück, dann halb geschoben, halb geworfen, fand sich Bettina jenseits der Waldenberger Gemarkung im Grase liegen. Sie wußte selbst nicht, warum sie jählings wieder aufsprang.

»Ich sehe Sie, Bettina!« hörte sie gleich darauf den athemlosen Waldemar hinter ihr rufen. »Ducken Sie sich nieder, nieder! . . . So!«

Angst häufte sich auf Angst. Man konnte jetzt Bettinen befehlen, was immer, sie gehorchte. So kauerte sie sich auch jetzt an die Erde tief, als sie Waldemar's furchtbaren Ruf hörte. Und doch sah sie zu dem Andern empor, der über ihr im Trutz der Männlichkeit und im Uebermuth der Jugend mit verdoppelter Gelassenheit sich nicht neben dem Zaun vorbeidrückte, sondern über ihn hob, die langen Beine lang und langsam ausstreckend, als wär's zum Höhnen Zeit.

Im selben Augenblick, da Waldenberg kaum noch einmal »So!« gesagt, blitzte es von der Wiese auf, und wie's just geknallt hatte, schwirrte die Luft über Bettinen, es raschelten auf der andern Seite, ein 142 Strecke weiter über der Grenze des Gutes, etliche Zweige im Wald und die jungen Blätter ringsum rauschten, wie wenn der Wind wehte.

»Verdammt!« hörte Bettina den Mann neben ihr sagen und er schüttelte sich heftig, eh' er vom Zaune heruntertrat.

Im nächsten Momente ertönte heftiger Wortwechsel von der Wiese des Guts herüber, und Basil, die rechte Hand der Knieenden entgegenstreckend, sagte: »Nun haben Sie Waldenberg verlassen nicht zu Fuß, nicht zu Pferd, Ihr Eid ist hinfällig. Sie können umkehren oder gehen. Ich kann Sie nicht weiter tragen und mag Sie nicht mehr zwingen. Sie sind frei. Was nun?!«

»Sie sind verwundet!« sagte Bettina und ihre Augen starrten den unbegreiflichen Menschen an.

»Nein!« versetzte Dieser barsch. »Aber entscheiden Sie sich rasch!«

Sie hatte sich entschieden. Wie der Schuß geknallt hatte, war Angst und Bann von ihr gewichen. Ihr war, als hätte sie in dieser Minute ein Jahr durchlebt. Sie richtete sich an Basil's Hand empor und ging, schweigend seiner Führung sich überlassend, neben ihm her so eilig, als sie's vermochte. 143

 


 


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