Hans Hopfen
Die Heirath des Herrn von Waldenberg
Hans Hopfen

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III.

Der Wagen, in dem Orlando neben seinem »treuen Knechte« saß, rollte der kleinen Gartenstraße zu.

Der verstörte Musikus hatte auf dem ganzen Wege noch keinen Laut von sich gegeben. Fridolin, der ihn genau beobachtete, wäre für ein jedes Wörtchen dankbar gewesen. Aber er hielt es nicht gerathen, den Alten zum Reden herauszufordern. Wie leicht hätte die harmloseste Aeußerung seinen Zorn aufbringen oder seine räthselhafte Stimmung zu irgend anderem Unbedacht reizen können.

Freilich, wer den armen Organisten jetzt so still in der Wagenecke sitzen sah, der hielt ihn für einen frommen Greis, der gern mit seinen Gedanken allein blieb und dessen Gedanken nicht allzu heitere schienen.

Er sah immer geradeaus, als hätte er Sorge, einen bestimmten Punkt, einen Knopf, einen Nagel oder was es sonst im Innern des Wagens war, aus dem Auge zu verlieren. Es kam Fridolin vor, wie 82 wenn der Alte damit auch einen bestimmten Gedanken, einen stillgefaßten Vorsatz nicht außer Acht lassen wollte, den er bei Veränderung seines Augenmerks zu verlieren fürchtete.

Eben als der junge Mann sich auf diese Situation hin eine kleine Novelle zu bauen vornahm, entsetzte ihn Orlando durch plötzliche Beweglichkeit. »Halten! Anhalten! . . . Halt!« rief er und hatte schon die Thüre geöffnet, um, wenn nicht anders, auch aus dem fahrenden Wagen zu springen.

Fridolin hielt den eigensinnigen Organisten mit aller Gewalt zurück, bis der Kutscher seinem Gebot gehorchte und die Pferde zum Stehen brachte.

Orlando schlug sich, ohne umzusehen, sofort in eine Straße, die dem Wege nach seiner Wohnung ziemlich entgegengesetzt war. Eilenden Schrittes, des Windes, der ihm entgegenblies, nicht achtend, ging er dahin. Rockzipfel, Halstuch und Haare flatterten nur so von ihm.

Der kleine Löwe lief, die Hand an der Hutkrämpe, hinter ihm drein. Er hatte das volle Bewußtsein, daß es hier anvertrautes Menschenleben zu bewahren galt, daß er den Alten jetzt nicht sich selbst überlassen durfte und daß er heute für alles Leid verantwortlich war, das Jenem widerfahren würde.

»Ich bitte Sie, Maëstro,« rief er, da er ihn eingeholt hatte, »nehmen Sie mich mit . . . Ich habe 83 gar nichts Besseres zu thun, als Sie zu begleiten . . . Herrlicher Abend, was? . . . Wollen Sie sich nicht in meinen Arm hängen? . . .«

Orlando nahm weder den angebotenen Arm, noch wies er die angebotene Begleitung zurück. Er that nicht dergleichen, als ob überhaupt Jemand neben ihm ginge, oder gar als ob dieser Jemand ihn störte, sondern schritt nach wie vor fürbaß, als trieb ihn Sorge zur Eile.

Fridolin war's schon zufrieden, daß der Mann, der seine Besorgniß erregte, ihn bei sich duldete, und so gingen sie neben einander aus der Stadt, über die große Brücke und den Hügel hinan, der am Flusse hin führt. Von der mäßigen Höhe sah man schön in die Weite. Auf den Dächern, Kuppeln und Thürmen zu ihrer Rechten glänzte die Abendsonne. Dazwischen blinkte und rauschte drunten der eilige Fluß. Links drüben hinter freiem Wiesenplan standen vereinzelte Büsche und Baumgruppen, die junggrünen Wipfel im Winde wiegend. Einzelne Lerchen stiegen mit stoßweisem Sang in die Luft. Auf einer anderen Straße über Feld jauchzten etliche Wanderburschen frohgemuth in den Abend hinein.

Fridolin wäre gern stehen geblieben, um den Zauber dieser Landschaft auszukosten. Allein der Alte dachte nicht an's Verweilen, obwohl ihn der Weg in die Höhe ziemlich außer Athem gebracht und seinen Schritt ein wenig verlangsamt hatte. 84

Der treue Knecht zweifelte im Innern seiner Seele nicht mehr, daß der angestrengte Marsch nun bald in irgend einer namhaften Schenke, deren es etliche auf der Höhe gab, sein freundliches Ziel erreichen werde. Dieser Gedanke tröstete ihn je länger desto mehr.

Aber Orlando ging den Fluß entlang, an der einen Wirthshausthüre nach der andern vorbei. Dann bog er links ab gegen fernere Dörfer. Fridolin ward nochmals bange. Die Sonne stand schon am Rande des Horizonts. Sollte dieser Wandel vielleicht in die Nacht hinein, sollte er ziellos in die weite Welt führen?

Löwe besann sich kaum, diesen Weg die kurzen anderthalb Jahre, die er in der Stadt wohnte, schon einmal gegangen zu sein. Dann meinte er wieder, an diesem Haus, an jenem Garten vorüberkommend, dieß Alles doch schon so gesehen zu haben. Allerhand Vermuthungen fielen ihm ein, keine genügte. Es ward ihm heiß vor Besorgniß. Es riß ihm das Haupt zur Seite. Er mußte den Alten betrachten. Aber konnte er ihm seine Gedanken absehen?

Dort drüben auf der Höhe stand ein großes Haus. Es war schier wie ein Palast anzuschauen. Hoch über alle nahen Gebäude strebten seine Giebel in die Luft, aus seinen Schornsteinen wallte reichlicher Rauch empor und an der Vorderfront glänzten 85 seine vielen Fenster, ja selbst seine blanken Backsteinmauern in der untergehenden Sonne. Fridolin vermochte sich gar nicht zu sagen, was das für ein Haus wäre.

Was wollte der Alte dort? Denn dorthin strebten ohne Zweifel seine Schritte. Es konnte nicht zufällig sein, daß er sie von Anfang an dahin gerichtet. Ging er doch schneller, seit er des stattlichen Gemäuers ansichtig geworden war.

Und als er an die Gartenthüre gekommen, verdoppelte er seine Eile. Fridolin konnte ihm kaum folgen.

Und als der Organist über die Stufen hinauf vor's Hauptthor gelangt war und die Glocke gezogen hatte, kehrte er sich noch einmal um, warf einen Blick über's weite, sonnenbeglänzte Land und warf einen Blick auf den treuen Knecht, der sich ihm nachzudrängen anschickte.

»Ade!« sagte er leise mit entschieden abwehrender Geberde, klinkte das Schloß auf und schlug dem Besorgten die Pforte vor der Nase zu.

Fridolin suchte zu öffnen, die Pforte war aber schon wieder verschlossen. Er zog im ersten Entschluß die Glocke und wartete, daß nun auch ihm geöffnet werden sollte, aber der unsichtbare Pförtner schien keine Eile zu haben. Fridolin fehlte es nicht an Geduld. Er war entschlossen, nicht von der Stelle 86 zu weichen, ohne den alten Sonderling wiederzuhaben. Er setzte sich auf die blanken Steinstufen des Portals und sah der Sonne zu, die strahlend unterging.

Leise schauerten die Bäume im Garten. Auch Fridolin schauerte es aus dem Blätterrauschen wunderlich an. Es war so still hier, still und friedlich. Er horchte noch ein Weilchen. Im Hause regte sich nichts; nur ein Klavier war manchmal leise zwischen dem sanften Rauschen der Bäume vernehmbar. An's Thor kam Niemand.

Fridolin Löwe stand auf. Eine Viertelstunde hatte er wohl schon gewartet. Nochmals zog er und heftiger an der Glocke.

Und nun ward alsbald aufgethan.

Ein Thürhüter, aber ohne Livrée, stand vor ihm und fragte, was er wünschte.

Er besann sich in seiner Besorgniß, was er denn eigentlich sagen sollte.

»Entschuldigen Sie,« fing er nach einigem Räuspern an, »vor etwa zehn oder zwanzig Minuten ist hier ein alter Herr eingetreten, der –«

Fridolin sah den Andern an; er meinte genug gesprochen zu haben, daß nun der Andere sich verrathen möge, auf was für eines Hauses Schwelle er sich denn eigentlich befände. Und da er seine Frage nicht vollendete, sagte richtig der Thorwart: 87

»Der alte Herr hat sich als Patient gemeldet . . . Gehören Sie zu ihm?«

»Ja wohl,« antwortete Fridolin, der fühlte, wie seine Wangen kalt wurden. »Und ich wollte . . . ich wäre Ihnen verbunden . . . Ich bin doch richtig hier? Das ist . . .«

»Die Landesirrenanstalt. Versteht sich!« ergänzte der Thorwart den Stockenden, während er das große Schloß hinter ihm absperrte, just als meinte er, daß Hunzelsperger nicht der einzige Patient wäre, der sich in unbegreiflicher Selbsterkenntniß in eigener Person meldete.

»Ich möchte gern den dirigirenden Arzt oder den taghabenden Assistenten sprechen,« sagte Fridolin, der nun allmälig das Bewußtsein seiner Bedeutung und den beliebten vornehmen Geheimerathston des seligen Herrn von Goethe wiedergewonnen hatte.

»Gerade so hat der Andere auch gefragt!« sagte der Pförtner gelassen und schritt dem Unkundigen die Treppe voran. Die Stirn erhoben, die rechte Hand in der monumentalen Brustfalte seines Rocks, folgte Fridolin. Bewußten Ernst in allen Zügen, trat er in eine Dienststube, wo ein junger Mann, von dem nur ein wolliger Krauskopf zu sehen war, an einem Schreibtisch saß und mit hurtiger Feder eine Liste ausfüllte.

Nachdem er das Blatt unterfertigt und bestreut 88 hatte, gab er es dem Pförtner und schickte ihn fort; stand auf, stellte sich gegen's Licht in die Fensternische, schob sich die Brille auf der spitzigen Nase zurecht und sagte zu seinem Besucher, den er offenbar auch wie alle Welt auf getrübte Zurechnungsfähigkeit hin beobachtete: »Kennen Sie Herrn Hunzelsperger näher? Haben Sie ihn hergebracht?«

»Ich bin Fridolin Löwe!« antwortete der Andere stolz bescheiden.

Diese Eröffnung schien aber auf den beschränkten Fachmann keinen Eindruck zu machen. »Freut mich. Mein Name ist Loser,« erwiederte er gleichgültig und wiederholte seine Frage.

Der Dichter hielt es unter seiner Würde, die Kränkung, die er empfand, vor einem Ungebildeten merken zu lassen und setzte dem jungen Arzte recht verständig auseinander, daß er bis vor wenigen Minuten keine Ahnung gehabt, wohin Orlando seinen eigenmächtigen Lauf gerichtet, daß er den Alten nur aus Freundschaft und Besorgniß begleitet habe und was er sonst von dem Leidenden halte.

»Seltsam!« rief der Doktor, »es ist der erste Fall, der mir in meiner Praxis – die allerdings nicht sehr alt – vorgekommen ist, daß sich ein Patient bei uns von freien Stücken in eigener alleiniger Person meldet. Und allem Anschein, auch Ihrer Erzählung nach hat Herr Hunzelsperger sich selbst ganz richtig 89 diagnostizirt, ja, er hat die entscheidenden Symptome, ohne Fragen abzuwarten, so genau angegeben, als es nur die Beobachtung eines Fachmanns hätte feststellen können.«

»O, es ist eine außerordentliche Begabung in diesem mir so befreundeten Geiste!« beeilte sich Fridolin zu dem Arzte zu sagen, der wieder an den Schreibtisch getreten war und auf einem Blatt in seiner Hand die Angaben des alten Musikers noch einmal durchzusehen schien. Das Lob von Orlando's Geiste machte ihn nur die Achseln heben.

»Auch Patroklus mußte sterben!« sagte er mit einem leisen, menschenfreundlichen Seufzer, als gäbe es keinen Geist so groß, daß er nicht seiner Obsorge verfallen könnte.

Fridolin staunte. »Sie wollen den Alten doch nicht über Nacht behalten?«

»Ganz gewiß, mein Herr!«

»Aber wozu das? Er ist ja so wenig verrückt wie Sie und ich!«

Der Doktor sah den Eifernden mit einem merkwürdigen Lächeln an. »Sie und ich! Wer steht Ihnen denn für mich und Sie? ›Verrückt!‹ Grobe Worte! Laienvorstellungen! Wie es überhaupt keine absolute Gesundheit gibt, so gibt es auch keine absolute Geistesgesundheit. Alle Menschen sind entweder mehr oder weniger krank, oder wenn Ihnen das lieber 90 ist, mehr oder weniger gesund. Es kommt ganz auf's Gleiche heraus. Gesund sein und krank sein sind an sich keine absoluten, sich einander ausschließenden Gegensätze, sondern nur Steigerungen ein und desselben Zustandes.«

Fridolin wollte dem begeisterten Fachmann schon den Vorschlag machen, nach dieser Ueberzeugung sich selber einzuschließen und den Organisten freizugeben. Aber in der peinlichen Lage, in der er sich befand, begnügte er sich mit der letzten Hälfte der Zumuthung.

»O, was Ihren Freund betrifft, so beurtheilt er sich selber besser als Sie ihn,« versetzte Doktor Loser. »Er beklagt sich über krankhaft gesteigertes Bedürfniß, seine Kehle mit Flüssigkeiten zu reizen, über Falschsehen, Gedankenflucht, übermächtige Schwermuth, Wahnvorstellungen. – Hier liegt ein ganz ernsthafter psychiatrischer Fall vor, verlassen Sie sich darauf und loben Sie sein Geschick, daß er nicht unfreiwillig und umständlicher in die Anstalt hat geliefert werden müssen!«

»Was fällt Ihnen ein! Der Mann ist einfach betrunken!«

»Der Mann, der diesen weiten Weg unangefochten zu Fuß geht, den Weg zu uns, mit festem Willen und festem Schritt? Glauben Sie den annoch betrunken?«

Fridolin mußte unwillkürlich die Augen 91 niederschlagen. Er glaubte es nicht. Aber sprachen dieselben Gründe nicht auch gegen seine Geistesverwirrung?

Der Arzt zuckte wieder die Achseln. »Falsche Vorstellungen und kein Ende! Die Herren Laien glauben immer, daß der Wahnsinn ausbrechen müßte in der Art etwa, wie es in einer italienischen Oper geschieht. Fühlen Sie denn nicht auch eine große physische Krankheit zuerst in geringeren Anfechtungen? Nun so hat der Mann richtig voraus an Einzelwahrnehmungen, die ihn erschreckten, seinen Zustand, seine Zukunft erkannt. Er war vorige Woche vielleicht noch ganz das, was Sie geistesgesund nennen; ich zweifle daran; aber leider muß ich auch bezweifeln, daß er in nächster Woche noch des klaren Augenblickes fähig sein würde, sich selbst zu beurtheilen. Vielleicht schon morgen nicht mehr. Auch dieses Schicksal schreitet schnell!«

Fridolin rang unwillkürlich die Hände. »Aber der Mann hat von seinem einzigen Kinde keinen Abschied genommen, er hat sein Haus nicht bestellt . . .«

»Und bei seiner Behörde keinen Urlaub erbeten!« fiel der Arzt dem Klagenden in's Wort. »Ja, wer's verstünde, immer zur gelegenen Zeit verrückt zu werden!«

»Aber so lassen Sie mich ihn nur noch einmal sprechen, seine Wünsche, seine Befehle in Empfang nehmen.« 92

»Das wäre gegen mein ärztliches Gewissen! . . . Außerdem: wenn der Mann von Kind und Haus noch etwas wüßte, wär' er wohl nicht hier.«

Ein leiser Ruf des Erstaunens entfuhr dem treuen Knechte. Die entsetzliche Wahrheit schien keinen Widerspruch aufkommen zu lassen. Und der Arzt fuhr fort: »Zeigen Sie dem armen Manne Ihre Freundschaft dadurch, daß Sie die Seinigen von dem Schicksalsschlage vorsichtig, mit aller Schonung, aber auch ohne Beschönigung der grausamen Thatsache, in Kenntniß setzen; zeigen Sie Ihre Freundschaft, indem Sie ihnen helfen, sich in's Unwiderrufliche zu fügen, und mit Jenen dafür Sorge tragen, daß die Pension des Kranken richtig bezahlt, daß ihm an Kleidern, Wäsche, Geräthschaften gesandt werde, was er nöthig hat, und daß er, wenn es sein Zustand erlaubt, Besuche empfangen könne, die vielleicht sein Herz erfreuen.«

Der junge Mann hatte diesen letzten Trost mit etwas konventionellem Tone vorgebracht, aber es war doch ein Trost. Und Fridolin griff ihn eiligst auf:

»Sie glauben also an keinen schweren Fall und an sichere Heilung?«

Man hörte keine Antwort. Fridolin sah den Arzt mit großen Augen an. Der schüttelte leise verneinend das wollige Haupt. 93

 


 


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