Hans Hopfen
Die Heirath des Herrn von Waldenberg
Hans Hopfen

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XIV.

Der plötzliche Selbstmord Naphtali's, welcher in der ganzen Stadt für das Urbild des sicheren reichen Mannes galt, der zu leben und zu genießen verstand und keinerlei Schicksalsschläge zu fürchten brauchte, gab dem schwankenden Kredite den letzten Stoß. Ein wahrer Schrecken brach aus und was vielleicht im Sturme noch zu retten gewesen wäre, trieb jetzt erbarmungslos mit den anderen Trümmern dahin.

Die öffentliche Meinung bezeichnete Thilo von Waldenberg wenn auch nicht als den Urheber des allgemeinen Unglücks, so doch als Denjenigen, welcher durch sein weithin sichtbares Beispiel Viele der letzten Bedenken überhoben und ganze Kreise von Personen zur Theilnahme an Gewinn und Verlust eines Bankgeschäftes herangelockt hatte, die sonst nicht an so rasche Vermehrung ihres Eigenthums gedacht hätten.

Nicht daß man ihn darum gleich mit Haut und Haar verdammte! Viele freilich sparten weder mit 291 Flüchen noch mit Anklagen. Viele Andere dagegen rechneten ihm seine aristokratische Geburt und seine diplomatische Vergangenheit als zwei mildernde Umstände an, die ihn fast rein wuschen. Wer brauchte sich auf Spekulationen einzulassen, die von einem Mann ausgingen, der aus seiner haarsträubenden Laienschaft kein Hehl machte. Es war wie Verblendung vom Himmel gefallen und der Eine so thöricht, der Eine so schuldig, der Eine so gestraft wie der Andere.

Dawider schalten nun Jene, daß Träger alter adeliger Namen sich nicht so gewissenlos auf schwindelige Spekulationen einlassen dürften, wie die dunklen Biedermänner, die sich hinter den Coulissen der Börse stießen.

Aber selbst Jene wurden durch die uneigennützige, rückhaltlose Weise, mit der Thassilo sich seines ganzen Reichthums entledigte, wenn nicht versöhnt, so doch zum Schweigen gebracht. Güter, Häuser, Pferde, Geld – Alles ging in wenigen Tagen dahin. Selbst seine kleinen Alterthümer und Kunstsächelchen, den ganzen vielgeliebten, in Jahrzehnten zusammengesammelten Trödel gab er dran; die Pretiosen seiner Familie, die Bilder seiner Ahnen, seine Garderobe, seine Möbel gingen denselben Weg. Arm wie eine Kirchenmaus, ein notorischer Habenichts stand er eines Morgens da, er, dem der alte Palmerston einst eine Zukunft prophezeit, er, den der 292 dritte Napoleon in einer schwachen Stunde seinen klugen Freund genannt hatte.

Aber er hatte alle seine Gläubiger befriedigt oder er durfte doch des guten Glaubens leben, fast alle seine Gläubiger befriedigt zu haben, wenn sich auch noch immer nicht alle zufrieden gaben.

Was ihm die traurige Lage noch trauriger machte, war, daß er auch die besten Freunde, die lieben Menschen, die ihm auf der Welt am nächsten standen, in seinem Sturze mit sich riß.

Die edle Frau von Santalatona vor Allen.

Den Trost konnt' er sich immerhin sagen, daß er sie nie zu seinen Geschäften überredet hatte. Aber bei der rückhaltlosen Verehrung, welche die gute Frau sich allmälig für den beredtsamen Schwiegervater ihrer Tochter angeeignet hatte, genügte sein Beispiel vollauf, um, wo er Zehn auf eine Karte gesetzt, sie Hundert oder Tausend setzen zu lassen.

Freilich, sie hatte mehr zum Zusetzen gehabt als der gute Thassilo, der vor seinen glänzendsten Tagen doch nur für einen wohlhabenden Mann gehalten werden konnte, der sein gutes Auskommen hatte. Dafür ging sie auch nicht so arm, wie ihr bewährter Freund, aus dem Sturme hervor. Sie rettete noch immer eine Summe, davon der Mensch bequem sein Leben fristet, selbst wenn er Ansprüche macht. Aber der Glanz des alten Hauses, das 293 altehrwürdige, stets gemehrte Vermögen, das dem patrizischen Namen so wohl anstand, die waren verspielt.

Und was auch war für eine Frau von Theodora's Gewohnheiten dieser Rest, der ihr nur des Lebens Nothdurft deckte! Des Lebens Nothdurft – schwankender Begriff! Was gehörte nicht Alles zum nothdürftigen Leben einer Frau von Santalatona? Dreimal mehr, als ein Naphtali Hertz nicht hatte entbehren können. Sie fragte Jeden, der ihr Rede stand, ob es denn menschenmöglich wäre, mit dem, was ihr geblieben war, zu existiren. Und wahrlich, viel war es nicht!

Und was war bei solcher Stellung Alles noch zu thun und zu leiden! Wie viel Unannehmlichkeiten waren noch zu überstehen! Es ward ihr schwindelig, wenn sie daran dachte. Und doch hatte sie noch nie an Alles gedacht, was zu bedenken war. Die süße Gewohnheit des Daseins mußte verändert werden. Man versicherte ihr gar, es sei bei allem Unglück ein Glück, daß sich das neue Haus noch jetzt so gut verkaufen ließe – das Haus, das sie gebaut nach eigenem Geschmack, das ihr Stolz war!

Welch' ein Jammer, wenn ihr die Tochter in den Sinn kam!

Und sie verlor sie kaum aus dem Sinn. Sah sie sie doch meist vor Augen. Ein unbegreiflicher Unstern hatte Leonilla gerade jetzt vom Land in die Stadt geführt. 294

Sie mußte den Wahn rasch aufgeben, ihrer Tochter das Schlimmste verhehlen zu können. Traf es diese doch noch schlimmer als sie. Gut, sie sagte Alles! Aber kaum, daß sie's gesagt, bereute sie es schwer.

Hatte sie denn nicht gemerkt, daß Leonilla an diesen beiden Tagen von Trübsinn und Schwermuth geplagt war, wie nie zuvor? Wie mußte sie ihr eigenes Unglück verblendet haben, wenn sie sich nicht überzeugte, daß ihre Tochter krank, schwer krank im Gemüthe war. Ach, ein Unglück kommt nie allein!

Theodora hoffte Alles von der Rückkehr ihres Schwiegersohnes. Waldemar kam. Er schloß sein Weib, von heftigeren Gefühlen überwältigt, in die Arme. Aber der Trübsinn, welcher Leonilla gefangen hielt, flatterte nicht auf. Nie im Leben noch hatte sie den Gatten so kalt, so wortkarg, ja so lieblos empfangen.

Was war mit ihr vorgegangen? Waldemar erkundigte sich trotz seiner Sorgen auf allen Seiten. Er erfuhr auch, daß seine Frau in Orlando's Zelle gewesen sei. Hatte der Anblick dieses Elends ihr Herz versteinert?

Der Sturm dieser Tage litt nicht, daß Waldemar bei dieser einen Sorge verweilte. Zwar hatte seine gelassene Natur, die nie auf Reichthum bedacht gewesen, bei diesem allgemeinen Sturz ihn vor großen 295 Verlusten bewahrt, wie sie ihn vordem vor großem Gewinn bewahrt hatte. Jedoch ganz ungerupft war auch er nicht durchgekommen. Und was noch sein war, konnt' er nicht behalten. Er opferte für den Namen Waldenberg, was geopfert werden konnte. Der alte Salomon Feuerstein mußte sich endlich eben doch entschließen, dieß Alles in Thassilo's »brennend Haus« zu werfen.

Leonilla war mit Allem einverstanden. Es kam Waldemar zuweilen vor, daß sie auch damit einverstanden sein würde, wenn er ihr eine gemeinsame Regelung ihrer Angelegenheiten vorschlüge – in der Art, wie Naphtali Hertz mit allen Sorgen abgeschlossen.

War es denn möglich, daß sein Weib so sehr an irdischen Gütern hing, daß ihr Verlust sie dem Wahnsinn nahe brachte!

Gab sie doch, was sie gemeinsam hatten, ohne Widerrede hin. Aber wenn er freudig gab, sie lächelte nie mehr, und wenn er sie endlich wieder zu reden bat, schwieg sie nach wie vor und sah stier vor sich hin.

Nur wenn auf Haus Waldenberg die Rede kam, zuckte sie zusammen. Das wollte sie nicht auch drangeben und das sagte sie klar und bestimmt.

Ach, und wenn sie auch gewollt hätte, für das Nest fand sich doch kein Käufer. Das kleine Haus mit dem bischen Garten und Feld, fern in der 296 Provinz, nicht einmal besonders schön gelegen – wer fragte darnach in solcher Zeit, wo die Güter nach Hunderten zu Kauf standen und um billige Preise? Leonilla hatte Recht und Waldemar dachte nicht daran, es ihr zu nehmen. Er wollte selbst zum wenigsten dieß Stammhaus seines Namens retten. Alles Andere war dahin. Er war ärmer, als er je gewesen. Er mußte erwägen, ob er unter diesen Umständen noch im Regimente weiterdienen sollte. Noch fiel ihm der Abschied vom Waffenhandwerke gar zu schwer. Er wollte versuchen, ob's anging, mit dem »glänzenden Elend«, wie sie das Leben eines armen Offiziers nannten. Er wollt' es versuchen, wenn nur sein Weib wieder muthiger in's Dasein sehen, wenn sie nur wieder freudige Gedanken fassen wollte!

Freudige Gedanken! Leonilla faßte keinen!

Nicht nur der Vorsatz, den sie auf dem Wege von Orlando's Zelle aufgelesen, hielt ihren Geist in gewollter Starrheit. Vor ihren Sinnen spann sich unwillkürlich ein Netz um's andere. Der weiße, blendende Fleck, der ihre Vorstellungen schon früher zuweilen zerrissen hatte, meldete sich öfter und öfter und von seinem glühenden Weiß wollte sich jetzt ein Spruch immer und immer wieder ablesen lassen: Der Wahnsinn ist ein Feuer, mit dem nicht spielen darf, wer nicht brennen will. 297

War sie dem Teufel darum schon verfallen, weil sie ihn hatte an die Wand malen wollen? Sie wußte es selbst nicht und prüfte sich jeden Augenblick darum, und ward davon so angstvoll und so tieftraurig, daß ein freudiger Gedanke wie das Unmöglichste von der Welt in unfaßbare Ferne rückte.

Die Mutter schrieb ihren Trübsinn aus Rechnung des verlorenen Vermögens. Und darin hatte sie nur zum Theil Unrecht.

Vielleicht, daß Leonilla zu jeder anderen Zeit den Verlust ihrer Güter leicht genommen hätte. Ja, sie hätte sonst vielleicht Mühe gehabt, sich klar zu machen, ob sie an irdischem Gut überhaupt etwas verlor. Nun aber, wo sie mit aller Gewalt eines grüblerischen Sinnes Zweifel an der Liebe ihres Gatten hegte, Zweifel suchte, deren einer immer den anderen gebar, nun schlug die Kunde des Verlustes wie ein Blitz in aufgespeicherte Zündwaare.

So weit in der Abirrung ihres Geistes war sie bereits gediehen, daß sie von dem bis zur Sorglosigkeit uneigennützigen Waldemar glaubte, er habe, wie so Viele seines Standes, nur nach Geld geheirathet. Nur die Rücksicht auf ein glänzendes Vermögen habe ihm die Hand, die sich ihm aufgedrungen, auch begehrenswerth erscheinen lassen, und nun dieser Reiz verschwunden, sei auch jeder Grund getilgt, der seine Neigung überreden konnte. 298

Nach alle den Gedanken, mit denen sie sich gleichsam geflissentlich beirrte, kam ihr diese abscheuliche Meinung so natürlich vor wie jede andere. Sie war weit entfernt davon, ihren Gatten darum anzuklagen; daß er so empfinden müsse, daran hatte sie schon keinen Zweifel mehr.

Und doch war ihr die Furcht, ihn zu verlieren, schrecklich.

Dazwischen zuckte der thörichte Plan, die beiden Menschen, die ihrem Herzen am nächsten standen, zu erproben und dieser Probe halber in Versuchung zu führen, immer wieder unter allen anderen Gedanken empor. Bald wußte sie, was sie wollte, bald wußte sie's nicht. Ihr war zuweilen, als spielten Dämonen mit ihrer Seele Fangball und würde sie im Hin- und Widerfluge ernstlich toll.

Waldemar saß stundenlang bei ihr. Es überwältigte ihn die Sorge. Und also gab er einmal seinem Argwohn vielleicht zu unvorsichtige Worte: »Wärest Du doch niemals den Weg in jenes schreckliche Haus gegangen, wo der arme Vater Bettinens seinen Tod erwartet. Das ist kein Schauspiel für Frauen. Ich hätte, um Deinen Vorsatz wissend, seine Ausführung nie gestattet. Es hat Dich diesem Elend gegenüber ein Trübsinn angeweht, der sich nun nicht verscheuchen lassen will. Wärest Du doch nie dahin gegangen!« 299

Leonilla schwieg wie immer. Auf einmal aber ergriff sie Waldemar's Hand. Sie war des Sprechens so ungewohnt, daß sie ein wenig Mühe hatte, gleich die rechten Worte zu finden. Sie hielt sich am Arm des Gatten wie zur Hülfe fest und endlich brachte sie die Bitte heraus: »Versprich mir's!«

»Was soll ich Dir versprechen?«

»Mag aus mir werden was will, Du wirst mich nie in ein solches Haus sperren lassen!«

»Leonilla, was fällt Dir ein! Wie magst Du so gottlos reden!«

»Laß mich und versprich mir, was ich so inständig bitte!«

»Befürchtest Du denn aus irgend einem Grunde – ich kann's kaum aussprechen – daß Du je erkranken könntest?«

»Ich weiß nicht. Aber die bloße Vorstellung ängstigt mich seitdem, wie ich's kaum ertragen kann. Zu meiner Beruhigung: versprich mir, was ich gebeten!«

»Ich versprech' es Dir!«

Leonilla faßte seine dargereichte Hand mit beiden Händen, sie lehnte das Gesicht an seine Brust. Sie zitterte wie von Frost geschüttelt. Er wußte nicht, ob sie weinte, und wagte nicht, das ruhende Haupt zu seinem Haupte zu erheben. Dieß stille Ruhen schien ihr so wohl zu thun. 300

Waldemar wie Theodora ließen ihre Aerzte kommen. Beide schüttelten den Kopf, sprachen von reizbarer Schwäche, von zerrütteten Nerven, angegriffenem Gemüthe. Sie gaben die besten Hoffnungen und da sie als letzten Grund dieser Störungen die ebenso überraschend wie unheilvoll hereingebrochene Vermögenskalamität ansahen, meinte der Eine wie der Andere, daß es das Wichtigste sei, Leonilla aus der aufgeregten Atmosphäre der Hauptstadt wieder in ländliche Stille zu bringen. Hiezu empfahl sich das bereits bezogene Waldenberg, wo die Kranke in gewohnter Umgebung sich pflegen könnte, ohne durch unaufhörliche Klagen und tägliche Veränderungen an eigene und fremde Verluste erinnert zu werden, wie das in der Stadt nicht zu vermeiden wäre. Frische Luft, ruhige Menschen und Mangel aller Aufregung würden in kurzer Zeit die verlorene Heiterkeit wieder aufleben lassen. Ernsthaften Uebels Symptome konnte Keiner finden.

Diese Berathungen machten der besorgten Mutter und dem besorgten Gatten zwar nicht alle Befürchtungen schwinden, aber auch die Beiden hielten es für das Beste, die Verdüsterte von der Wahlstatt hingeopferter Reichthümer zu entfernen, und Leonilla selber war – wie mit Allem – so auch mit ihrer Heimkehr nach Waldenberg zufrieden.

Die schöne Jahreszeit ging zur Rüste. Die Kronen 301 der Bäume fingen schon an sich zu verfärben und lange Sommerfäden hingen an den Aesten und wiesen dem Wanderer, wohin der Wind wehte.

Waldemar hatte sich's ausgewirkt, seine leidende Gemahlin auf der Reise zu begleiten. Schon stand der Wagen vor der Thüre. Die Koffer wurden aufgepackt und der Major kam herab, um als besorgter Gatte selber nachzusehen, ob Alles zur Bequemlichkeit der lieben Kranken besorgt sei.

Da trat ein junger Mann rasch an ihn heran, der es so geschäftig hatte, daß man sah, er habe schon eine Weile auf der Gasse gewartet, um dem Major von Waldenberg einige Worte zu sagen.

»Entschuldigen Sie, Herr Major, daß ich Sie anspreche. Ich darf kaum annehmen, daß Sie sich erinnern, mich vor Jahren einmal im Hause Hunzelsperger's gesehen zu haben. Mein Name ist Fridolin Löwe.«

»Ich glaube mich zu erinnern. Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht sofort erkannte. Womit kann ich dienen?«

»Ich wollte Ihnen nur mittheilen, daß unser gemeinsamer Freund Orlando Hunzelsperger heute Nacht sanft entschlafen ist. Sie wissen, daß er im Irrenhause sterben mußte.«

Waldemar sah sich unwillkürlich nach dem Hausflur um. Da aber keine Störung nahte, so fuhr der Andere hastig und halblaut zu sprechen fort: 302

»Man fand den Alten heute Morgen todt in seinem Bette. Die Züge der Leiche zeigen dasselbe gutmüthige, gedankenlose Lächeln, das Orlando wie eine Maske in diesen letzten Monaten getragen hat. Er scheint ohne Kampf und Schmerzen hinübergegangen zu sein. Wohl ihm!

»Ich habe soeben Bolle benachrichtigt.

»Ihr Diener sagte mir, daß Sie heute nach Ihrem Gute zu reisen beabsichtigen. Da dacht' ich mir, Fräulein Bettina würde die Trauerbotschaft am besten durch Sie erhalten. Sie werden der Armen den Verlust ihres Vaters mit Schonung und Vorsicht zu wissen thun. Darum bittet Sie auch Herr Bolle, der es in diesem Sinne mit dem Schreiben bis morgen lassen will!«

»Sie haben Beide ganz Recht!« versicherte Waldemar. »Ich werde dieser leidigen Pflicht gerecht werden und die Aermste von dem Unfall unterrichten.«

»Ich muß mich noch entschuldigen, Herr Major, Ihnen dieß Anliegen auf der Straße vorgetragen zu haben. Allein ich wollte Sie allein sprechen. Man sagt, Ihre werthe Frau Gemahlin wäre leidend. Wäre ich ihr zufällig in Ihrem Hause, auf der Treppe, im Thorwege begegnet, so hätte sie mich gewiß gefragt, wie es dem großen Musiker ginge. Sie nahm aufrichtigen Antheil an ihm. Ich kann nicht lügen. Und wer weiß, ob die plötzliche Todeskunde nicht 303 nachtheilig auf die ohnehin angegriffenen Nerven Ihrer Frau Gemahlin gewirkt hätte.«

»Sie urtheilten auch hierin ganz recht,« versetzte Waldemar und schüttelte dem treuen Knechte die Hand, herzlicher, als es sonst Fremden gegenüber seine Gewohnheit war. »Ich fühle mich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit sehr verbunden, Herr Doktor.«

»Keine Ursache, Herr Major! Das war nur Menschenpflicht.«

Sie verbeugten sich vor einander. Waldemar trat in's Haus zurück und Fridolin Löwe ging raschen Schrittes über die Straße.

Den Ulanen lob' ich mir! dachte sich der Trauerbote, der ist doch dankbar für zeitgemäße Protektion! Ehedem trug er den Kopf auch merklich höher!

Trotz dieser Anerkennung fremder Gemüthsverfassung schien der treue Knecht die Absicht, welche ihn in der Nähe dieses Hauses verhalten, noch nicht erfüllt zu haben. Er ging nicht auf der Straße fort, wie man bei seiner Geschäftigkeit hätte glauben sollen. Er ging nicht weiter als zu einem Hause, das der Wohnung des Majors von Waldenberg schräg gegenüber lag und einen halb offenen Thorweg hatte. Dort im Dunkel blieb er stehen.

Den Ellenbogen auf eine Eisenstange gelehnt, die von der Innenseite des Thorflügels rechtwinkelig an die Wand ging, das Haupt auf die Hand 304 gestützt, die fünf Finger in seinen Haaren – in der Stellung von Raphael's Selbstporträt etwa – so heftete er den Blick auf die Pforte des jenseitigen Hauses.

Es war ihm also doch nicht bloß um das Gespräch mit Herrn von Waldenberg zu thun gewesen. Er wollte auch die Frau von Waldenberg noch einmal sehen.

Er mußte lange warten.

Endlich kam sie doch. Und der Zufall wollte es, daß sie, um beim Einsteigen nicht gehindert zu werden, erst den Schleier zurückschlug und dann noch eine Weile mit Ordnung ihrer Kleider vor dem Wagen sich aufhielt.

So konnt' er das Elfenangesicht seiner Muse noch einmal andächtig betrachten. Er staunte den fahlen Glanz dieser Wangen, den finstern Trübsinn dieser Augen, die unvergleichliche Schönheitslinie dieses geheimnißvollen Mundes an und schwelgte in seiner hoffnungslosen Empfindung.

Der Wagen rollte davon. Fridolin trat hastig auf die Straße heraus. Mitten auf dem Fahrweg blieb er stehen, die Augen mit der Hand schirmend, und sah der Entschwindenden nach, so lang der wehende weiße Schleier, der ihr vom Hute flatterte, sich im Gewimmel der mit Fuhrwerken aller Art belebten Straße noch wahrnehmen ließ. 305

Dann schloß er mit seiner Empfindung ab und dachte nur mehr daran, wie er aus Eduard Bolle allerhand Daten, Briefschaften, Musikalien und Erinnerungen herausbringen sollte, die er in ein literarisches Denkmal ohnegleichen, seinem großen Freund Orlando zu Lieb' und Ehren, verbauen wollte.

Eine Zeitung hatte zwar einen kurzen Nekrolog von Fridolin Löwe verlangt. Aber er dachte nicht daran, sich auf solche Handfertigkeit einzulassen. Es fiel ihm nicht bei, die Heiligkeit seines Schmerzes durch voreilige Arbeit zu entweihen. Aber es war ihm ein Anstoß zu weitausschauenden Plänen. Langsam, gründlich und behaglich wollte er sich auf die Lebensbeschreibung seines Orlando vorbereiten.

Das sollte etwas ganz Besonderes geben! Eine Lebensbeschreibung nicht so fast, sondern ein Lebensbild. Und nicht bloß ein Bild, sondern ein Stimmungsbild und einen durch die Bildwirkung verstärkten Protest gegen die herrschende Richtung.

Am klarsten war ihm die Vorrede mit der Ueberschrift: »Ueber den Werth des Beleuchtungseffekts bei Sichtung und Verwerthung biographisch-monographischen Materials.«

Auch die Ausstattung des Buches oder vielmehr Heftes schwebte schon ganz deutlich ihm vor. Lexikonoktav mit handbreitem Rande! Vorn die Photographie des gefeierten Orlando, hinten etliche 306 Notenbeilagen. Der Titel in Farben. Der Text in Schweinfurter Lettern! Eine verführerische Pracht für jeden Bibliophilen.

Was den Text anbelangt, so empfand er nur kurze Zeit den Mangel fast aller musikalischen Bildung. Gefühl und Genie sollten ersetzen – was Eduard Bolle's fachmännische Tugend ihm nicht leisten konnte. Doch versprach er sich Genügendes von dieser.

Die Leute, die ihm begegneten, begriffen nicht, warum sich der kleine, unscheinbare, struppige Geselle so vergnügt die Hände rieb.

Ihn kümmerte das wenig, ob ihn ein vorübergehender Bummler belächelte oder eine müßige Ladenjungfer ihm spöttisch nachsah. Er schwelgte bereits in der Vorahnung einer epochemachenden Leistung.

Zwar ob er diese Leistung auch richtig zu Ende führen, ob er für die fertige Schrift einen Drucker, und ob für die (vielleicht nur auf seine eigenen Kosten!) gedruckte Käufer, ja nur Leser finden werde, auch daran dachte er nicht.

Daß er zwei bis drei Monate was zu planen, zu träumen, in Gedanken zu bosseln haben werde, das war gewiß und das genügte vorderhand vollauf. 307

 


 


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