Hans Hopfen
Die Heirath des Herrn von Waldenberg
Hans Hopfen

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VIII.

Bettina lief, was sie laufen konnte, bis sie die Straße hinab war. Sie hatte die Schwelle jenes Zimmers nicht übertreten. Aber ihre geschäftige Einbildungskraft zauberte ihr im Flug eine Möglichkeit um die andere vor, und eine peinlicher als die andere, wie dieß Wagstück hätte ausfallen können. Nun war's abgemacht! Das that ihr wohl. Die schrecklichen Vorstellungen blieben eine nach der anderen hinter ihrem Laufe zurück. Sie athmete leichter. Sie verlangsamte ihre Schritte. Sie konnte sich mit aller Muße in die Frage vertiefen, ob Dasjenige, welchem sie entgegenging, nicht doch noch entsetzlicher war, als wovor sie floh.

Sie war in eine grünende Baumreihe gekommen. Auf den Wiesen daneben spielten Kinder. In den weiß überblühten Zweigen lärmten die Vögel und auf der Straße drüben, die das leicht begrünte Unterholz mehr vergitterte denn versteckte, hörte man einen Wagen nach dem anderen rollen. 169

Von der anderen Seite hörte sie noch ein anderes Geräusche. Das kam vom hochgehenden Fluß, der seine schäumigen Frühlingsfluten eilig zu Thal wälzte. Wer sich von dieser Stimme locken ließ, wer mit ihm dahinfuhr, der reiste schnell. Und wo er am Ufer landete, war es dunkel und schaurig. Aber Noth und Drangsal dieser schalen Welt nahm er nicht mit hinüber!

Bettinen lockte die Stimme nicht, sie erschreckte sie nicht. Sie hatte nun schon allen Schrecken abgethan und hatte keine Lockung mehr vonnöthen. Sie wußte ihren Weg, wußte, was sie auf ihm finden wollte. Und wenn sie jetzt sich hier im Grünen verweilte, so war's nicht, weil sie Schauder, Furcht, Unentschlossenheit zurückhielt. sondern weil sie athemlos vom Laufen und müde von der jämmerlichen Nacht war.

Sie wollte sich nicht mit halber Kraft auf den letzten Weg machen. Sie brauchte die ganze. Die einzige Sorge, die sie noch anfocht, war, daß eben die halbe Kraft nicht ausreichen werde, und darum wollte sie hier im Grünen warten, bis sie sich wieder ganz Herr über sich selber fühlte.

Sie saß auf einer Bank, die von Baumschatten und Sonnenschein gestreift wurde. Sie fühlte sich vor aller Verfolgung sicher. Sie meinte die Welt nur mehr aus der Ferne theilnahmlos wie im Fluge zu sehen. 170

Nicht weit von ihr liefen zwei halb verwahrloste Kinderchen im Grünen. Sie haschten sich und lachten. Mitten im harmlosen Spiel stellte das größere dem kleinsten ein Bein. Nesthäkchen fiel auf die Nase und das andere gleich darüber her und zerbläute noch das Opfer seiner Hinterlist.

Die Wärterin war auch nicht weit und kam und nahm die beiden Rangen am Ohr. Nun heulten sie alle Beide.

Das waren die unschuldigen Kleinen. Das war die Brüderlichkeit der Menschen. Das die Gerechtigkeit der Welt.

Da hatte sie's im Auszug beisammen. War es der Mühe werth, unter diesem Geschlechte sich weiter zu bemühen?

Sie war auch einmal Kind gewesen. War es eine schöne Zeit gewesen? Sie stellte es dahin. Sie wollte sich nicht rühren lassen.

Auf die Bank, auf der sie saß, setzten sich nun auch andere Leute. Zuerst eine dralle Dirne mit verliebten Augen, bloßem Haupt und bloßen Armen. Ein Soldat in der Holzmütze rückte, so dicht es anging, an ihre schöne Seite. Sie stieß ihn mit dem Ellenbogen, er tätschelte ihr an Arm und Wange. Die Kinder, die sie hütete, mochten derweilen Zeter schreien.

Wahrscheinlich hatte die Magd ihrem Galan 171 bedeutet, er möge sich doch vor dem fremden Fräulein scheuen. Denn der Soldat sah nun zur Seite und grüßte dann lächelnd und linkisch, als wollt' er sagen: »Nichts für ungut! Aber wir sind ja Alle drei jung!«

Und ehe die Andere sich's versah, hatte der derbe Gesell sein Mädel am Schopf und küßte es auf den Mund, ob auch die Rüstige stieß und schimpfte.

Bettina stand von der Bank auf und ging. Dieß blöde Kichern und rohe Gemeng war die schöne Liebe, die man in Liedern besang und der empfindsame Seelen Flügel anlogen. Es ekelte sie.

Schön, wahrhaft erquickend schön war nur der Sonnenstrahl und das frühe Grün und der gleitende Fluß, dieser auf Erden rinnende Sonnenglanz.

Sie ging am Ufer hin, bis sie aus der Stadt kam und die Gegend sich weitete. Baumbeschattete Wege führten nach allen Seiten ab. Aber je weiter sie wandelte, desto weniger Menschen begegneten ihr. Eine buschige Stelle bot sich nach der andern dar. In diesen Auen war es einsam, friedlich und schön.

Sie sah zurück. Die Stadt lag fern. Ihre letzten Häuser eine halbe Stunde weit hinter ihr. Nur etliche Dächer und etliche Thürme sahen über die grünen Wipfel bis hieher.

Sie schaute nach der anderen Seite den Strom hinauf. Es war sobald kein Mensch zu gewahren. Jetzt zeigte sich einer in der Ferne. Er trug eine 172 Last auf dem Rücken und ein Querholz in der Hand. Sie wollte warten, bis er vorüberginge. Aber er kam nicht. Einen Büchsenschuß weit von ihr blieb er stehen, legte die Last von sich und setzte sich in den Baumschatten.

Sollte sie auch vor ihm fliehen? Sie sah, es war ein alter Mann, ein Bettelmann wahrscheinlich, der dort am Kreuzweg Rast machte, weil er sich nicht weiterschleppen konnte.

Warum sollte sie sich noch immer weiterschleppen, bettelarm wie sie war? Gleich lieber auch hier Rast machen und die Bürde von sich legen!

Von dem Alten da droben hatte sie keine Verhinderung zu befahren. Er hatte sie nicht gesehen und saß nun ihr abgewandt mit dem Rücken am Baumstamm. Die Verarmten sind genugsam mit sich selber beschäftigt.

Und später, wenn er auch aufmerksam wurde . . . das Knickebein sprang ihr nicht nach . . . und der Strom floß ja von ihm zu ihr herab . . . und trieb, was er mitnahm, gegen die Stadt hinunter.

Nur schade, daß der Bettler sie an einen andern alten Mann erinnerte . . . Aber ihr Herz war verhärtet. Was konnte ihr Leben dem Vater nützen? Nichts, gar nichts. So lange sie lebte, aß sie, die Müßiggängerin, ihm nur das Brod von der Schüssel. Er hatte für sich allein genug. Und wenn sie starb, 173 wenn sie nur erst so oder so zu Grunde ging, wuchs ihm noch Mitleid zu und – würde Mitleid sein Loos erleichtern?

Freilich, wenn er wiederkam, zurück in's verarmte Leben . . . Weichliche Gedanken! Sie wußte wohl, daß er nie wiederkehren würde. Auch wenn's ihr die Mildthätigen und die Gutgesinnten nicht gestanden. Warum durfte sie ihn sonst nicht sehen?

Sie durfte ihren Vater nie mehr wiedersehen. Sie hatte keine Hoffnung, nichts zu schaffen, nichts zu suchen mehr. Was sollte sie in einer Welt zwischen Gerechten, wie Eduard Bolle einer war, und zwischen Ungerechten, wie Naphtali Hertz. Fort! nur fort!

Die Sonne stieg höher und machte schon heiß. Bettina trat in die Weidenbüsche, die dicht am Ufer standen und suchte nach einer tiefen Stelle. Nur nicht lange kämpfen um den Tod! So trat sie unversehens mit einem Fuß auf eine glitscherige Scholle und der Fuß sank mitsammt dem lockeren Erdreich in's Wasser. Unwillkürlich zog sie ihn jählings zurück und betrachtete bedauernd ihren nassen Schuh.

Sie mußte sich selbst belächeln. Bald wird ihr das feuchte Element keinen Schauder mehr verursachen. Die Menge heilt davon.

Aber sie mußte, wollend oder nicht, eine bessere Stelle finden. Hier war es seicht. Seicht und schlammig. 174

Sie hörte eine Thurmuhr schlagen. Elf Uhr. Noch einmal lächelte sie; so wußte sie doch, wie viel's an der Zeit war.

Und dort kam das Wasser um die Ecke herum, dem Ufer zunächst, in breit wallendem Strome geschossen. Es rauschte gewaltig über der Tiefe. Ausgewaschen zur Bucht war das Erdreich. Man hatte Steine gegen den Anprall des Elementes, zum Schutz der Wiesen, einmauern müssen. Die Gräser, die noch auf den Mauersteinen angesetzt, zitterten unaufhörlich, so gewaltig war der Druck der Luft vor dem stürzenden Gewässer.

Solch' eine Stelle hatte ihr vorgeschwebt in der schauderhaften Nacht. Hier mußt' es mit einem Mal vorüber sein! Sie brauchte nicht weiterhin zu suchen.

Wie ein beschenktes Kind klatschte sie in die Hände. Dann warf sie hastig ihr Tüchelchen in's Gras und den Hut dazu. Den Sonnenschirm behielt sie in der Hand, um das Ufer hinab sich zu stützen und nicht vor der Zeit zu fallen.

Sie mußte sich selber wundern, daß ihr der Gedanke an den Tod so gar keinen Schrecken mehr machte. Sie ging zum Sterben, wie ein Erschöpfter schlafen geht. Je früher, desto lieber. Am heißen Tag ein kühles Bad! Untertauchen und nicht wieder zum Vorschein kommen! Das ist Alles!

Gute Nacht, Welt! Gute Nacht, Bettelmann! 175

Sie sah noch einmal hinüber zu dem letzten armseligen Geschöpf, das ihr die Schöpfung vor's Auge brachte. Schon stand sie zu oberst auf den Steinen und sah nach dem Alten.

Was hatte der Lump doch für seltsame Hantirung? Er spreizte das Querholz auseinander. Und jetzt war's freilich klar genug zu erkennen: die Last, die er vom Rücken genommen und nun auf's Querholz stellte, war ein gewöhnlicher Leierkasten.

Aber daß er sich zum Orgeln anschickte, galt ihr als Zeichen, daß Spaziergänger in Sicht waren. Darum rasch gemacht.

Sie trat in die Büsche.

In demselben Momente, da Bettina in den Weiden verschwunden, ließ der Bettler seinen Leierkasten klingen.

Es war ein elender, invalider alter Kasten. Auf seinen Walzen fehlte manch' ein Stift und schon an der ersten Melodie, die er herunterwerkelte, konnte man's merken, daß er nicht in diesem und nicht im vorigen Jahre gebaut worden war, denn diese Musik war lang aus der Mode.

Und doch war sie selbst in diesem elenden Zustande noch von besonderer Kraft. Vielleicht auf das eine Wesen nur, das ihr jetzt, sich mit zitternden Händen an den Weiden haltend, horchte; horchte, als wär' es die gebrochene Stimme des alten Vaters 176 selber, der die Welt- und Gottverlassene rief in der entscheidenden Stunde.

Vielleicht hätten außer Bettina nur noch die ältesten Leute in der Stadt die einst beliebte Melodie wieder erkannt. Sie aber kannte das alte Lied nur zu gut, welches einst der Vater der Mutter zu Füßen gelegt in den Frührothstunden ihrer Liebe, das die Mutter an ihrer Wiege gesungen und der Vater an der Mutter Grab.

Der falsche Frohmuth, der krampfhafte Trotz glitten von ihrer Seele, und was sie seit gestern nicht mehr gekonnt, sie mußte bitterlich weinen, weinen über sich selbst. Noch dachte sie nicht daran, den unseligen Vorsatz von sich zu werfen. Es drückte sie nur nieder in die Kniee, nieder in's Gras, und wie sie sich mit beiden Händen noch immer an den Weidenzweigen festhielt, fielen die reichlichen Thränen vom vornübergebeugten Gesichte, fielen von bebenden Wangen in's nickende Gras.

Es rauschte ihr in den Ohren, es griff ihr an Herz und Hals. Sie konnte vor Weinen kaum athmen mehr. Sie ließ die Hände los und warf sich auf's Angesicht hin in's Gras der Wiese und die graugrünen Weiden schauerten über ihr und die jählings losgelassenen Zweige bebten noch lange hin und wider, als winkten sie Hülfe herbei. 177

»Sehen Sie einmal dorthin, Joseph, wie seltsam die Weiden schwanken.«

»Es liegt dort eine Frauensperson im Grase, Frau Baronin. Wer weiß, wer hinter ihr die Zweige wackeln macht, Frau Baronin.«

»Hinter den Weiden ist doch der Fluß.«

»Vielleicht wird im Fluß gebadet,« sagte der Kutscher und gab dem Handgaul noch ein übriges Zeichen mit der Peitsche, obschon dieser gar keine Miene gemacht hatte, auf das Wort seiner Herrin stille zu stehen.

Die junge Frau von Waldenberg erhob sich im Fahren und hielt sich an der hinteren Stange des Kutscherbocks fest, um besser nach der liegenden Gestalt im Grase dort drüben hinsehen zu können.

Bettina, durch das Geräusch eines Wagens erschreckt, reckte unwillkürlich den Kopf auf, und die beiden Frauen erkannten sich in demselben Augenblick.

»Halten, Joseph, halten!« rief Leonilla.

Bettina raffte sich auf und verschwand in den Weidenbüschen.

Im Sprung aus dem Wagen, im Laufe bei den Weiden, theilte Leonilla das Gebüsch mit entschiedenen Händen und stieß auf die Tochter des Organisten, die in der Hast der Flucht in's Dickicht gerathen war, wo sie nicht geradeaus mehr vorwärts konnte, und wie sie zur Seite ausbog, hielt sie die junge 178 Frau von Waldenberg in ihren schlanken, thatkräftigen Armen fest.

»Sie sehen, Fräulein, es soll heute nicht sein!« sagte Leonilla und rang mit der Verzweifelnden. »Ich lasse Sie nicht los!«

»Sie werden Ihre Robe naß machen, Madame,« versetzte Bettina, die nun dreimal lieber ertrunken wäre, als sich von der Verhaßten gerettet wissen wollte.

»Und wenn ich mit Ihnen in den Strom falle, ich lasse Sie nicht los!« rief Leonilla und sie lachte dabei wie ein an's Raufen gewohnter Junge und suchte mit aller Kraft der Rasenden Herrin zu werden.

Wer weiß, ob sie nicht doch noch den Kürzeren gezogen hätte, wenn Joseph nicht ungerufen seiner Gebieterin zu Hülfe gekommen wäre. Er hatte zwar den Frauenkampf unter den Weiden von seinem Kutschbock nicht sehen können, aber er sah, wie die Wipfel des Gebüsches durch einander schwankten, hörte die Zweige knicken und den Wechselruf erregter Stimmen.

Da war er im Nu vom Bock. Nur so viel Zeit, um die Leitseile um einen Baum zu binden, dann rief er der Baronin über die Wiese springend zu, daß er komme.

Der Leiermann, der dem fortrollenden Wagen dankbar nachschaute und beobachtete, wie zu seinem 179 größten Erstaunen erst die Dame, dann der Kutscher absprang, lief auch herzu, um sich vor die Pferde zu stellen.

Bettina wartete die hülfreichen Hände des Kutschers nicht ab. Noch eh' er sie anfassen konnte, rief sie der Baronin zu: »Um Gottes willen, ersparen Sie mir die Schande! Ich will ja gutwillig mit Ihnen gehen.«

»Und muthig weiter leben?«

»Wenn ich's im Stande sein werde!«

»Lassen Sie mich dafür sorgen.«

Bei den letzten Worten schon war der weibliche Ringkampf zur Umarmung geworden.

»Herr Jemine! das Fräulein vom Hinterhaus!« rief der Kutscher und sperrte Maul und Augen auf vor solcher Ueberraschung.

»Wer hat Sie gerufen, Joseph?« sagte Frau von Waldenberg zu dem verblüfften Helfer. »Bleiben Sie bei den Pferden! Wir haben hier noch zu reden.« Und kaum, daß Jener sich verdutzt wieder abgewendet, flüsterte sie Bettinen zu: »Sie sehen, daß ich Sie in meinen Wagen tragen lassen kann, wenn Sie mir nicht gutwillig dahin folgen mögen. Ihr verzweifeltes Vorhaben gibt mir das volle Recht, Sie zu vergewaltigen. Und wenn ich Sie binden lassen sollte, ich bringe Sie von dieser Stelle weg und, so Gott mir irgend Gnade schenkt, auch von diesem scheußlichen Vorsatze!« 180

Bettina blickte der Guten mit wildem Hohn in's Gesicht. Noch waren die vielen Thränen, die ein verirrtes Lied ihr aus dem Herzen gelockt, nicht alle auf ihren Wangen getrocknet, und die ersten Gefühle, die ihr die wiedergeschenkte Welt erweckte, waren Zorn und Haß.

»Seien Sie klug, Frau Baronin! Sie thäten besser, mich in's Wasser zu werfen, wo es am tiefsten ist, und mit einem Mühlstein am Halse! Glauben Sie mir, was Sie sich auch auf Ihren Edelsinn, auf Ihren Heldenmuth zugute halten mögen, ich werd' Ihnen nie um diese Rettung dankbar sein. Niemals! Ich vermag's nicht, wenn ich auch wollte, und – ich will's auch nicht einmal!«

Leonilla kehrte sich wenig an diese Rede. Sie betrachtete das wilde Mädchen mit unwillkürlicher Bewunderung. Wie ihre grauen Augen blitzten, wie das halboffene Haar im Sonnenschein funkelte, wie die starken Nasenflügel in der Aufregung sich blähten, – jetzt war Bettina von so eigenthümlicher Schönheit, daß die hochherzige Frau sich kaum an ihr satt sehen konnte. Sie ahnte nicht, daß es ein ernster, ein alter Haß war, der die kaum Gerettete verschönte. Ahnte nichts, obwohl es die Andere laut gestand.

»Halten Sie das nach Belieben!« sagte lächelnd Waldemar's Frau. »Es verlangt mich nach keiner 181 Rettungsmedaille. Aber versprechen Sie nur, daß Sie leben wollen.«

Und Jene entgegnete: »Es verspricht sich leicht, wenn man sich zum Gegentheil unfähig erwiesen hat. Ich bin selbst zu ungeschickt, um mich in's Wasser zu werfen. Ich bin eine Stümperin überall. Allein es würde mich anwidern, meine Stümperei auf demselben Gebiete zum zweiten Mal zu beweisen. Seien Sie außer Sorge: nun werd' ich leben, so lange und so gut es dem gütigen Gott gefallen mag!«

Leonilla antwortete nicht mehr auf diese lästerlichen Ausbrüche einer verstörten Seele, die ihr Gleichgewicht so rasch nicht finden konnte. Sie hatte Hut und Tüchlein Bettinens vom Gras aufgehoben, hielt die Gefangene bei der Hand und führte sie, die nicht weiter widerstrebte, zum Wagen hin.

Dort nahm »das Fräulein vom Hinterhause« neben der Tochter der Santalatona Platz und im flotten Trabe rollten sie der Stadt zu.

Wie Bettina diese Häuser, diese Menschen wiedersah, von denen sie auf alle Zeit Abschied genommen zu haben glaubte, löste sich ihr starres Herz immer mehr. Sie fühlte sich entsetzlich unwohl und in allen Gliedern wie gebrochen, dabei aber sah sie doch manchmal zu Frau von Waldenberg hinüber, wie man zu einer Retterin in der äußersten Noth hinblickt.

Auch Rede stand sie der Fragenden und so 182 erfuhr Leonilla das furchtbare Schicksal, das den armen Orlando betroffen, und was am gestrigen Tage sich in des Organisten verlassener Wohnung ereignet hatte.

Ihrer Theilnahme gab das Alles neue Nahrung.

Mit einer wahren Herzensfreude brachte sie die dem Leben Wiedergewonnene in ihr glückliches Haus.

Es war begreiflich, daß Bettina dringend bat, sich sofort zu Bette legen zu dürfen. Man sah's ihr an, daß sie sich kaum über die Treppe heraufschleppen konnte, und fühlte, daß ihr ein Fieber in den Pulsen schlug. Die Hausfrau sorgte für sie wie für ein krankes Kind und hieß sie schlafen und vergessen.

Waldemar küßte seinem tapferen Weibe Mund und Hände und pries die gute That nach Verdienst. Dennoch war etwas an der Sache, das ihm nicht sonderlich behagte. Es ward ihm just nicht leicht, sein leises Unbehagen seiner Gattin mit einfachen Worten klar zu machen. Und da ihm nichts Besseres einfiel, so sagte er ihr den Vers aus dem Parzival:

»Wem du rettetest das Leben,
Nie wird es Jener dir vergeben!«

Leonilla schalt ihn einen harten Mann. Aber sie gewann es doch über ihn, daß er nicht nur dareinwilligte, die von ihr Gerettete in seinem Hause zu behalten, sondern auch zu seinem alten Hausgenossen, dem Tenoristen Eduard Bolle hinüberging und ihn 183 darüber aufklärte, daß seine Frau schon seit einigen Tagen halb und halb mit Bettinen einig geworden, und daß es ebenbesagte Frau Leonilla von Waldenberg und niemand Anders gewesen wäre, die gestern seinem Pflegekind drei halbe Goldkronen Aufgeld gesendet hätte, – die unschuldige Ursache so bedauerlicher Mißverständnisse.

Ob Waldemar das Alles in sehr glaubwürdigem Tone vorgebracht, ob es ihm Eduard Bolle sonder Vorbehalt geglaubt, das weiß man nicht. Aber Jeder, der den wackeren Mimen in diesen Tagen sah und sprach, konnte ihm die ernstliche Betrübniß anmerken, mit der er sich in seiner Weise abzufinden suchte. Nicht daß es ihn zerknirschte, sein Pflegekind allzu unvorsichtig verurtheilt zu haben – wenn Bettina so ganz unschuldig war, was zeigte sie sich so tückisch wie eine verstockte Sünderin! – Aber der stille Glanz, das jungfrische Leben war weg aus seinem Neste. Nun war er da so ganz allein, wo es früher so munter behaglich gewesen. Einer nach dem Andern hatte ihn verlassen. Seine Frauen waren gestorben. Seine Kinder in der Welt; Basil gar über'm Meer! Der Rittmeister war in eine ganz andere Sphäre gerückt, der alte Musikant war in's Irrenhaus und seine Tochter gar in's Wasser gegangen. Das konnt' er dem Kinde und – er wußt' auch das, – das konnte ihm das Kind niemalen ganz vergeben. Er wußte 184 nicht, wie wieder mit Bettinen anbinden. Die alten Fäden waren alle zerrissen und zerrissen auf gar gewaltsame Art.

Bolle ging wohl dahin, wo die Waldenberger wohnten, um mit der Genesenden sich zu besprechen. Er nahm sich auch vor, ihr kein hartes Wort zu sagen, und was er sich einmal vorgenommen, das hielt er treu. Aber er hatte sich nicht vornehmen können, mit dem entlaufenen »Hausmütterchen« herzlich und rückhaltlos wie in alter Zeit zu reden. Denn was er nicht halten konnte, nahm er sich nie vor. Auch galt es ihm nicht für recht.

Die fremden Leute, das vornehme Haus, das Alles störte ihn überdieß.

Und so war's ein kühler, nüchterner Besuch, dabei Bolle Bettinen und diese ihm nicht viel zu sagen hatte. Was sie Beide gegenseitig über theilweisen Verkauf oder theilweise Erhaltung der Sachen Hunzelsperger's meinten, erregte bei Keinem Widerspruch, Bettinens Gesundheit war nicht bedenklich angegriffen, sie schien in den besten Händen, er aller Fürsorge überhoben.

Als Orlando's Tochter wieder aus dem Bette war, kam Bolle noch einmal, um ihr Glück zu wünschen, und da Frau von Waldenberg nur ihre völlige Genesung abgewartet hatte, um auf's Land zu ziehen, so erschien er noch ein drittes Mal, um ihr Lebewohl zu sagen. 185

So gern der alte Eduard das Mädchen gehabt hatte, jetzt war er froh, daß er nicht weiter zu ihm bemüßigt wurde.

Allein in alten Tagen! »Gemeines Menschenloos, das ist ganz einfach!« pflegte sich Bolle zu sagen. Aber es tröstete ihn doch schlecht. Der Lücken, die gerissen, waren zu viel auf einmal.

Und wie war's mit dem Waschen und Kochen? Sollt' er das nun sich auch alleine besorgen?

Er hatte so oft gewünscht, daß Bettina aus dem Hause kommen möge. Nun sie fort war, fehlte sie ihm an allen Ecken und Enden. Dennoch wünschte er sie nicht zurück.

Die neuen Hausgenossen waren unbehagliche Leute. Und waren sie's auch nicht, wo fand er welche vom alten Schlag. Solch' Leben wie damals, das macht sich nicht im Handumkehren und nicht mit Jedem, der da will. O, die gute, verwichene Zeit!

Bolle dachte hin und her, wie's besser zu wenden wäre, dachte dabei, er werde sich so wohl auch gewöhnen, schrieb aber mittlerweile doch an seine sämmtlichen Söhne, ob keiner ihn besuchen, ob keiner eines seiner vielen Enkelkinder zu ihm geben möge.

Der biedere Böttcher Tamino und der vielgerühmte Kunstschlosser Severus kamen wohl nach einander. Sie freuten sich Beide, den lieben Vater noch so rüstig und wohlgemuth zu finden, gingen jeden Abend 186 in's Theater und nach dem Theater mit dem Alten in's Bräuhaus. Tauschten ihre Meinung mit ihm über Dies und Das aus und fuhren dann mit seinem Segen wieder heim. Die Kinder brauchte Jeder selber im eigenen Hause, wo die Wirthschaft für Viele viele Hände regte.

Der jüngste seiner Söhne, Basil, der Chemiker, hatte noch keine Kinder, er war unverheirathet. Der leistete nicht einmal seiner Einladung Folge. Er saß drüben in England auf einer Fabrik, wo er mir nichts dir nichts nicht abkommen durfte.

Das wäre auch gar nicht nach Vater Bolle's Sinn gewesen. Er trug den herzlieben, lustigen Brief, welchen ihm der Bursch geschrieben, ein paar Wochen mit sich in der Tasche herum. Er hatte ihn seinen Kollegen in der Garderobe, wie seinen Freunden im Bräuhause vorgelesen. Und erst als das starke Papier vom vielen Herumtragen an den Bügen zu brechen drohte, dann legte er ihn zu seinen übrigen Briefschaften in die Lade.

Ueber diesen Versuchen hatte er sich mehr oder weniger in seiner häuslichen Vereinsamung eingewöhnt und lebte ohne viel Veränderung weiter wie vordem. Jede Woche einmal ging er vor die Stadt hinaus, um seinen Freund Hunzelsperger zu besuchen, für den er treulich und gewissenhaft besorgte, was nöthig war und wie's die Tochter auf seinen Rath hin festgestellt hatte. 187

Orlando freilich wußt' es ihm keinen Dank. Aber Bolle machte da draußen noch andere Bekanntschaften an Gesunden und Kranken und verbrachte manche behagliche Stunde im Garten, im Musikzimmer, im Bierstübchen.

Die Aerzte sahen ihn gern und wer freie Zeit hatte, freute sich über den Braven, der von dem armen Hunzelsperger nicht ließ, auch da ihn dieser längst nicht mehr kannte. 188

 


 


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