Hans Hopfen
Die Heirath des Herrn von Waldenberg
Hans Hopfen

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Zweites Buch.

I.

Es war mondlose Nacht. Am Himmel funkelten unzählige Sterne, aber sie gaben der Erde kein Licht. Selbst die Gasflammen in der Stadt schienen schlechter zu brennen. Sie leuchteten wohl über's Pflaster, aber die oberen Stockwerke der Häuser hüllten sich in undurchdringliches Dunkel.

Eine schwarze Schattenmasse stand das viereckige Theatergebäude auf dem großen Platz. Die tempelhafte Vorhalle war spärlich beleuchtet, so daß die langen Säulen halbbeglänzt wie versteinerte Gespenster in's Finstere sahen. Nur wenn von Kommenden oder Gehenden hie und da eine Thüre aufgeklappt wurde, erkannte man an der plötzlich erscheinenden Helle, daß das dunkle Haus im Innern voll Glanz sei.

Die Vorstellung hatte vor einer halben Stunde begonnen. Selten rollte noch ein verspäteter Wagen unter den säulengetragenen Portikus; die Leute, die zu Fuß in's Theater gehen, kommen in der Regel nicht so viel zu spät. 4

Nur ein Nachzügler stand noch wie ein Unschlüssiger unter der Laterne neben dem Seiteneingang und las zum zweiten Mal den Theaterzettel, der hier hinter einem Gitter angeschlagen war. Eine Anmerkung in großen Lettern wies noch besonders auf das heute stattfindende erste Auftreten einer jungen Künstlerin hin.

Der Mann vor dem Zettel trug einen langen Reitermantel, unter dessen Falten hing der Pallasch des Ulanen nach dem Pflaster herab und die Scheide blinkte im Lichte der Gasflamme.

Nachdem der Zögernde die Anmerkung des Theaterzettels zum dritten Mal gelesen hatte, stieg er gemessenen Tritts die Stufen hinan und fragte den Kassierer, ob der erste Akt der heutigen Oper schon vorüber sei.

»Der Akt spielt noch fünfzehn Minuten, Herr Baron von Waldenberg,« antwortete der Beamte mit der Uhr in der Hand und reichte dem Major die gewünschte Platzanweisung.

Nach etwa zwanzig Minuten kam der Offizier wieder aus dem Musentempel heraus. Die Säbelscheide schlug jedesmal laut auf die marmornen Treppenstufen. Er liebte sonst dieß renommistische Geräusche nicht. Heute schien er es gar nicht zu bemerken.

Er ging über den großen Platz, ohne sich auch nur einmal nach dem Opernhause umzusehen, und man konnte bald merken, daß er keine Lust hatte, dorthin zurückzukehren, obwohl die Vorstellung ihrem 5 Anfang noch weit näher als ihrem Ende war und er kaum einem Zehntel des Kunstwerks beigewohnt haben konnte.

Während der kurzen Zeit, die Waldemar vor der Schaubühne zugebracht, hatte sich der Himmel ein wenig verschleiert. Die Sterne waren nur mehr undeutlich zu sehen, auf den Gläsern der Laternen lag feuchter Beschlag, die Luft roch nebelig.

Ob der Reitersmann seinen Hals vor der Nässe schützen wollte, weil er jetzt den Kragen seines Mantels hoch aufstülpte, oder ob er nur also behaglicher mit seinen Gedanken allein zu sein vermeinte, weiß man nicht. Thatsache ist, daß er sich allerlei Gedanken machte, alte Gedanken, die ihm seit Jahr und Tag nicht mehr durch den Sinn gegangen waren, und daß ihn diese Gedanken in der Nacht spazieren führten und – er wußte selbst nicht wie – in Straßen, die er fast eben so lange nicht wieder betreten hatte.

Der Major war nun etwa anderthalb Jahre verheirathet. So lange war es auch her, daß er aus dem gemüthlichen Häuschen mit den alten grünen Läden ausgezogen war. Und einmal in anderem Quartier, hatte er auch in dieser abgelegenen Straße nichts mehr zu suchen. Die Menschen in dem Hause waren ihm in gewissem Sinne recht werth geworden als Hausgenossen. Sobald jedoch diese Genossenschaft gelöst war, hatten auch alle persönlichen Berührungen 6 mit Leuten aufgehört, die mit ihm weder durch seinen Beruf, noch durch ihre gesellschaftliche Stellung in Zusammenhang bleiben sollten.

Er hatte zwar Bolle noch ein und anderes Mal zufällig auf der Straße begegnet und im Vorübergehen nach seinem und seiner Freunde Befinden sich erkundigt. Ein paarmal hatte er im Dome sich an Orlando Hunzelsperger's gewaltig ergreifendem Orgelspiel auferbaut. Beides war nun auch schon lange her, und wenn es ihm neulich geschienen, daß ein Mann, der ihn gegrüßt, der alte Musikus gewesen, so mußte sich der sonst so behäbige Silen gewaltig im Aussehen verändert haben, denn in der Hast des Vorüberreitens hätte Waldemar ihn nicht erkannt; erst nachdem er vorüber, kam ihm die Vermuthung.

Er wußte nicht einmal gewiß, ob die braven Leute noch in dem Hause seiner Schwiegermutter wohnten.

Nicht um sich davon zu überzeugen, war er jetzt endlich wieder einmal nach der kleinen Gartenstraße gegangen. Er dachte an keinen Besuch, konnte heute weniger als je daran denken. Er war ohne jegliche Absicht, einem unklaren Antrieb unbewußt folgend, in allerhand Gedanken verloren, in die abgelegene Gasse gekommen. Just erst vor dem Schwellenstein, auf dem der stürmische Organist so manchen Rausch verschlafen, ward ihm die Mahnung, daß er ja nicht mehr hier wohne, sondern ganz wo anders. 7

Er sah sich um. Alles noch wie damals! Scheinbar noch!

Er sah empor. Der Nebel fiel dichter und nässer. Ueber den Dächern glomm ein röthlich trüber Schein, der Abglanz ferner Laternen auf sich verdichtendem Gewölk. Im oberen Stock des bescheidenen Hauses waren alle Fenster erleuchtet, bis auf zwei.

Die zwei gehörten zu Bolle's guter Stube. Die anderen viere gingen in Orlando's Wohnung. Es war nicht anders, als ob sie droben ein Fest rüsteten. Ein Fest, weßhalb?

Die Antwort, die sich Waldemar geben konnte, erregte in seiner stillen Seele ein Gefühl wie Mitleid. Es war nicht Alles, wie es sein sollte. Auch dort oben hinter jenen Fenstern nicht.

Er schüttelte das Haupt und ging vorüber.

»Ich bitte um Entschuldigung!« sagte ein junger Mann, der den Schlapphut so tief in's Gesicht gezogen hatte und, um sich vor dem fallenden Nebel zu schützen, das Haupt so tief nach vorne gebeugt hielt, daß er bei einem Haar mitten auf den Major gerannt wäre.

»Keine Ursache!« antwortete Dieser und sah dem Anderen lächelnd zu, wie er Mühe hatte, den nassen Filz, den er unvorsichtigerweise abgenommen hatte, auf den nassen Haaren wieder festzudrücken. Der Laternenschimmer zeigte ein blasses, bartloses, fast 8 knabenhaftes Gesicht. Die Hände, die das ziemlich lange, glatte braune Haar hinter die Ohren strichen, trugen keine Handschuhe. Die Nähte des Ueberrocks sahen trotz der Nässe wie rothgesäumt aus, so alt und abgetragen war das Tuch. Die schwarzen Beinkleider waren über den Stiefelhaken ausgefranst. Auch bei diesem Wetter schien es der Mann unter seiner Würde gefunden zu haben, sich zu bücken, um die allzu langen etwas hochzukrempeln.

Wie er so im Laternenglanze auf dem Schwellensteine stehend dem gelassen fortwandelnden Ulanen nachsah, rekelte er sich in die Brust und gab sich eine Stellung, gerade als ob er auf dem niederen Postamente zu einem Monument Modell stünde.

Mit dem kurzen Versuch zufrieden, verschwand er in dem Hause mit den grünen Läden, sobald ihn ein Dienstmann eingeholt hatte, der unter einem Regenschirm mit allen Zeichen liebevoller Vorsicht einen ziemlich großen Korb daherbrachte.

Nur ganz ferne hörte man einen verhallenden regelmäßigen Ton, der von einer auf dem Pflaster aufklappenden Säbelscheide herrührte. Dort ging Waldemar von Waldenberg schweren, gemessenen Schrittes nach Hause.

Auf der Treppe nahm der junge Mann dem Kommissionär seinen weißverhangenen Korb ab, lohnte ihn ab und betrat Orlando's Wohnung. 9

»Gott zum Gruße, frommer Knecht! Das ist schön von Ihnen, mein theuerster Doktor, daß Sie zur rechten Zeit, daß Sie hübsch früh erscheinen! Was haben Sie denn Alles für gute Sachen gebracht, Löwe meines Herzens? . . . Ah! Die Pastete sei willkommen! . . . Dorthin mit der Sülze! So!«

Der gute Löwe war nun, genau besehen, keiner Fakultät Doktor. Man nannte ihn nur so, weil er sich ab und zu einmal des Schreibens befleißigte und dann meist auch dafür sorgte, daß das Geschriebene irgendwo gedruckt zu lesen stünde. Schon daraus geht hervor, daß es reine Gefälligkeit von dem Manne war, wenn er jetzt mit wahrhaft königlicher Herablassung des alten Organisten blanken Tisch decken half, und daß er zu diesem in keinerlei Dienstverhältnisse stand, wie man aus der immer wiederkehrenden Anrede »frommer Knecht« vermuthen mochte. Das war nur eine scherzhafte Umschreibung seines schönen Vornamens Fridolin. Wie denn auch Orlando bei jeder Gelegenheit, da er dem Jüngling seine besondere Zufriedenheit ausdrücken wollte, ihn mit dem Citat belästigte:

»Ein frommer Knecht war Fridolin!«

Ein Jüngling war Fridolin Löwe eigentlich auch nur in des Wortes ausgedehnter Bedeutung. Die erste Stunde seines dreißigsten Jahres hatte bereits 10 geschlagen. Er sprach von sich selbst freilich immer noch als von einem »jungen Künstler«. Und sein Aussehen, das weit unter seinen Jahren blieb, schien ihm dazu ein Recht zu geben.

Jetzt, da alle Schüsseln zwischen Lichtern und Blumen auf der kleinen Tafel von fünf Gedecken angebracht waren, trat er drei Schritte hinter sich in's Zimmer zurück, brachte die flache Hand in Augenhöhe vor's Gesicht und maß mit Kennerblicken die Wirkung der Totalansicht des Tisches.

Eine neue Idee begrüßend, schlug er ein Schnippchen in der Luft und sagte: »Die Torte links ist zu isolirt, der Beleuchtungseffekt versagt und der ganze rechte Flügel versinkt dadurch in's Styllose. Geben wir ihm die nöthige Stimmung! . . . Was? So wirkt es schon besser! . . . Und nun . . . vollendet! Man sollte dieß Stillleben malen – nicht aufessen!«

Er hatte einige Kleinigkeiten mit langausgestreckten Händen ein wenig verschoben. Insbesondere die Armleuchter mehrmals verrückt. Orlando, der ihm lächelnd zuguckte, fand auch nachher keine merkliche Veränderung. Da ihm aber, was auf der Tafel stand, zum Essen mehr als zum Betrachten oder Malen vorhanden war, so fand er es nicht für nöthig, den Hülfreichen in seiner gegentheiligen Meinung durch Widerspruch zu ärgern.

Nur als Dieser neuerdings vor dem Tisch sich 11 aufpflanzte, um seine just geschaffenen kleinen Beleuchtungseffekte zu prüfen, sagte er: »Wollen Sie nicht Ihren Ueberzieher im Zimmer ablegen, Doktor? Es ist hier ziemlich warm und Sie triefen.«

Fridolin sah den Alten fast erbost über diese Zumuthung an. Er pflegte seinen Ueberzieher so selten als möglich abzulegen. Oft ganze Tage nicht. Nur der Gedanke, daß hier eine Dame erwartet wurde, hätte seine Bequemlichkeit anfechten können. Aber die Dame war ja noch nicht da. Lieber ging er noch einmal auf die nebelnasse Straße.

Ziemlich pikirt ließ er die Worte fallen: »Ich muß doch nach der Druckerei, um meine Rezension im Satz zu korrigiren.«

»Die Rezension der heutigen Vorstellung?« fragte Orlando und riß die blassen Augen weit auf.

»Selbstverständlich. Das Idealbild der heutigen Vorstellung lebt hier!« Fridolin tickte mit den Fingerspitzen auf die breite, blanke Stirne. »Das empirische Gleichniß derselben kann mich in meiner Ansicht nicht irre machen. Wie das ausfällt, ist ganz einerlei. Wie es ausfallen soll, das muß man den Leuten sagen. Und mir kommt es bei dieser Gelegenheit ja nur darauf an, dem Erfolg Ihrer Tochter die wirksame kritische Folie zu geben.«

»Verzeihen Sie,« sagte Orlando, dem das Stehen sauer wurde, »ich bin ein abergläubischer Alter. Mir 12 macht diese moderne Weise, über Kunstleistungen zu urtheilen, ohne was davon zu hören oder zu sehen, nur bang. Wenn's dann anders kommt . . . Ich bin in solcher Aufregung!«

Der Organist stockte und wischte sich mit zitternder Hand etwas aus den Augen.

Der kleine Fridolin trat zu ihm, legte ihm mit mäzenatischer Geberde eine begütigende Hand auf die Schulter und sprach: »Glauben Sie mir, man kann wichtigere Dinge als den ersten Erfolg einer begabten jungen Sängerin aus der nothwendigen Verkettung der Umstände prophezeien. Und diesen Effekt konnte man noch dazu vorbereiten.«

Fridolin Löwe liebte keine andere Thätigkeit so leidenschaftlich als das Protegiren. Er protegirte in Einem fort und Jeden, dem er's nur einigermaßen anthun konnte. Nicht so fast aus Menschenliebe, sondern um sich und Anderen so viel als möglich seine Macht, seinen Einfluß, die Tragkraft seiner Worte zu beweisen.

Ach Gott, seine Macht war ein Nichts, sein Einfluß an Gewicht und Wirkung eine Seifenblase, seine kurzathmigen Theaternotizen verloren sich in einem schlecht redigirten Blatte vierter Klasse, dessen Vorstadtpublikum für die mühsam gesetzten Beleuchtungseffekte seines Styls nicht das geringste Verständniß hatte, und doch war Fridolin Löwe ein glücklicher Mensch. 13 Nach seiner Weltanschauung und Lebensauffassung hätte er dieß Geständniß, daß er ein Glücklicher sei, zwar niemals über die Lippen gebracht. Nach seiner Meinung war er ein finsterer Ascet, ein Märtyrer des Gedankens der Beleuchtungseffekte in der Literatur, ein Opfer unerhörter Familien-, Partei- und Cliquenkombinationen, ein unheilbarer Weltschmerzler, ein fanatischer Pessimist und noch Anderes dergleichen mehr. Thut nichts! Er hätte doch bei keinem Tausch gewonnen. Einer der ärmsten Schlucker dieser Erde, war ihm eine Gönnermiene angewachsen, als hätte er Kronen und Kränze zu verschenken und erschiene ihm jede Nacht im Traume der liebe Herrgott, um mit schüchterner Kollegialität die Frage an ihn zu richten: »Wie nun, weiser Meister Löwe, wie machen wir's, daß wir diese von mir so kläglich verpfuschte Welt noch um vierundzwanzig Stunden weiterfretten?«

Da die wenigen Menschen, welche seines Umgangs pflagen, bald ungemein an Größe gewannen – eine Größe freilich, die, sobald sie es nicht mehr mit ihm aushielten, über Nacht auf Zwergenmaß zusammenschmelzen konnte –, so ließ er sich nicht bitten, von seinem Freunde, dem großen Orlando, zu reden, ihn auch gelegentlich als »mein Freund, der wahrhaft große Komponist . . . der einzige noch lebende Organist«, oder »der letzte Rest unserer klassischen Musikperiode, 14 der mir auch ein Freund geworden«, im Blatte zu drucken. »Die Keller von Pistoja« waren ein Werk, welches aus aufgezwungener Vergessenheit zu entreißen Ehrensache der Nation sei, eine Ehrensache, die der bekannte Fridolin Löwe nunmehr zur seinigen gemacht habe, wodurch ihr endlicher Erfolg verbürgt sei. Orlando's Tochter war »ein aufgehender Stern erster Größe«.

Dem alten, müden, verblaßten Manne that es wohl, wenn man seiner Bettina, die ohne Begeisterung und mehr aus Trotz und äußerer Nöthigung als aus innerem Drang den Weg zur Bühne betreten hatte, durch so volles Lob ihren Beruf erfreulicher machte. Jenun, er selber wurde auch nicht böse, wenn ihn ein talentvoller Mensch, wie dieser Löwe, etwas wie wohlverdienten Nachruhm im Voraus kosten ließ. Er verwahrte sich zwar allen Ernstes, wenn man ihn in seinem Beisein und in einem Athem mit den ewigen Tonsetzern einen großen Musiker hieß; aber so ganz umsonst, meinte er, hätte er doch auch nicht gelebt und geschaffen, und die Uebertreibung war eine von denen, um welche man einem wohlmeinenden, noch so jungen und begeisterungsfähigen Manne nicht gram wird.

»Wenn ich einst sterbe, ist doch Einer da, der dem undankbaren Publikum sagen wird, was es an mir besessen und verloren hat!« dachte Hunzelsperger. Dabei 15 störte ihn zwar das Bewußtsein, daß der hülfreiche Löwe die verminderte Septime nicht vom Dreiklang zu unterscheiden vermochte; jedoch er hatte keine Wahl unter den Schriftgelehrten und er dachte so viel an's Sterben.

Ja, der lebensdurstige, übermüthige, sorglose Orlando hatte sich sehr verändert. Seit dem bösen Sturz unter die Räder vor einunddreiviertel Jahren und dessen Folgen, die ihn so lang an's Bett gefesselt hatten, war eine böse Angst über ihn gekommen, die, was er berührte und beschloß, mit ihren Sorgen begleitete. Nur mehr zitternd streckte er die Hände aus, und wenn er über eine Straße gehen mußte, da sah er sich wohl zehn- bis zwölfmal nach allen Seiten um, ob kein Wagen, kein Roß in Sicht, ob das Gedränge nicht zu dicht und das Pflaster nicht zu schlüpfrig wäre. So zuwider ihm der Gedanke war, es fiel ihm doch zwanzigmal des Tages ein, wie gebrechlich das menschliche Leben und von wie zahllosen Gefahren es umlagert sei. Aber so viel er an den Tod denken mußte, er befreundete sich doch nicht mit dem Gedanken.

Seine liebe Noth hatte er mit den Speisen. Wer wußte auch, was Alles einem geschlagenen Manne schaden konnte. Und das Trinken, das Weintrinken – er hätt' es vordem selber nicht für möglich gehalten – das hatte er sich ganz und gar abgewöhnt. 16 Es war ein Gewaltstreich gewesen. Und er litt darunter. Ja, alle seine Leiden in Körper und Gemüth waren vielleicht nur Folgen dieser aufgezwungenen Entsagung. Aber er hatte seinen harten Künstlerkopf darauf gesetzt und er wollte nicht wieder so jämmerlich unter den Rädern und dann so hülflos im Siechbette liegen. So oft ihm diese Vorstellung kam, zuckte er zusammen von Kopf bis zu Fuß.

Er erlaubte sich nur mehr ein dünnes Weißbier, das geringen Alkoholgehalt und schwachen Trost in sich hatte.

Eine gewisse gutmüthige Fröhlichkeit war ihm bei alledem treu geblieben. Nur daß sie oft einen kindischen Anstrich hatte, der meist lachen, aber manchmal auch ungeduldig machte. Seiner Gebrechen bewußt, that der liebenswürdige Mensch noch immer, was er konnte, sich verzeihlich und unterhaltend erscheinen zu lassen. Wenn es ihm nicht immer gelang, böser Wille war nicht daran schuld.

So gab er sich auch jetzt, wie sehr ihn auch Angst und Ungeduld um das Schicksal seiner Tochter und seine eigene Zukunft quälten, Mühe, um dem eingebildeten Fridolin die Stunde des Wartens angenehm zu machen.

»Haben Sie wieder was schönes Neues unter der Feder?« fragte der Musiker.

Löwe sah mit verwundertem Augenaufschlag gegen 17 die Zimmerdecke, zuckte geringschätzig die Achseln und sprach: »Ich werde den Teufel thun und immerfort Perlen vor die Schweine werfen! Möge das liebe Publikum sich doch erst einmal an's Vorhandene halten und das, was ich bereits geschaffen, würdigen lernen. Vielleicht kehrt dann auch wieder das Bedürfniß in die enttäuschte Brust zurück, dem undankbaren Deutschland sein Bestes hinzugeben.«

»Ja, ja, das Publikum!« Weiter antwortete der Alte nichts. Dann schwiegen Beide. Fridolin, um der deutschen Lesewelt seine Verachtung zu beweisen, Orlando, weil er, so verstimmt er gegen das Publikum sein zu dürfen glaubte, doch Jenen nicht begriff und unwillkürlich die Stöße seiner Partituren mit dem Wenigen verglich, was der Andere bislang hervorgebracht hatte. Fridolin Löwe hatte vor vier Jahren eine kindliche, artige Geschichte von etwa hundert kleinen Seiten in die Sturmflut des deutschen Buchhandels geworfen. Das Ding war zwar einer bekannten älteren Erzählung im Gang der Handlung und in der Charakterisirung der Personen ziemlich getreu nachempfunden; dennoch zeigte es anschauliche Darstellung und ein dichterisches Gemüth, das Lob verdiente und auch Lob empfing. Auf Originalität der Erfindung und lebendigen Fluß der Erzählung that sich Löwe nichts zu gut; er vereinfachte sein Verdienst unendlich, um es dadurch unendlich zu vergrößern. Sein Vorzug 18 vor allen anderen lebendigen und begrabenen Novellisten war »die Stimmung«. Davon hing Alles ab. Diese machte den Menschen zum Dichter. Und sein Mittel, Stimmung hervorzuzaubern, war eben etwas ganz unfaßbar Eigenthümliches. »Ich möchte es Beleuchtungseffekte nennen,« pflegte er zu sagen, so oft er nothgedrungen über sich selbst Aufschluß gab. Eine Noth, die oft des Tages vierundzwanzig Stunden lang nicht von ihm weichen wollte. Denn er sprach es mit gutem Gewissen aus, daß seit Goethe's »Werther« – das Spätere, was der alte Wolfgang zu erzählen unternommen, taugte ja auch nicht viel – daß seit jenem »Werther« nichts in deutscher Sprache geschrieben worden sei, womit seine goldbeschnittene Kleinigkeit nicht den Vergleich aushalten könnte. »Und wenn man bedenkt! Wenn man von dem lieben ›Werther‹ einmal abzöge, was Alles ohne die unfreiwilligen Mitarbeiter: Jerusalem, Kästner, Buff und Ossian eben nicht da wäre – Jenun, seien wir immerhin froh, das Büchlein zu besitzen! . . . Aber was die Beleuchtungseffekte betrifft, die sind eben etwas bisher in aller Literatur nicht Dagewesenes. Goethe mußte den Nachgeborenen doch auch etwas Bedeutendes zu leisten übrig lassen!«

Wie immer nun das Verhältniß Goethe's zu Fridolin Löwe sein mochte, die zünftige Kritik hatte sich zu diesem Erstlingsprodukt des jüngeren Genies 19 recht freundlich und aufmunternd verhalten. Aber was wollte diese aufmunternde Freundlichkeit bedeuten, wo ein Werk hätte Epoche machen sollen! Die deutsche Kritik hat eine angeborene Nachsicht für Faulenzer, denen sie anmerkt, daß ihr Talent nicht ausreicht, sie oft zu belästigen. Aber Fridolin hatte nicht Nachsicht, er hatte Bewunderung erwartet.

Und weil diese nicht im vollen Maße eingetroffen war und weil ihm außerdem nicht viel Gescheidtes einfiel, und weil er endlich das Faulenzen (besonders wenn es der richtigen Beleuchtungseffekte nicht entbehrte) über Alles liebte, so zog er sich schmollend in sich selbst zurück, schrieb kleine gelegentliche Notizen für Zeitungen, gerade nur so viel, um bei einer bis über's Cynische vereinfachten Lebensweise nicht verhungern zu müssen, und verbrachte seinen Tag und die größere Hälfte der Nacht damit, in einem vielbesuchten Kaffeehause über die Kritik, die Literatur und die Kunst seiner Zeitgenossen im Allgemeinen zu schimpfen und einige wenige in den Tiefen des Zigeunerthums verlorene Streber – kleine Schauspielerinnen, kleine Musikanten, Clowns, Prestidigitateure, Schachkünstler, Chansonettensänger, Pudelabrichter, Gaukler, und Solche, die es werden wollten, – mit Rath und That zu unterstützen.

Höher hinauf verlor er sich selten, denn was schon einen Namen hatte, war ihm bereits »zu 20 anmaßend«, und er liebte nicht, daß Einer in seiner Gegenwart sich in dem versuchte, was er selber besser verstand als alle Anderen.

Bettina hatte er in der Kirche singen hören und sich ihr gleich auf dem Chor vorstellen lassen. Des andern Morgens konnte er bereits dem Vater Hunzelsperger ein noch nasses Zeitungsblatt unter Kreuzband senden, darin seine Tochter, zum ersten Mal mit vollem Namen genannt, als »ein aufgehender Stern erster Größe« gepriesen wurde, der, »erst einmal über der Bühne sein Feuer verspendend, manche ausgebrannte Sonne überstrahlen werde«.

Es war dem zärtlichen Vater nicht zu verargen, wenn es ihm das Herz rührte, sich in solcher Weise verherrlicht zu lesen, nachdem er sich längst in seiner traurigen Vergessenheit wohnlich eingerichtet hatte. Zudem gehörte er zu jenen leichtbewegten Künstlernaturen, deren Urtheilskraft wollüstig außer Kampf gesetzt wird, sobald sie ihren oder ihres Kindes Namen in einem Zeitungsblatt gedruckt lesen.

In der That hatte Löwe's kritische Notiz den ersten Anstoß zu den Unterhandlungen gegeben, welche schließlich zu einem Auftreten der Tochter und Schülerin des alten Meisters im Hofopernhause führten. Da hier ein einleuchtender Beweis vom Einfluß seiner Feder in Aller Augen sprang, so vergalt er diesen Erfolg seinem Schützling mit verdreifachter Sorgfalt. 21 Er wiederholte den Namen der Sängerin, die Niemand kannte, so oft, daß er anderen Reportern geläufig wurde. Wenn ihnen kein passenderer zur Hand lag, machten endlich auch diese davon Gebrauch, meist um Andere damit zu ärgern; so geschah es, daß Bettina sich eines gewissen kleinen Rufes erfreute, ehe sie noch die Bretter betreten hatte, und daß man diesem ersten Auftreten auf einer Seite mit einer gewissen Neugier, auf der anderen mit einer gewissen Bosheit entgegensah, wie sie Erstlingsversuche nicht zu empfangen pflegen.

Dieß Verhältniß fiel jetzt dem alten, ängstlichen Orlando mit jeder Minute schwerer auf's Herz.

»Ja, ja, das Publikum!« Mit diesem Wort, womit sie vor einer Viertelstunde ihr gegenseitiges Schweigen angetreten hatten, glaubte der Alte die abgerissene Konversation am schicklichsten wieder anzuknüpfen, wie auch seine drückende Sorge am deutlichsten zu machen. »Wenn das vielköpfige Ungeheuer nur sich gut verhält und mein armes Mädel nicht verschüchtert, nicht mißhandelt. Sie sagen ja selbst, und ich hab' es noch peinlicher empfinden müssen als Sie, junger Freund: der deutsche Kunstphilister ist oft so ungerecht. Ich zittere und bebe, bis die Vorstellung vorüber ist. Sie dünkt mich endlos.«

»Aber wunderlichster aller Greise, wie haben Sie's nur dann über sich gewonnen, gerade heute 22 aus dem Theater wegzubleiben? Ihr Posten, Opernvater in des Wortes doppelter Bedeutung, Ihr Posten war heute hinter den Coulissen!«

»Frommer Knecht, das verstehen Sie nicht. Hab' ich Ihnen nicht schon oft gesagt, daß ich abergläubisch bin wie nur irgend ein Künstler?«

Fridolin zuckte über solche »Mätzchen der alten Schule« die Achseln, während Jener fortfuhr:

»Ich habe im Opernhause immer Unglück gehabt, nur Unglück. Unglück mit meiner Kantate, Unglück mit meiner Oper, Unglück mit meiner Chordirektion – ich weiß gewiß, ich hätte meiner Tochter auch nur Unglück gebracht. Und dann ist noch ein Anderes dabei. Als sie mir damals, wie die neue Richtung auf den Thron unserer Oper stieg, damals, als ich den Schlag am schlechtesten verwinden konnte, den Stuhl so unsanft vor die Thüre setzten, da legt' ich einen Schwur auf meine Ehre, das Haus, in dem ich dreißig Jahre treulich meine Pflicht gethan und das mich nun ohne Grund verstieß, nie wieder im Leben zu betreten.

»Es ist immer sündhaft, etwas also zu verschwören. Es straft sich auch gerechter Zorn. Heute büß' ich meine Vermessenheit ab. Oder glauben Sie nicht, daß ich unsagbar leide, ich alter Musikant, der ich in diesen Stunden nicht so nah als menschenmöglich bei meiner Bettina sein darf? . . . O du mein Gott, wenn nur Alles gut geht!« 23

Fridolin Löwe prustete nur so und schüttelte in höchster Zuversicht seine Mähne. Jemand, den er protegirt, wird nicht Erfolg haben! Lächerlich!

Orlando war derweilen in seiner Ungeduld an's Fenster getreten. Bald öffnete er es mit tastenden Händen und sah hinaus in die Nebelnacht.

Die paar Härchen, die ihm geblieben und die er lang wachsen ließ, zitterten wie Silberfäden unter dem einströmenden Nachtwinde. Auch die Lichter über der stimmungsvollen Tafel kamen in's Zittern.

»Schließen Sie, schließen Sie!« rief Fridolin, dem dieser Beleuchtungseffekt nicht zu seiner Stimmung paßte.

»Ein Wagen! ein Wagen!« antwortete der Alte in kindischer Freude, und er machte dann mit seinen Lippen das Geräusch nach: »Sumsumsumsum!« während er wie ein Kind die Hände drehte, um das Rollen der Räder anzudeuten. »Ja, ein Wagen und er hält vor dem Hause! Sehen meine alten Augen richtig im Nebel, so ist es das Coupé unseres lieben Gastgebers. Gott sei Dank! die Teufelsvorstellung ist zu Ende. Hören Sie? Es klingelt! Gott sei Dank!«

Damit sank er erschöpft in den nächsten Stuhl. Nur mit den Augen wagte er's, an die dichterische Größe die Bitte zu richten, sie möge statt seiner öffnen gehen. Ihn hätten jetzt die Füße nicht bis auf den Flur getragen. 24

Der Protektor ging. Er nickte gelassen, da es unterwegs zum zweiten Mal schellte.

Orlando horchte lächelnd, wie der Wagen nunmehr davonrollte. Dann hob er den Kopf höher nach der anderen Seite. Er schien noch blässer. Warum zögerte der treue Knecht so lange vor der Thüre?

Und nun kam dieser gar allein zurück, nur mit einer Karte in der Hand, die von den unsterblichen Fingern höchst unwillig in ein Röllchen gedreht wurde.

»Allein?!« rief Hunzelsperger, der sichtliche Mühe hatte, eines zweiten Wortes mächtig zu werden. »Aber – was ist denn?«

»Nichts weiter, als daß Herr Naphtali Hertz ein Spielverderber,« antwortete Fridolin.

»Er kommt nicht?!« rief Orlando und viele Thränen zitterten schon in seiner Stimme.

»Nein!« sagte der Andere barsch und da floßen sie auch schon, des alten Mannes Thränen, reichlich und bitterlich. Es machte sein Haupt nicken, es machte seine Augenlider beben, es klappte seine Zähne auf und zu, wie er weinte. Er hatte Naphtali Hertz sehr lieb und dieser ihn auch, und wenn dieser nicht kam, so wußte Jener, was es zu bedeuten hatte; er brauchte nicht um den Inhalt der Karte fragen, die Fridolin noch immer zwischen den Fingern drückte und dabei so erhaben zornig in der Stube hin und 25 wider schritt, wie ein bestohlener Geheimerath. Für den Alten hatte er keinen Blick, er empfand die Post, die ihm ein Bedienter eingehändigt, nur als eine persönliche Beleidigung.

»Lieber Löwy!« hatte Naphtali auf seine Visitenkarte mit Bleistift in stenographischen Zeichen geschrieben. Er hatte seinen besonderen Spaß dabei, den Löwen der deutschen Literatur immer »Löwy« anzureden. »Sie haben sich und uns wieder einmal schauderhaft blamirt. Bettina, die wir mit Stolz die Unsere nannten, ist heute in aller Form Rechtens durchgefallen. Die Mär Ihrer dramatischen Laufbahn hat bereits hier ein Ende. Wenn ich, wie Sie, ein Lyriker, also ein zu Uebertreibungen neigendes Gemüth wäre, könnte ich von einem ›Ende mit Schrecken‹ reden. Trotzdem war der Gesang ehrenwerth. Mais tout le reste! . . . Wer frägt auch heutzutage noch nach methodischem Gesang! ›Dramatischen Gesang‹ will man. Und hol' euch Narren alle der Teufel! Bolle, den Gott im Zorne zu einem lyrischen Tenor und ihr in eurer Dummheit zu einem Lehrer der szenischen Leidenschaft und mimischen Kunst gemacht habt, Bolle hat dem armen Kinde nicht nur seinen Part einstudirt, er muß auch sein Angesicht geschminkt haben. Das süße Frätzchen war gar nicht wiederzuerkennen. Ich kann dem Kerl das nicht verzeihen. Ich kann nicht mit ihm essen, ohne an ihm zum Mörder zu werden. 26 Und dieß zu versuchen, widerräth mir seine martialische Leibesbeschaffenheit. Also werdet ohne mich satt und, wenn ihr könnt, vergnügt. Ich fühle mich außer Stande, dieß Wunder zu wirken. Greifen Sie in die Saiten. Das bringt gewiß auch die Unglücklichen zum Lachen. Weit davon, ist gut vorm Schuß. Ich gehe in meinen Klub. Ich werde mich dort auch langweilen. Aber ich ziehe es vor, bei dieser allgegenwärtigen Empfindung lieber mein Geld zu verlieren, als eure Thränen fließen zu sehen.

»Mich Ihrer Unsterblichkeit empfehlend und euch Alle bedauernd

N. H.«

Im nächsten Momente wollte Fridolin die Nothwendigkeit einleuchten, daß er nach der Druckerei eile, um das Idealbild einer Opernvorstellung ein wenig der grausamen Wirklichkeit entsprechend zu retouchiren. Er blieb aber gleich vor seinem eigenen Gedanken trotzig stehen. Solche Schwäche konnte ihn wohl anwandeln, doch nur im Vorüberflug. Mögen sie's nur lesen, wie's geschrieben war. Kann man einen vollkräftigen Posaunenstoß hinterher verbessern? Kann man ihn in die Tuba zurückzwingen? Oder sollte er widerrufen, was er geschrieben? Niemals! Er hatte sich's rasch zurecht gelegt. Morgen werde er das Publikum wieder einmal beschämen; übermorgen es auf die feine Ironie in seiner Kritik mit der Nase draufstoßen. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. 27

Ueber diesem Schlachtplane ward die Thüre aufgestoßen und Bolle brachte Bettinen in's Zimmer. Sie war fest verschleiert, als schämte sie sich, ihr Antlitz zu zeigen. Und also ging sie auf ihren Vater zu und kniete sich vor dem Sitzenden an die Erde und weinte auf seine Hände.

»Kommen Sie, Doktor, ich will Ihnen eine Geschichte erzählen!« sagte Bolle, seinen Arm unter den des Literaten schiebend, und Fridolin hätte aus härterem Holz geschnitzt sein müssen, wenn er diesem Händedruck etwas Anderes als wohlgeneigte Uebereinstimmung entgegenzubringen gehabt hätte.

»Wir sind gleich wieder da, dann wollen wir unsern Aerger im gemeinsamen Mahl hinunterschlucken!« rief der Tenor in's Zimmer zurück, während er Fridolin abführte.

Vater und Tochter waren allein.

Orlando wand der Weinenden den Schleier vom Haupt. Er schien ganz gefaßt, nahm das Gesicht, auf dem noch einige Spuren der hastig abgewischten Schminke zu sehen waren, in seine Hände, küßte es auf die Stirne und sprach: »Sei ruhig, Herzchen! Aller Anfang ist schwer. Sie hatten Dir's mit dem vielen Lob noch schwerer und sie hatten Dir Feinde gemacht. Nimm's nicht zu heiß. Ich habe so viel Angst um Dich ausgestanden, daß mir auch so schon wohler, nun's für das erste Mal vorüber ist.« 28

Bettina hob die in einander gepreßten Hände vor's Kinn und lispelte, zum ersten Mal die Augen zu ihrem Vater erhebend: »Vorüber für immer!«

»Ach, ach, was nicht gar! Wie Manche hat unter Thränen begonnen, die nachher –« Er stockte; über dem Anschauen der großen Augen ließ ihn Rührung seine eigenen Worte vergessen.

»Nie wieder!« hörte er sein Kind sagen, feierlich, als wär's ein Eid.

»Man soll nichts verschwören!« sprach Orlando, »man soll nicht! 's ist sündhaft!« Dann sah er geradeaus in die Stube. Die Nothwendigkeit, welche Bettinen, ohnehin wider Willen, zu dem Entschluß gebracht, auf der Bühne zu singen, schwebte wieder ihm vor. Ziffern und Zahlen. Orlando war kein Rechenmeister. Aber Noth lehrt nicht nur beten, auch rechnen. Die lange Krankheit hatte seine Ersparnisse, die Bolle so gut aufgehoben, sämmtlich aufgezehrt. Ein paar unbezahlte Posten mahnten zuweilen. Die Pension als ehemaliger Chorregent war eine von den altmodischen, unbedeutendsten. Der Gehalt als Organist reichte wohl noch so hin; aber bei seiner täglich augenfälliger werdenden Körperschwäche, bei der zeitweiligen Müdigkeit seines Geistes und bei der daraus folgenden Aengstlichkeit auch in künstlerischen Dingen konnt' es nicht lange mehr dauern und sie setzten ihn auch hier auf kargen Ruhegehalt. Es lauerten ihrer gar 29 zu Viele schon auf die Domorganistenstelle und waren ihrer gar Vorlaute und Gewaltige darunter, die dicke Bücher geschrieben und die neue Zeit für sich gepachtet hatten. Was sollte dann werden? Und wenn er gar so wegstürbe, was dann?

Bettina wußte wohl, was für Gedanken sich auf des Vaters arme Seele legten. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, rückte sich näher und höher an ihn hinan und gab auf den schweigenden Vorwurf Antwort. »Sorge Dich nicht um uns!« sagte sie mit dem Ausdruck einer Zuversicht, an die sie nur der Abscheu vor dem mit so viel Mißgeschick ergriffenen Bühnenhandwerk glauben ließ: »Ich werde Stunden geben!«

»Im Gesang?« fragte Hunzelsperger, und es klang grausamer, als er's meinte. »Das könntest Du wohl, Bettina, und besser als Alle, die sich heute in Schadenfreude wohl befinden. Ja, das könntest Du wohl. Aber wer nimmt morgen bei Dir Gesangsstunde, nachdem Du heute als Sängerin –«

Er sprach das garstige Wort nicht aus und Bettina beeilte sich selber mit dem Einwurf: »Auf dem Flügel und dem Harmonium steh' ich eine gute Lehrerin.«

»Wohl, wohl! Aber auch dazu gehört Glück und wir haben kein Glück. Und dann ist's für ein Mädchen, so jung wie Du, ein trauriges Loos. 30 Ich sehe kein Ende. Ich sehe kein Heil. Ich dächte doch –«

Er wagte nicht zu sagen, was er dachte. Bettina schmeichelte ihm die Wangen, als bäte sie, ihr nicht noch einmal die Schaubühne vorzuschlagen. Sie zwang sich zum Lächeln, indem sie sagte: »Sorge Dich nicht. Ich habe Muth und Ausdauer und Laune. Es wird schon gelingen!«

»Ich habe dießmal auch geglaubt, es wird gelingen! Hatte gutes Recht zum guten Glauben. Du singst wie ein Engel. Und es gelang doch nicht!« lispelte Orlando vor sich hin, als spräch' er mehr zu einem dritten Wesen, nicht zu der Tochter an seiner Seite.

Dann starrte er wieder stumm in's Leere. Vor seinen Augen wuchsen noch einmal all' die Hoffnungen und Träume schwindelnd über einander, welche das auch im Alter leicht bewegliche Künstlerblut auf die Theaterlaufbahn seiner Tochter gebaut. Köstliche Lerchentriller stiegen jubelnd gen Himmel und aus allen vier Windrichtungen rauschte es wie aus Füllhörnern hernieder: Blumen, Kränze, Verse, Geschmeide, Geld aller Sorten und Nationen und wieder Lorbeeren und kein Ende! Und dann mit einem Male stürzte Alles jählings, wie vom Fluch und Blitz geschlagen, zusammen. Es war nichts gewesen. In der Finsterniß frierend, arm und krank, hielt ein hoffnungsloser Greis ein hoffnungsloses Kind. 31

Und wie mocht' es erst in ihrem Inneren sein, die schweigend allen Hohn und Gram hatte dulden müssen und nun vor ihm saß, um ihn zu trösten!

Es schwoll ihm zum Herzen, es quoll ihm zu den Augen. Unsagbares Mitleid füllte ganz ihn aus. Er öffnete die Arme weit und preßte Bettinen an seine Brust und rief mit gebrochener Stimme: »O Du mein armes Kind! Bettina, Du mein liebes, armes Kind!«

Das that ihr wohl. Sich von dem einen Menschen, sich von dem Vater, den sie verehrte, so recht geliebt zu wissen, ach, es war doch ein Trost, ein unsagbar großer Trost. Nur ach, gerade dem Vater gegenüber fühlte sie sich schuldig und strafbar. Mehr noch als ihr eigener Gram ging ihr das Leid zu Herzen, was ihm durch ihr Mißgeschick widerfuhr. Daß sie mit Gesang und Spiel den Leuten nicht gefallen? Jenun, dafür mußte sich Trost finden. Schon regte sich das trotzige Bewußtsein frischer Widerstandskraft in dem Herzen der Jungfrau. Aber daß es Orlando's Tochter war, die mißfallen, seine Tochter und seine Schülerin, die seines Namens sich berühmte – das drückte ihr das Herz wund und es war ihr die Selbstanklage Bedürfniß, wie dem gläubigen Sünder die Beichte. Sie mußte es laut aussprechen:

»Ach Vater, hätt' ich nur Deinem Namen keine Schande gemacht! . . . Nun komm' ich mir vor wie 32 eine Verbrecherin! Wenn sie nun über mich schelten, werden sie sagen: ›Das war des alten Meisters Tochter? Mit einem solchen Fiasko hat der gute Ruhm geendet! . . .‹ Ach Gott! Warum ist durch mich Dein Künstlerruhm beschimpft!«

Wenn Bettina geglaubt, dieß reumüthige Geständniß werde ihr Verzeihung bringen, so hatte sie sich geirrt. Ihrer reinen Seele lag wohl jede Absichtlichkeit fern. Sie sagte nur aus, was in ihr tobte. Aber während des Sprechens hatte sie wie Erleichterung die Hoffnung angerührt, des Vaters Wort werde auch diesen Kummer großmüthig von ihrer Seele nehmen.

Orlando sprach das Wort der Absolution nicht. Es hatte ihn bei den letzten Reden seines Kindes mitten im wärmsten Mitgefühl so erkältend angeweht, daß alle Thränen in seinen Augen wie in seinem Herzen auf einmal getrocknet waren. Er tadelte sich selbst, aber er konnte nicht anders, er drängte sanft das Mädchen von sich ab, als ging eine gefährliche Ansteckung von ihr aus, als fröstelte sie ihn an bis auf's Mark der alten Knochen, als wäre sie plötzlich zu einem fremdartigen Ding verwandelt, daran er keinen Antheil hatte. Er, der Künstler!

Orlando Hunzelsperger war der Narr nicht, sich für einen hochberühmten Mann zu halten. Hätte er das gethan, das kleine Mißgeschick eines Kindes, das 33 seinen Namen trug, hätte ihn nicht anfechten können. Gerade weil er wußte, daß sein Ruf nur ein bischen und dieß schon im Verblassen war, gerade deßhalb traf ihn die unvorsichtige Selbstanklage seines Kindes mitten in's Herz.

Er wußte, die Welt ist ungerecht und schadenfroh; sie liebt es, die Unschuldigen leiden zu lassen. Daß sein eigener Egoismus jetzt eine Unschuldige leiden machte, fiel ihm nicht ein, wenn er seine Empfindung in die Vorstellung kleidete, wie grausam es sei, daß gerade dieß Kind, das ihm als letzter Rest eines traurig verrauschten Glückes geblieben war, daß gerade Bettina, auf die er alles ihm noch übrige Gefühl, seine beste Lehre, seine heiligsten Hoffnungen gegründet hatte, daß gerade sie ihm das letzte Gut, was er noch hatte, zerstörte, sein bischen Ruhm in Schimpf verkehrte und ihm dadurch den Gnadenstoß versetzte.

Sie war nicht schuld daran? Was konnte sie denn entschuldigen? Nur Mangel an Talent, den er in seiner Affenliebe übersehen . . . Jenun, gab es für sein Künstlervorurtheil ein größeres Verschulden, als kein Talent zu haben! . . . Seine Tochter, Orlando's einzige Tochter, kein Talent! . . . Wäre sein Sohn am Leben geblieben, der »unmögliche« Name Hunzelsperger strahlte jetzt auf dem Gipfel der Kunst. Ach, sein 34 süßes, verkrüppeltes, hochbegabtes Kind, warum war gerade dieß gestorben!

Er mußte vom Lehnstuhl sich rasch erheben; er wollte seiner Tochter die Thräne, die ihm jetzt in's Auge trat, nicht zeigen. Er kehrte sich ab und stellte sich an's Fenster.

Bettina sah die Thräne wohl in Vaters Auge. Sie fühlte wohl, daß nicht die Rührung über ihr gleichgültiges Geschick sie ihm erpreßte; aber sie ahnte auch nicht, daß sie seinem anderen Kinde galt, daß sie ein längst geschehenes Unglück betrauerte, ein Unglück, das ungeschehen zu machen der eitle Vater ihr Leben, und in dieser Sekunde leichter als je, darangegeben hätte.

Sie kniete noch immer vor dem leeren Stuhl. Orlando hatte deß nicht Acht. Seine Gedanken waren nicht mehr in dieser Stube. Er dachte an des todten Knaben todte Mutter. Hatte je sich ein Vorwurf gegen diese verlaufene Fürstin in ihm erhoben, jetzt waren sie alle wieder laut, alle die gerechten, und die ungerechten noch vorlauter als jene. Hätte er den Knaben nur behalten, wär' Alles noch gut!

Bettina dachte ihre Gedanken zu Ende. Am Ende fand sie die Strafe schweigender Verachtung zu hart für ihr Verschulden. Auch in diesem Bewußtsein war Trost. Und doch seufzte sie laut auf.

Der alte Musikus horchte; er hörte, daß es Bettina 35 war, die seufzte. Aber war denn Bettina seine Tochter? . . . Seines Fleisches und Blutes ja wohl ein Theilchen. Aber seines Geistes, seines Genius Tochter nicht. Ihre Thränen waren die rechten nicht. Nur das Talent durfte sagen: j'ai tant pleuré! Wenn sie weinte, geschah's um die Schande seines Namens. Mochte sie denn nur weinen! . . . Er wandte sich nicht um.

Bettina fühlte, daß Niemand in der Welt, auch der Vater sie nicht aufrichten würde; so wollte sie's selber thun. Sie sollte doch nicht hier auf der Diele verkommen! Sie fuhr sich mit dem Rücken der Hand über die nassen Augen und stand auf.

War sie zur Bühnenkünstlerin zu unbegabt, jenun, so wollte sie in Gottes Namen wieder Hansmütterchen sein.

Instinktiv trat sie an den Tisch, um das Abendbrod zu ordnen. Da erst fiel ihr die brechende, strahlende Tafel auf. Sie erinnerte sich jetzt wohl, daß ein Freund des Vaters – ein Mann, zu dem sie nie ein rechtes Herz hatte fassen können – es sich ausgebeten hatte, ihr erstes Auftreten mit einem kleinen Festmahl zu feiern. Das Mahl war da! Wo war Naphtali, der Freund? Wo sie heute wohl Alle waren – auf der Bank der Spötter. Ihr war das nun auch gleichgültig. Der schweigsame Mann dort am Fenster war der Einzige, dem sie 36 Unrecht gethan hatte und der nun auch ihr Unrecht thun konnte; so wog sich's auf.

Es schmerzte, ja; aber seine Kälte theilte sich ihr mit. Trotz kam über sie. Es war gut, daß die Thüre jetzt aufging, daß Bolle und Löwe eintraten, sie hätte sonst zu reden begonnen und dießmal zu ihren, nicht zu des Vaters Gunsten. War es doch seine Wahl, die ihrige nicht gewesen, die sie diesen Weg hatte gehen heißen!

»Nun, Hausmütterchen,« sagte Bolle mit der ganzen Freundlichkeit, die sein schadhafter Tenor noch zu säuseln vermochte, »wollen wir uns gemüthlich zusammensetzen und nach so vielen Strapazen Eins essen? Ja, Herr Hertz ist nicht dabei? dann bleibt er eben weg! Zum Warten ist's zu spät. Kommt, Kinder!«

Schon den Stuhl in der Hand, sah er, daß seiner sanften Aufforderung Niemand folgte. Na, dann wollt' er's schon anders versuchen. Er stellte den Sessel mit solcher Wucht auf die Diele, daß Einem dessen vier Füße leid thun konnten, und das bekannte Lächeln des Zornes auf gespitzter Lippe, rief er: »Ihr seid wohl Alle nicht recht klug? Glaubst Du, man wird mit dem ersten Mundaufreißen gefeierte Primadonna? Hast Du erwartet, daß sie Dir gleich heute die Pferde ausspannen werden? Oho! die Kunst ist lang! Und das Glück hat Launen! Tapfere Menschen 37 aber sollen Geduld und keine Launen haben! Und Du, alter Orgelkasten, was haben sie denn Dir gethan, daß Du herumstehst und schmollst mit Kind und Freunden? Setz' Dich oder ich hole Dich!«

Fridolin hatte begütigend den Greis an Hand und Schulter gerührt und lenkte ihn nun dem Tische nah. Bettina kam von selbst. Bolle saß bereits und stopfte sich den Serviettenzipfel in den Halskragen.

»Wir wollen nicht jubeln – dazu fehlt uns leider jeder Grund – aber wir wollen essen, weil wir hungrig sind. Ich versteh' euch nicht! Hängt da Alle die Köpfe grabestief! Warum? Weil ein paar Narren im Parterre über ihre eigene Dummheit lachten und es den Verständigen an Muth gebrach, den Lümmeln gegenüber ihre Meinung zu behaupten? Wahrlich, wenn ich mich über jeden Zischer und Lacher hätte empören wollen, ich hätt's nicht weit gebracht. Laßt sie doch! Und Du, Orlando, thust, als ob Dir dergleichen nie widerfahren wäre! Hast Du in den ›Kellern von Pistoja‹ Niemand lachen hören? Ich wohl!«

Bettina hob zum ersten Mal die Augen vom Teller; aber die Angst, die sich in ihren Blicken aussprach, war überflüssig. Hunzelsperger sprach mit einer Schärfe des Tons, welche die Anderen überraschte: »Bitte, es war ein schöner Erfolg!«

»Sehr schön,« sagte kauend der Tenorist, »aber nicht unbestritten. Hast Du Dich darum zu Tode 38 gegrämt? Bewahre! Ich sah Dich an jenem Abende, Du warst gar sehr getröstet!«

Hunzelsperger warf einen lichten Blick auf den Redenden und einen zweiten nach der schönbauchigen Rothweinflasche, die vor ihm stand. Unwillkürlich griff er nach ihr. Aber die Hand besann sich noch unterwegs zur rechten Zeit, und es war nur klares Wasser, was er sich in sein Glas goß.

Eduard Bolle fuhr derweilen fort: »Ein Jeder von uns, wie wir da sitzen, hat seinen ersten Schritt in die Kunstwelt den Wüthrichen zum Trotz gethan – selbst unser junger Freund, der Doktor da. – Ich lobe mir Denjenigen, der sich nicht unterkriegen läßt und auch im Mißgeschick den Kopf hoch oben behält. Nur Solche leben, und wir Alle sind Solche, wir sollen leben . . . hoch!«

Bolle hob sein Glas empor und leerte es mit geschlossenen Augen langsam, aber auf einen Zug. Orlando nahm schmerzlichen Mundes einen Schluck Wasser. Fridolin Löwe netzte nur mit einem kleinen Schluck seine Zunge, obwohl ihm diese gestand, der Wein des Spötters Naphtali sei von besonderer Güte.

Fridolin war jede Gelegenheit recht, die Nacht zum Tage zu machen, aber so lang auch eine Sitzung währen mochte, er trank nie über ein Glas Wein. Auch im Essen war er der Mäßigste. Ihn hinderte, auch wo es nicht aus seiner Tasche ging, die Furcht, 39 sich Bedürfnisse anzugewöhnen, die ihn von Anderen hätten abhängig machen müssen. Sein Selbstgefühl hätte es nicht ertragen, des Reichsten Schmarotzer zu sein. Es wäre ihm nicht schwer gefallen, sich etliche Tage der Woche an Anderer Tisch zu sättigen, aber wie war es dann mit den anderen Tagen! So zog er es vor, sich von Aepfeln, billigen Würstchen, Brod und Kaffee zu nähren, und wohl auf seine Gewohnheiten zu achten, daß er sich gegen das Regelmäßige nicht verweichliche. Manchmal reichte es nur zu Aepfeln und Kaffee . . . und wie sollt' er damit zufrieden sein, wenn er bei etlichen Gelegenheiten sich zum Schlemmer erzogen hatte! Darum, ob die Tafel brach unter Leckerbissen und Kabinetsweinen, er trank ein Glas und nicht darüber und stillte seinen Hunger mehr mit Brod als mit Fleisch, derweilen er sich immer wiederholte: »Unabhängigkeit ist der größte Genuß!«

Auch von den Anderen wurden der Tafel nur mäßige Ehren erwiesen. Bolle pflegte ja auch nur zu essen, um seinen Hunger zu stillen, und die feinsten Weine der Welt ersetzten ihm die zwei Maß Bier nicht, die seinen gewohnten Schlaftrunk bildeten. Bettina stand so bald als möglich von Tisch auf, um ab- und zugehend sich nützlich zu machen. Nur Vater Hunzelsperger aß, in seine Gedanken verloren, achtlos von Diesem und Dem, erst 40 mechanisch sich bewegend, dann mit erwachten leckeren Sinnen.

Es war wohl das Beste, was Bolle einfallen konnte, daß er ein musikalisches Gespräch auf's Tapet brachte. Obwohl er sich anfangs mürrisch gesträubt, bald gab Orlando doch sein Salz dazu. Der gute Eduard wußte ja lange, was für Töne man bei dem Alten anschlagen mußte, um ihn froh zu machen. So geschah's, daß der Vater schon lachte, während die Tochter noch alle Mühe hatte, draußen in der Küche sich die Thränen zu trocknen, die sie den Männern drinnen nicht zeigen wollte.

Freilich war's ein schlimmer Humor, der den Alten lachen machte, ein spöttischer, hämischer, der weder sich, noch Andere schonte, aber Bolle dachte, der schlimme Humor wäre besser als gar keiner und bei Tisch auch unschädlich. Darum ließ er den Alten nicht außer Athem kommen.

Fridolin fiel nicht aus der Rolle des aufmerksamen Zuhörers. Nachlässig auf seinem Stuhle hingegossen, war er vollauf damit beschäftigt, die Stimmung des Augenblicks als Totalität in sich aufzunehmen. Jedes Wort, das er hätte sprechen müssen, hätte ihn aus diesem Zauberkreise gerissen. Nur ein paar Notizen erlaubte er sich schweigend und eilig in sein Taschenbuch zu kritzeln, um einen neuen Beleuchtungseffekt 41 zu fixiren, dessen Idee ihm sonst unwiderbringlich konnte verloren gehen.

Auf einmal stockte das Gespräch. Orlando konnte mitten in einer eifrigen Rede nicht fort. Ihm fehlte ein Wort, ein Name. Er tickte mehrmals ungeduldig mit dem Mittelfinger der linken Hand auf den Tisch, als versucht' er es, auf einem Klavier eine Taste anzuschlagen, die sich hartnäckig versagte. Er sah bald den Einen, bald den Andern an, stotterte, ward roth. Bolle und Löwe kamen ihm mit Namen zu Hülfe. Sie trafen's nicht; sie wußten viel, was er sagen wollte! Wußt' er es in der Bestürzung doch kaum selber mehr. Was er für einen Mann hatte nennen wollen, das wußt' er wohl, und daß sich ihm gerade dieser Name nicht auf die Zunge legte, darüber ward er ungeduldig, unwirsch wie ein Kind. Er griff in die Luft vor Verlegenheit. Er griff aus Zufall nach einem Glase. Es war Bettinens Glas und noch ein Restchen Wein darin. Ohne daran zu denken, was er that, nur so, um sich Fassung zu geben. nahm er's an die Lippen, blähte die Nasenflügel, trank aus, öffnete die Augen weit, lächelte und sagte: »Mozart!«

Bettina war nicht im Zimmer, Bolle zu sehr in seinem musikalischen Streit vertieft. Es schien wohl nur dem schweigsamen Fridolin bedenklich, daß dem alten Musikus sich der Name, der ihm am liebsten, 42 heiligsten und geläufigsten war, so hartnäckig hatte versagen können.

Orlando belächelte sich selbst. »Ich habe heute nun einmal einen dummen Tag!« rief er und schien über seine Gedächtnißschwäche getröstet.

Bettina kam herein, um gute Nacht zu sagen. Sofort erhob sich Fridolin und empfahl sich. Die beiden Alten kannte er auswendig. Er mochte nicht länger mit ihnen allein bleiben. Er fand die Stimmung zerstört und sehnte sich in's Freie. Um so mehr, da es Zeit war, im Kaffeehause wieder einmal seine maßgebende Meinung zu sagen. Dort war noch etwas für seinen Schützling Bettina zu leisten.

Bolle meinte, daß es für Orlando zum Schlafengehen auch nicht mehr zu früh sei. Er leuchtete Fridolin die Treppe hinab und verschwand in seiner Wohnung.

Der alte Musiker war allein.

Er ging an den Tisch. die vielen, nunmehr überflüssigen Lichter auszulöschen.

Noch eh' er ihn erreichte, die Hand schon erhoben, blieb er stehen. Dieß Stückchen Glanz, das sich in Glas und blankem Silber wiederspiegelte und wie ein Tischlein deck' dich! aus märchenhaftem Land in seiner armgewordenen Stube stehen geblieben schien, that es ihm an. Er mußte sich an Fridolin erinnern. Stand er nicht auch just da, wie vorhin Jener, sich 43 des Beleuchtungseffektes zu erfreuen. Oder war's nicht so fast das Licht, das ihn magnetisch fesselte? War's das, was das Licht beleuchtete, mehr? Es schien ihm nicht so. Er meinte eine ganz wunschlose Freude im bloßen Anschauen zu genießen, wie die Strahlen den Krystall umkosten, so zärtlich, so zudringlich, so hartnäckig, als hätten sie's darauf abgesehen, ihn zu zerbrechen, sich in der rothen Flut des Weines unmittelbar zu baden, sie aufzusaugen, aufzuküssen!

Auf dem Tische stand auch weißer Wein. Und in besonderen Flaschen! Er kannte sie gut, diese kurzgestellten Bocksbeutel, obschon ihr dunkles Glas seinen Inhalt besser vor dem Lichte der zudringlichen Kerzen schützte.

Was war nur Naphtali Hertz in den Sinn gekommen, ihm solche Kobolde in's Haus zu schicken! Oder hatte der kleine Löwe so gedankenlos des Andern gedankenlosen Auftrag ausgeführt? Gleichviel, Orlando hatte kein Glück mit seinen Freunden.

Ach, womit hatte Orlando Glück?! Nicht einmal mit seinen Kindern! nicht einmal mit sich selber! nicht einmal mit seiner Kunst!

Der Gedanke löschte alle Lichter aus. Orlando wandte sich ab und preßte die alten Augen mit den faltigen Händen und seufzte laut auf aus tiefstem Herzensgrund.

Sonst war er so froh, so heiter in sich, so 44 zufrieden trotz alledem gewesen. Sonst! . . . Und warum nur sonst? Er schritt seine Stube hinauf und hinab. Warum nur sonst? War er denn so gar der Alte nicht mehr?

Er stand just vor seinem Flügel still. Er betrachtete ihn lange. Er streckte die Hände wehmüthig nach ihm aus, wie nach einer scheidenden Geliebten. Es zog ihn näher und er trat an die Tastatur.

Den Finger im Hemdkragen, als drückte ihn was an der Kehle, besann er sich noch eine Sekunde. »Ach,« sagte er auf einmal im Ton des Leichtsinns, »alles Uebel kommt von da! . . . vom Wasser! . . . Aber Maß halten!« setzte er wie sich selbst zur Warnung hinzu.

Er war an den Tisch gegangen, hatte sich ein ordentlich Weinglas vollgegossen und es in schwankender Hand auf die Seitenplatte des Notenhalters im Klavier gebracht. Eh' er sich setzte, nippte er ein paar Tropfen. Die Augen leuchteten ihm vor Freude. Da er saß, vergönnte er sich noch einmal einen ganz kleinen Schluck. »Maß halten!« wiederholte er leise. Dann leckte er sich die Lippen und hielt die Hände sinnend oberhalb der Klaviatur in der Luft.

Ein schalkhaft Lächeln verschönte die schmalen Lippen des alten Mannes. Und wie immer gewohnt, wenn's ihm behaglich wurde, laut mit sich selbst zu sprechen, sagte er: »Ein Thema! Geben wir ihm 45 ein Thema . . . Nein, er erfinde sich selbst die Melodie! . . . Wer keine Melodieen erfinden kann, ist ein armseliger Schnapphahn . . . Haha! Hier ist eine schöne Melodie!«

Sein Mund schwieg. Seine Finger zauberten aus den Tasten einen süßen kleinen Sang von etlichen Takten, kurz, schlicht und einschmeichelnd, wie ein altes Lied.

Erst leise, dann etwas zuversichtlicher wiederholte er, was ihm die späte Stunde geschenkt. Plötzlich brach er ab; hob die Hände so hoch wie seine Augen standen und rief:

» E poi . . .« Er hielt inne, sah zur Seite, als fehlte ihm etwas. Sah das Glas, trank es auf einen Zug aus, stellte das Glas klirrend auf's Klavier zurück und fuhr, ohne dieses Zwischenfalls zu achten, fort: »e poi la fuga!«

Er bearbeitete das kaum gefundene Thema nach allen Regeln des Contrapunktes mit stolzer Kunst und lächelnder Sicherheit. Es war der alte Orlando, der da saß in verjüngter Heiterkeit, aller Sorgen bar, seiner Erfindungsgabe froh, kunstvoll den Scherz betonend, im selbstgeschaffenen Wohllaut schwelgend. Ein ganzer Künstler und glücklich darum.

Ja, darum! Was? er hatte mit seiner Kunst kein Glück gehabt? Er? War sie ihm nicht Alles, 46 Trost, Erhebung, Wollust, Auferbauung, Weib, Kind, Gebet – sie selbst das Glück!

Und er, der undankbare Narr, hatte auch sie verlästert! Ersäufen soll man den Undank! Und ein Hoch der Kunst!

Er stürzte nur so an den Tisch! Ergriff die nächste beste Flasche. Ach, das war schon die richtige. Wie ihm der Glasbauch wohlig in die heiße Hand kitzelte!

»Vivat, Frau Musika!« Seine ganze Seele war in diesem Spruch. Er behielt Glas und Flasche in der Hand ohne Arg – er dachte nur an Thema und Umkehrung, Wiederholung und Fuga – und trug's zum Klavier.

Nun hatte er Alles beisammen, was er zur Gemüthlichkeit brauchte. Mochten die Dickhäuter nur schlafen. Er wußte sich was Besseres. Er koste mit seiner Göttin Musika.

Lieblich klang es in der Nacht, wie er spielte. Wo Einer davon in der Nachbarschaft erwachte, der horchte gern ein Weilchen, bis den Müden die holden Töne sanft wieder in Schlaf gelullt. Orlando spielte lange so fort. Er lachte des dickhäutigen Riesen Bolle, der ein Musikus sein wollte, obwohl er nur ein trompetender Schuster oder ein schusternder Trompeter war. Er lachte des nervösen Zwerges Fridolin, der sich ein Dichter zu sein bedünkte, 47 obwohl ihm nur alle fünf Jahre was einfiel. Er lachte –

Ueber wen? Auch über sein armes Kind Bettina? . . . Nein, davor sei Gott! Mitten in Lauf und Akkord riß es ihm die Finger von den Tasten. Er fuhr vom Stuhl auf und legte hastig den Daumen auf den Mund, als hätt' er wieder laut gesprochen und wäre das schon Sünde.

Wenn eine arme Menschenseele Trost durch Schlummer brauchte, ja heute nur im Schlummer Trost finden konnte, so war's Bettina. Und er, der eigensüchtige Wütherich schlug hier mit Tönen ihren Schlaf zunichte! Er, der Vater, am Unglückstage seines eigenen Kindes!

Es that ihm fühlbar am Herzen weh. Alle die abscheulichen Gedanken, die er vor kurzen Stunden gegen sein Kind heraufbeschworen, traten ihm in ihrer ganzen Häßlichkeit vor's Bewußtsein. Pfui, solches war er zu denken fähig gewesen! So schwach, so schlecht konnte ein Mann sein, der so zart im Reich der Töne zu denken verstand. Adelte die Kunst nicht den Mann? Ja, sie mußt' es! Ein Wahn hatte ihn beherrscht. Jetzt fühlt' er's deutlich, jetzt konnt' er so etwas nicht wieder denken! Nie wieder! das war vordem gewesen. Jetzt hatte er sich selber wieder.

Wo war sein Kind? Es hatte nichts verbrochen, 48 nur geduldet. War denn der Ruhm die Kunst? Ihr Sklave war er. Bedarf seiner, wer die Königin im Arme hält?

Was konnte Bettinens Erfolg seinem Namen nehmen und geben! Er mußte hinüber, ihr die Grillen verjagen, sie trösten, sie küssen!

Er nahm ein Licht. Auf den Zehen ging er nach der kleinen Kammer. Er hatte sich nicht geirrt. Bettina lag noch wach in ihren Kissen.

Ohne ein Wort zu sprechen, bückte sich der alte Mann. Und wohl, weil das Bücken ihm unbequem, kniete er sich vor die niedere Stelle und streichelte seines Kindes Wangen und führte die kleinen Hände an seinen Mund.

»Mein guter Vater!«

»Mein gutes Kind!« lispelte Orlando. »Kannst Du nicht schlafen, weil Dein alter Polterer nicht von seinen Tasten loskommt . . .«

»Ach, es war ja so schön! Das Horchen that so wohl! Vater, in der Musik ist doch Trost.«

»Sei getröstet und verzeihe! Verzeih' Allen, die Dich heute gekränkt; Allen, hörst Du . . . auch mir!«

»Aber Vater, liebster Vater!«

Sie wehrte mit ihrer Zärtlichkeit solche Reden und küßte ihn auf die welken, doch so glühenden Wangen.

»Und jetzt schlafe, Bettinchen mein! schlafe süß, 49 Du darfst es. Denke, daß Du mein liebes, vielgeliebtes Kind bist, daß ich mit Dir zufrieden bin, Dir danke und Dich segne, und dann wirst Du wonnig schlafen und erquickt und heiter erwachen.«

»Ja, Vater, das werd' ich. Aber erfülle mir noch eine Bitte.«

»Tausend!«

»Wenn Du hinübergehst, spiele mir noch eine sanfte, süße Melodie. Schilt nicht und versage mir's nicht. Weißt Du, ein Schlummerlied, wie man es Kindern zum Schlafengehen spielen mag, Kindern, die viel geweint haben!«

Orlando sprach nicht, er nickte nur mehrmals lächelnd mit dem greisen Haupte Gewährung der kindlichen Bitte. Dann fuhr er noch einmal begütigend mit der Hand über Haar und Schläfen – »Gute Nacht!« – und auf den Zehen ging er vorsichtig, als schliefe Bettina schon, aus der Kammer.

Auch im Saale noch trat er so ängstlich auf, als lägen lauter Schlummernde um ihn her. Geradenwegs zum Flügel. Er besann sich nicht und spielte mit sorgsamen Fingern ein schlafbeschwörendes Lied. Es klang wie ein Hauch so zart, und schön wie sehnende Liebe. Ihm selbst war zu Sinnen, als hätte er sein Lebtag nie schöner mit den Händen gesungen.

»Ein Schlummerlied! ein Schwanenlied!« sagte 50 er, da er fertig war und es sich nicht versagen konnte, die Melodie noch einmal zu wiederholen.

Dann stand er entschieden auf. Und was sonst in Jahren kaum einmal vorkam, er zog den Verschluß des Flügels über die Klaviatur herab und drehte das kleine Schloß zu. Es war, als wollt' er sich selbst verhindern, in der Zerstreuung heute Nacht noch einmal eine Taste zu berühren.

Und was nun? Schlafen? Er war zu aufgeregt, um nur an Schlaf zu denken. Erinnerungen aller Art drängten sich ihm zu. Er öffnete sein Herz ihnen weit. Er wollte sich gütlich thun mit all' den lustigen Gestalten.

Mit langen Schritten ging er im Zimmer hin und her und drückte sich die Hände. Mehr als einmal riß es ihn zum Instrumente hin. Er schauderte noch rechtzeitig jedesmal davor zurück und sandte dann einen frommen Wunsch, einen segnenden Gedanken zu dem schlafenden Kinde hinüber, das er immer geliebt, doch so herzlich, wie heute, noch nie.

Es ward ihm so heiß. Er warf das Halstuch weg und den Rock und die Weste. Brennender Durst quälte ihn. Der langentwöhnte Wein, den er heute wieder einmal genossen, machte ihn so durstig. Was sollte er sich quälen lassen! Es störte ihn der unbehagliche Durst auch in seinen Gedanken. Und es waren gute musikalische Gedanken, die er um keine 51 Welt verscheucht haben wollte, die man leben lassen sollte!

»Lassen wir sie leben!«

Er goß sich abermalen ein Glas voll und setzte sich an den Tisch, darauf das einladende Mahl, kaum zur Hälfte verzehrt, noch in malerischer Unordnung stand.

Er stützte das Haupt in beide Hände und sann und brütete so hin. Das Licht der halb herab gebrannten Kerzen spielte mit seinen weißen Haaren und mit der goldenen Flut in geschliffenen Gläsern.

*

Es war um den ersten Hahnenruf, daß Eduard Bolle wie gewöhnlich sich mannhaft aus den Federn machte.

Das eiskalte Wasser spritzte in der dämmerigen Stube gar emsig nach rechts und nach links, während der Athlet seinen Körper erquickte, dabei an die verdrießliche Aufführung der gestrigen Oper dachte und um sich zu besänftigen, nach seiner Weise vor sich hin brummte:

»Wir winda-duen dir den Jung-fa-renkra-wanz
Von veil-chenblau-wa-wu-er Seiadeiade . . .« u. s. w.

Noch anderthalb Oktaven Skala; diese schon etwas lauter. Ein Anschlagen des hohen G . . . Der 52 Rackerston wollte sich heute durchaus nicht schleierlos geben. Bolle räusperte sich heftiger, spuckte, schluckte. Nun die Kleider um! die Stiefel an! Nochmals ein Ansatz:

»Dieß Büh! . . . büh! . . . büh! . . .
Dieß Bühldniß ist bezaubernd schö-hön!«

Er schien es zufrieden und griff hurtig den Korb von der Wand. Nun zog er den Schlüssel seiner Wohnung ab und hob schon den Fuß über der Treppe; dennoch kam er nicht über die erste Stufe. Es hielt ihn etwas zurück. Er wußte selbst nicht, was. Aber es war ihm gar nicht so, wie sonst des Morgens, gar nicht so, wie's sein sollte. Na, draußen in der Morgenluft wird es ihn schon frei lassen. Ihn, ja wohl! Aber, wenn's dem alten ängstlichen Organisten auch so zu Muthe sein sollte . . .

»Hum, solltest doch einmal nachsehen, wie sie dem Hunzelsperger bekommen ist, die ganze Geschichte!«

Er ließ den Korb auf der Diele stehen. Die Thüre konnt' er mit seinem eigenen Schlüssel öffnen. Das hatten sie von altersher so eingerichtet. Denn in früheren Zeiten war es ja oft genug nothwendig gewesen, daß Bolle bei Hunzelsperger ungehindert Zutritt fand.

Vorsichtig, um Niemand ohne Noth zu wecken, ging er zunächst in den Saal. Zwei Kerzen flackerten noch in winzigen Stümpfchen über den 53 Leuchtermanschetten. Die anderen Lichter waren ausgegangen. Ein grauer Dämmerschein, nicht Nacht, nicht Tag, brütete bleifarben in der dumpfen Stube.

Ein fader Geruch von verbrannten Dochten, angesengtem Papier, abgestandenen Speisen und vergossener Brühe war das Erste, was sich Bolle's Sinnen mittheilte. Der Fanatiker für frische Luft wollte zunächst an's Fenster, um es zu öffnen.

War's der Fensterflügel, der so ächzte? Es kam doch von drüben . . . Und warum war das Tischtuch, das jetzt so aufdringlich weiß aus der Dunkelheit abstach, hier so stramm bis an die Erde gezogen? Regte sich's nicht darunter?

Ueber die Scherben einer herabgeworfenen Bratenschüssel, über einen herabgeworfenen Armleuchter, der auf dem Teppich verlöscht war, schritt Bolle zum Tisch. Er wollte das Linnen heben . . . es widerstand. Er sah genauer zu und fand den alten Organisten unter seinem Tische, gefühllos, regungslos wie ein Block.

Als er die Tafel über dem Bewußtlosen zur Seite heben wollte, klirrte das viele Glas so wunderlich durcheinander. Bolle warf einen Blick auf dieß kichernde Glockenspiel. Er hob eine Flasche nach der andern gegen das zuckende Licht. Sie waren alle leer.

Leer bis auf die Nagelprobe!

Er kniete zu Orlando nieder, horchte ihm auf 54 die Brust, befühlte die Hände, schüttelte den Nacken, schrie . . . Es dauerte lange, bis der Unselige die Wimpern aufschlug.

Auch dann noch war es ein öder, nichtssagender Blick aus Augen, die noch viel blässer schienen als sonst. Sie schienen nichts zu begreifen, was um sie her vorging, sie schienen den besten Freund nicht zu erkennen und schlossen sich wieder so rasch wie möglich.

Noch einmal wie in alten Tagen lud Bolle die ungefüge Last auf seine Schultern und brachte den ewig Unmündigen zu Bett.

Dann rief er Bettinen wach und sagte der Entsetzten, sie möge den Arzt holen. 55

 


 


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