Hans Hopfen
Die Heirath des Herrn von Waldenberg
Hans Hopfen

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XII.

Kurz vor sechs Uhr hielt ein Miethwagen vor dem Portal des Irrenhauses. Fridolin Löwe sprang die Stufen hinab, öffnete den Schlag und gab der verschleierten Dame das Geleite.

Leonilla kam vor die Thüre des Arztes, ohne einer sterblichen Seele begegnet zu sein. Derselbe krausköpfige Mann mit starken Brillen auf der spitzigen Nase, welcher einst Orlando empfangen hatte, begrüßte ehrerbietig die fremde Frau. Er nannte ihr bescheidenen Tons seinen Namen, Doktor Loser, und stellte sich ganz zu ihrer Verfügung.

Sie gingen schweigend durch einen leeren Saal und mehrere Gänge. Nur einmal wandte sich der Arzt an die Baronin. »Ich glaube nicht, daß Sie dem Fräulein in Ihrem Hause Bericht bringen können, der es erfreuen wird.«

Leonilla verlor auf einmal den Muth. Sie blieb stehen und sagte: »Gräßliches will ich nicht sehen!«

»Fürchten Sie keinen widerlichen, keinen 258 erschreckenden Anblick, meine Dame. Diese Nummer ist zahm, geduldig und heiter. Nur von dem räthselhaften Dinge, was Sie Seele nennen, und von dem süßen Dufte, um dessentwillen wir diese Seele geliebt haben, ich meine die Kunst Orlando's, davon werden Sie – es darf Sie nicht entsetzen – kein Spürchen wiederfinden.«

Ein Wärter kam ihnen grüßend entgegen. Er hatte das gutmüthige Gesicht eines starken Menschen.

»Wie geht's auf Nr. 73 fragte der Arzt.

»Recht gut, Herr Doktor, wie immer!« antwortete der Aufwärter. »Er ist heute besonders gesprächig.«

Ein Schlüssel öffnete. Sie traten in ein hohes, lichtes, freundliches Zimmer. Ein alter Mann in einem Schlafrock ging, ihnen den Rücken kehrend, die Wand entlang. Es war so still und Leonilla so gespannt, daß sie die Uhr an ihrem Gürtel pochen hörte. In ziemlich gleichgemessenen, kurzen Zwischenräumen ließ sich von draußen, wahrscheinlich vom Garten herauf, ein gedämpftes Rollen vernehmen, das von einer Kegelbahn herrührte.

An der unteren Wand angelangt, kehrte sich der Mann um, sah die Gäste und ging schnurgerade auf sie zu. Sein Gesicht war fett, seine welken Lippen und seine blassen Augen lächelten, man hätte ihn für gesund halten mögen, nur im Gang war etwas Schlotteriges und Schwankendes, das auffallen konnte. 259

»Na, hat's geschmeckt?« sagte der Arzt und ergriff einen steinernen Maßkrug, der, zur Hälfte noch mit gutem Bier gefüllt, auf einem Schrank stand. »Der Patient erhält alle Tage eine Maß Bier,« sagte er dann erklärend zu den Besuchern.

Orlando blieb lachend, die Arme wiegend, ganz dicht vor Fridolin Löwe stehen und sagte ein wenig lallend, aber außerordentlich freundlich: »Den kenn' ich auch . . . ohohoho . . . Den, Den kenn' ich auch . . .« Es schien einen Augenblick, als ob er sich auf einen Namen besänne. Aber nur eine Sekunde schien es so. Gleich drauf sagte er: »Und dann machen sie immer so!« Er ließ dabei den rechten Arm schlenkern, wie einen Pendel, dem man unregelmäßige Schwingungen gibt und wiederholte mehrmals: »Immer so!«

»Er meint wahrscheinlich das Kegelspiel,« sagte der Arzt.

»Spricht er denn nie von Musik? Aeußert er kein Bedürfniß, Musik zu machen, Musik zu hören?« fragte Leonilla.

»Nicht im geringsten!« antwortete Loser. »Er verhält sich vollkommen gleichgültig dagegen. Es wird ja viel und vielerlei Musik im Hause gemacht. Man sollte glauben, er hört sie gar nicht. Und doch hört er, wie Sie aus seiner Aeußerung entnehmen können.«

»Und dann machen sie immer so!« sprach Orlando, 260 mit dem Ohr nach dem Fenster weisend, als bekräftigte er unbewußt das von Doktor Loser Gesagte.

»Ich möchte wissen, ob er noch eine Ahnung von Erinnerung an meinen Mann hat.« Leonilla sah den Arzt fragend an, als erwartete sie eine ausdrückliche Erlaubniß. Dieser verbeugte sich sachte, wie um anzudeuten, sie möchte nur fragen, was sie wollte.

»Waldenberg!« rief Leonilla den Kranken an. »Rittmeister Waldenberg!«

»Und dann machen sie immer so! immer so!« versetzte, was von dem Tondichter übrig geblieben war. Es klang fast zornig. Die Gegenwart der Dame schien den Alten aufzubringen.

Leonilla schämte sich ihres thörichten Anschlags. Der Arzt gab einen Wink, daß es Zeit wäre, sich zu entfernen.

Die fürwitzige Frau griff auf dem Gange draußen an die Wand, um sich aufrecht zu erhalten. Obwohl sie Orlando kaum früher von Angesicht gesehen hatte, war doch der Eindruck dieses zerstörten Wesens ein so furchtbarer, daß sie Mühe hatte, jetzt ihre eigenen Gedanken ordentlich auf einander zu reimen. Sie hatte sich unter einem Wahnsinnigen doch etwas Anderes vorgestellt, vielleicht etwas wie einen Somnambülen, der aus dem Schlafe redete und dem man mit Scharfsinn und Vorsicht heikle Dinge 261 abfragen könnte, die gescheidte Leute wohlweislich für sich behalten.

»Es wird nicht sehr lange mehr dauern,« sagte jetzt der Arzt, als ob er damit die Erschreckte beruhigen könnte.

»Wie entsetzlich!« sprach Leonilla, »wie unbegreiflich! Ein langes Leben vollzieht sich ganz und gar in der Ausübung einer Kunst, solch' einer Alles ausschließenden, den Menschen beherrschenden Kunst, wie die Musik, ein jeder Tag dieses langen Lebens ist ausgefüllt von Orgelspiel und Gesang . . . sechzig Jahre lang und drüber hat der Mensch keinen anderen Gedanken, als die auf Gesang und Orgelspiel sich richten, er denkt und athmet in Tönen – und nun! Alles vergessen bis auf die Ahnung davon. Es ist unbegreiflich!«

»Doch nicht so ganz!« antwortete Fridolin, der seit er ab und zu den ehemaligen Musikanten besuchen kam, die Ueberzeugung in sich ausgebildet hatte, daß er, auf psychiatrischem Gebiete sich niederlassend, einer der größten Irrenärzte der Welt geworden wäre. »Wie Gesundheit und Krankheit überhaupt keine einander ausschließenden Gegensätze sind, sondern nur Steigerungen oder Abschwächungen des nämlichen Zustandes, so ist auch die Gesundheit des Geistes keine absolute und ihr Gegentheil darf als kein besonderer Zustand betrachtet werden. Wir Alle sind 262 mehr oder weniger geisteskrank in diesem Sinne und unser Zustand läßt täglich Steigerungen oder Schwächungen zu, die Anderen überraschender vorkommen mögen als uns, die wir sie nur ausweisen, aber nicht als Fehler empfinden. Umgekehrt ließe sich vielleicht sagen, daß das Musikmachen, – ja, daß jede Ausübung bewußter Kunst auf einer krankhaften Hypertrophie gewisser Organe beruht und somit nichts Anderes als eine Krankheitserscheinung ist, die zu- oder abnimmt und von der man unter Umständen ganz geheilt wird. Wer mag es wissen, ob sich unser großer Orlando, seit die Bürde des Genies von ihm genommen, nicht erleichtert fühlt!«

Unwillkürlich griff der Arzt seinem Freunde Löwe an den Puls. Das profane Gemüth schien für solch' sublime Ironie gar keinen Sinn zu haben. »Trösten Sie sich,« sprach er jetzt, und da ihm die berufsmäßigen Schrecknisse des Hauses zur Gewohnheit geworden waren, so durfte er dabei lächeln. »Trösten Sie sich, Sie werden die Last Ihres Genies noch lange nicht los. Es wird nicht Jeder irre, der da will. Und ich bin überzeugt, daß Sie in Ihrem Leben nie daran zweifeln werden, daß zweimal zwei viere sind.«

»Ich kann Alles, was ich will,« antwortete Fridolin Löwe. Dabei dacht' er von dem Anderen: Welch' ein banaler Kopf, der seine eigenen Worte 263 bespöttelt, wenn er sie in Anderer Munde wiederfindet.

Leonilla hörte nur halb auf diese peinlichen Scherze. Sie eilte den Anderen voraus. Durch die Gänge dem Thore zu. »Es wird nicht Jeder irre, der da will!« tönte das Wort des Arztes in ihr nach. Sie konnte das fast bedauern. Wär' es nicht auch eine Wohlthat, zeitweise unterzutauchen mit dem Bewußtsein und wie im Schlaf Alles, was uns quält, vergessen!

Wortlos verneigte sie sich vor dem Arzte, der ihr das Geleit bis an die Pforte gab. Aufathmend stand sie in der Abendluft stille. Sie dachte nicht daran, ihren Wagen zu besteigen. Er fuhr im Schritt hinter ihr drein. Sie dachte nicht daran, daß Fridolin Löwe neben ihr ging, der sich zu diesem Ritterdienst hier draußen fern von der Stadt, ja außerhalb der Vorstädte verpflichtet achtete.

In ihr tobten die Gedanken durcheinander, faßbare und unfaßbare, es war ein Sturm, der sie betäubte und nur zuweilen ein einzelnes Wort begreiflich an ihre Sinne schlagen ließ. Sie merkte wohl nach und nach, daß der Mann da ihr zur Seite von Orlando's künstlerischer Bedeutung im Allgemeinen und von dessen Kompositionen einiger seiner Gedichte insbesondere handelte. Aufmerksam wurde sie erst, nachdem der Abendwind ihr eine halbe Stunde lang 264 in's glühende Gesicht geblasen und sie in die Gassen der Vorstadt kamen.

Jetzt besann sie sich auf ihren Wagen, blieb stehen und überzeugte sich, daß er ihr folgte.

Es war an einer Straßenecke, die mit Anschlägen aller Art überklebt war. Auch die Theaterzettel befanden sich darunter. Fridolin Löwe benützte den Halt, diese Ankündigungen mit stolzem Blick zu überfliegen.

»Ah! Hamlet!« rief er aus. »Das könnte mich in der That heute noch in's Schauspielhaus ziehen. Nach dem leibhaftigen Wahnsinn der gespielte, nach dem empirischen der ideale! Darin läge ein Reiz, der nicht gering zu schätzen.«

»Was meinen Sie?« sagte Leonilla betroffen und sah den Redenden starr an.

Fridolin lächelte. »Ich meine, was unser Doktor vorhin meinte: es wird nicht Jeder irre, der da mag! und noch mehr: es kann sich auch nicht Jeder irre stellen, der es gern möchte, – wie zum Beispiel unsere Schauspieler möchten. Die denken, das macht sich so mit opernhaften Reminiscenzen.«

Leonilla sagte: »Hamlet selbst stellt sich doch auch verrückt.«

»Ja wohl!« rief Löwe und deklamirte:

»Das Schauspiel sei die Schlinge,
In die den König sein Gewissen bringe!« 265

»Der König glaubte an die Narrheit Hamlet's, obschon sie dieser nur heuchelte,« sprach Leonilla, für die der fabelhafte Dänenprinz ein wachsendes Interesse gewann.

Und Fridolin antwortete: »Ich glaube, daß der König und seine Höflinge vordem an Hamlet's Wahnsinn glaubten, weil dieser sich mit einer solchen Vehemenz in seine Aufgabe hineinarbeitete, daß er dabei, immer noch den Wahnsinnigen nur zu spielen glaubend, in der That ein gut Stück seines Verstandes verlor und nicht viel klüger blieb, als er scheinen wollte.«

»Das ist eine Ansicht!« sagte die Frau im Weiterschreiten.

»Es ist meine Ansicht!« versetzte der Poet. »Und meine Ansicht ist, daß der Dichter beweisen wollte, der Wahnsinn sei ein Feuer, mit dem nicht spielen dürfe, wer nicht brennen wolle. Oder aber auch, es dürfe Niemand seinen Verstand auf ein Spiel setzen, wobei der Gewinn des Einsatzes nicht verlohnt. Königlicher Ehrgeiz und geheiligte Blutrache an des Vaters Mörder sind die Triebfedern Hamlet's, und darum stirbt er, ob er auch nicht immer wie ein vernünftiger Mensch sich geberdet hat, für unser Herz doch als ein König und ein Held.«

»Wir sind keine Helden, keine Könige!« murmelte Leonilla. »Ophelia ward über einem zerrissenen Brautkranz toll.« 266

»Den das Blut ihres Vaters befleckt hatte. Die Sache war zum Tollwerden.«

»Es war ihr Lebensglück. Es ist immer dasselbe: ob es Thron und Blutschuld oder Glück und Liebe heißt. Das Glück des ganzen Lebens ist jeden Einsatzes werth.«

»Was ist das Glück!« sagte Fridolin Löwe, wie ein weiser Mann die Achseln zuckend und beschloß also stimmungsvoll diese akademische Unterhaltung.

Leonilla stand stille. Sie fühlte, daß sie nicht weiter reden durfte. Für sie hatte diese Unterredung mehr Bedeutung, als Fridolin sich in seinem kühnsten Fluge träumen ließ. Aber nun konnte der gute Herr ihr nichts weiter sagen. Sie mußte jetzt mit sich allein sein. Winkte darum dem Wagen und sprach dem diensteifrigen Begleiter höflichen Dank.

Fridolin war nicht ganz mit diesem Abenteuer zufrieden. Es riß so plötzlich ab. Gerade da er im schönsten Reden war und sich eher vermuthet hätte, daß er der Dame Lust gemacht, noch mehr von seiner artigen Weisheit zu vernehmen, hatte sie ihn ohne viel Umstände auf der Straße stehen lassen.

»Wer lernt die Weiber aus!« tröstete sich der stille Fußgänger und verwand seinen Aerger so ziemlich, bis er in die Stadt kam.

Als er jedoch sich im Schauspielhause zurecht gefunden hatte und in einem Zwischenakte die Augen 267 in den Rängen umgehen ließ, glaubte er obigen Räthsels Lösung – und eine Lösung, die seiner Eitelkeit nicht wenig schmeichelte – vor sich zu sehen.

In einer Loge saß die junge Frau von Waldenberg und, wie ihm scheinen wollte, ganz allein. Sie saß da unbeweglich wie ein Bild. Für den entzückten Betrachter wie ein Bild der Aufmerksamkeit und Weihe.

Seine Anregung hatte also doch auf die feine, feinfühlige Dame gewirkt. Wahrscheinlich so sehr, daß sie kein Wörtchen Hamlet's hatte versäumen wollen und eben darum so rasch als möglich davongefahren war.

Fridolin sah heute weniger nach der Bühne als sonst. Leonilla blieb, ohne seines Bewunderns gewahr zu werden, wie gebannt sitzen, bis des letzten Verses letzter Hauch verhallt war. 268

 


 


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