Hans Hopfen
Die Heirath des Herrn von Waldenberg
Hans Hopfen

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XII.

Während Solches ohne Wissen der guten Frau von Santalatona sich ereignete, war ihr ganzes Dichten und Trachten damit beschäftigt, dem erhofften Erscheinen Waldemar's in ihrem Hause also vorzuarbeiten, daß Leonilla nur ja keine Witterung von der Mutter selbstständigem Vorgehen erhalten konnte.

Für's Erste schämte sie sich vor aller Welt und selbst vor ihrer Tochter, daß sie in solcher Absicht einen Mann in seiner wüsten Junggesellenwohnung aufgesucht hatte, sie, die ihr Lebtag nicht einen Fingerbreit vom schönen Pfade feinster Sitten und untadelhaften Anstandes abgewichen war, sie, die sich selbst so gern als Muster frauenzimmerlichen Wohlverhaltens anführte.

Alsdann ward sie die Sorge nicht los, daß eine scheue, schwärmerische, empfindliche Natur, wie Leonilla, sich an so grell ausgeführter Fürsorge einen Schreck für's ganze Leben holen möchte. Sobald 215 der Schritt, welchen die Mutter zu Gunsten Leonilla's gethan, dieser bekannt wurde, war zu fürchten, daß nicht nur das Glück und vielleicht das Leben, sondern auch die Liebe des Kindes zu der Mutter preisgegeben war.

Leonilla war in der That ein eigen Ding! Theodora hatte dem Mädchen von klein auf den eigenen Willen gelassen. Es ist ja so süß, einem Wesen, das man liebt, jeden Wunsch an den Augen abzusehen. Es macht so glücklich, ein theures Kind wenigstens auf Augenblicke glücklich zu machen. Nun sie von dreien Lieblingen nur einen einzigen behalten, was Wunder, daß ihre Sorgfalt verdreifacht auf den einen übergegangen war!

Nun war aber Leonilla schon so oft, wenn auch nur immer auf kurze Augenblicke, glücklich gemacht worden, daß sie die allzu viele Fürsorge satt hatte. Wie Menschen, die mit süßem Zeug vollgestopft werden, sich nach grobem Roggenbrode sehnen, so gönnte sie das meiste Glück, das ihr »für kurze Augenblicke«, aber in Hülle und Fülle zu werden pflegte, gern anderen Leuten und empfand eine natürliche Sehnsucht nach etwas derberer, vernünftigerer, rücksichtsloser Behandlung.

Vielleicht hatte die Hoffnung, eine solche zu erhalten, mit dazu beigetragen, ihre Gedanken an den stattlichen Reitersmann zu fesseln, der ihr gefiel und 216 der mit Niemand viel Umstände zu machen schien – mit Frauensleuten am allerwenigsten. In jedem Fall empfand sie gebieterisch das stolze Bedürfniß, sich ihr Glück selbst zu schmieden.

Sie hatte, wie alle verzogenen Kinder, einen ungebrochenen Eigensinn. Ein Glück, wenn dieser einmal das Richtige traf!

Obwohl sie sonst nicht viel vor der Mutter geheim zu halten pflegte, für heute fand sie sich leicht in den Gedanken, daß Frau Theodora nichts von der Geschichte mit der Rose ahnte. Je länger sie sich in ihr kleines Abenteuer vertiefte, desto größer wurde die Scheu gerade vor der Frau, welche es mit ihr am besten meinte auf der ganzen Welt.

Sie saß auf dem Boden, den Ellenbogen auf einen Stuhl gestützt, die wühlende Hand im Haar und starrte vor sich hin, ohne etwas zu sagen. Sie wollte sich noch einmal Waldemar's Augen vor die erinnernden Sinne zaubern. Es gelang ihr nicht. Ein anderes Bild drängte sich immer wieder vor ihre schaudernde Vorstellung. Warum gerade jetzt?

Ihr war's, als schwände die Zeit zurück, als wäre sie wieder ein kleines Kind, das eben lesen lernte, sie säße, wie jetzt, auf dem Boden desselben Zimmers und schmiegte das Haupt an die Kniee ihrer zitternden Schwester Carlotta.

Schwester Carlotta hatte so eine wunderliche 217 Art, ihr durch's Haar zu fahren, und eine so eigenthümliche, eine so lieblich klare, doch so traurige Stimme. Leonilla mußte weinen, wenn sie so recht an die Stimme dachte, und es war ihr just nicht anders, als klänge sie gemischt mit ihrer eigenen Kinderstimme von dazumal wieder durch den liebgewohnten Raum.

»Plaudere doch nicht immer vom Sterben, Carlotta,« sagt das Kind und umschlingt die Kniee der Schwester mit den schmächtigen Armen. »Ist das Leben nicht schön? bist Du nicht schön? und haben wir Dich nicht Alle lieb?«

»Jeder in seiner Art!« sagt Carlotta leise und seufzt dabei und sieht hinaus in's Leere, die Hand in Leonilla's Haaren.

Und das Kind sagt wieder: »Niemand hat Dich so lieb wie ich und Mama.«

»Ja, ja,« sagt Carlotta, »und weil mich Mama gar so lieb hat, darum muß ich sterben!«

Damit schlägt sie sich beide Hände vor's Gesicht und fängt an so bitterlich zu weinen, daß sie ihrer Thränen nicht mehr Herr werden kann. Sie wirft sich an die Erde und krallt die Nägel in den Teppich und stopft das Taschentuch sich in den Mund, nur damit die Mutter sie nicht weinen höre; die soll es nicht hören.

»Riegle die Thüre zu, Liebchen,« stammelt sie 218 unter Schluchzen der Kleinen zu. Und diese thut's, denn sie fürchtet, Carlotta stürbe gleich auf dem Fleck, wenn die Mutter sie in solcher Stunde überraschte. Dann setzt sich Leonilla zu der Verzweifelnden an die Erde und faltet die Händchen und sieht die arme Schwester rathlos an. Die wirft sich wie eine Fiebernde hin und wider; unaufhörlich strömen ihr die Seufzer von den Lippen und die Thränen aus den Augen, bis endlich die Augen matt und blasser werden und die Erschöpfte regungslos auf dem Teppich liegen bleibt wie eine Schlafende, wie eine Todte.

Das Kind Leonilla sitzt still bei der Leblosen. Sie begreift nicht, warum die süße Carlotta so bitterlich weinen kann. Aber sie ist's gewöhnt. Und so hat sie jetzt nur eine Sorge, eine Sorge, welche sie die frommen Händchen krampfhaft falten und zum lieben Gott beten läßt, daß er nur ja die Mutter nicht an der Kammerthür vorüberführen möge. Denn vor der Mutter fürchtet sich Carlotta und doch ist die Mutter so gut gegen sie.

– Ein andermal wacht Leonilla mitten in der Nacht auf. Ein weißer Schatten hockt an ihrem Kinderbettchen. Sie fährt entsetzt in die Höhe, sie will aufschreien vor Angst, da erkennt sie, daß es ihre blasse Schwester ist, die bei ihr wacht und begütigend die Hand nach ihr ausstreckt. 219

»Carlotta? Du bist's?« spricht das Kind ganz leise, denn sie weiß es, die Mutter darf's um Gottes willen nicht hören. »Warum weckst Du mich? Warum schläfst Du nicht, Du Liebe?«

»Ich kann nicht schlafen, süßes Herz,« lispelt Carlotta, »und ich wollte Dich noch einmal sehen.«

»Willst Du denn schon heute sterben?« sagt die kleine Leonilla und setzt sich wie eine Zornige im Bettchen auf.

»Es ist mir so zu Muthe,« antwortet Carlotta, indem sie die Hand auf's Herz legt und mit den großen Augen gegen die Decke blickt.

Draußen erblaßt die Nacht. Das Kind kann allmälig alle Gegenstände im Zimmer unterscheiden.

»Ich wollt', es wäre heute!« seufzt Carlotta tief auf und sagt dann: »Gute Nacht!« Dann küßt sie das Kind in die Haare – sie küßt niemals Jemanden auf den Mund, ach, schon wie lange nicht mehr! – heißt es schlafen und geht.

Noch eh' es lichter Tag wird, erwacht das Kind aus bangen Träumen. Dunkel anfangs, dann immer klarer erinnert es sich der Unterredung in heutiger Nacht. Eine entsetzliche Angst schnürt ihm die Kehle zusammen: wie, wenn Carlotta wirklich, wie sie wünschte, schon jetzt gestorben wäre?

Es duldet die Kleine nicht länger im Bett. Sie will vor Angst ersticken. Im bloßen Hemdchen, 220 barfuß – damit es ja die Mutter nicht hört – schleicht sie hinüber in's Zimmer der großen Schwestern. Theodolinde schläft. Sie sieht's genau. Denn auf Carlotta's Tischchen brennt ein Licht. Es ist nur mehr ein kurzes Stümpfchen. Die Kerze hat wohl die ganze Nacht gebrannt.

Carlotta liegt halb aufrecht, den Ellenbogen in die Kissen gestützt. Die schwarzen, lang hinab geringelten Haare fallen über den abgemagerten Arm. Vor sich im Bett hat sie Papiere liegen, wie zerknitterte Briefe sieht's aus. Aber sie liest nicht. Ohne sich zu rühren, heftet sie die überwachten Augen auf das Kind, wie ob der Störung ungehalten.

»Ich hatte so viel Angst um Dich!« sagt die Kleine, nicht anders, als wär' es nöthig, sich zu entschuldigen.

»Närrchen, Du zitterst ja am ganzen Leibe.«

»Ja, Carlotta, mich friert. Laß mich zu Dir!«

»Komm'!«

Die Kleine springt zu der Schwester in's Bett und klammert sich mit beiden Armen um den Hals der Theuren.

»Nicht wahr, Carlotta mein, Du wirst nicht sterben?« fragt das Kind mit der ganzen Herzensangst und sieht besorgt den blassen Liebling an.

Ueber Carlotta's Lippen geht ein seltsames Lächeln. 221

»Wie Gott will!« sagt sie und bläst das Licht aus.

Leonilla schmiegt sich nur um so fester an sie.

»Höre mich!« sagt jetzt die Schwester ganz leise. »Wenn's doch Gottes Wille sein sollte, daß er mich eines schönen Morgens zu sich nimmt . . . willst Du mir dann noch etwas zuliebe thun?«

»Alles, Alles! Aber Du wirst nicht sterben!«

»Schon gut, Herzchen! Jedoch gesetzt den Fall, Du wirst einmal von Schluchzen und Schreien geweckt und hörst, ich sei in der Nacht verschieden. Dann läufst Du wohl so wie heute herüber an mein Bett und es werden mehr Lichter brennen als heute, da Du kamst, und dabei magst Du erkennen, ob es wahr ist, was sie sagen . . . Weine nicht so laut, sonst weckst Du mir Theodolinden auf; die aber hält es mit der Mutter um jeden Preis. Darum sag' ich Dir, was ich will, nicht Jener dort drüben und sie braucht es nicht zu hören, was ich Dir sage . . .«

»Nun, dann soll ich?«

»Dann denke: meine todte Schwester sieht, ob ich Wort halte oder nicht, und wenn ich nicht Wort halte, weint sie noch im Grabe.«

»Ich werde Wort halten.«

»Dann – die Andern werden es nicht Acht haben in ihrem Schmerz – dann schiebe die Hand hier unter mein Kissen, so wie ich Dir jetzt die Finger führe. Fürchte Dich nicht, es wird mir wohl 222 thun, wenn ich dessen noch Erfahrung habe. Fürchte Dich nicht und greife, bis Du etwas findest, so wie jetzt . . . Findest Du was?«

»Ja. Es greift sich an wie Kartenpapier.«

»Gut so. Laß es für heute. Aber wenn ich todt sein werde, dann suche, nimm und verbirg es, damit es Niemand sieht als Du. Niemand, verstehst Du mich, Kind! Es sei Dir das heilige Vermächtniß Deiner liebsten Schwester. Es sind zwei Briefe und ein Bild. Besser, Du liesest die Briefe nicht – es weht Einen traurig an daraus – und verbrennst sie unbesehen. Vielleicht hab' ich noch selbst vorher Kraft und Besinnung genug, sie zu verbrennen. Aber es wird mir schwer, mich von ihnen zu trennen, so lang ich noch die Augen öffnen kann. Willst Du mein Vermächtniß annehmen?«

»Ja, Carlotta!«

»Schwör' es mir!«

»So wahr ich Dich lieb habe!«

*

– Carlotta lebte darnach noch länger als einen Monat. Als wirklich in einer Nacht vom ungewohnten Geräusch Leonilla erwachte, sah sie die Mägde hin und wider rennen, lauter verstörte, rathlose Gesichter. Sie horchte. Sie hörte heftig weinen.

Sie selber weinte noch nicht. Die Kleine biß 223 die Lippen übereinander und zog sich an. Nicht allzu rasch. Sie nahm noch ein Tuch um die Schultern, denn es fror sie sehr. Dann ging sie hinüber in's Zimmer der erwachsenen Schwestern.

Da fand sie die Mutter, ihre Schwester Theodolinde, die Erzieherin, den Hausarzt, den alten Diener, die Mägde – alle, alle in Thränen, alle außer sich vor Schmerz.

Carlotta lag regungslos in ihren Kissen, noch viel blasser als sonst. Wieder brannte ein Licht ihr zu Häupten, aber es war kein Stümpfchen mehr. Es war eine ganz frische Kerze.

Noch viel andere Lichter brannten in der Stube.

Unter den flimmernden Strahlen war es der Kleinen, als öffnete Carlotta noch einmal die großen, schwärmerischen Augen und heftete sie auf Leonilla.

Durch die Stube klang ein irrer Ton. Es klang in Leonilla's Ohren.

»Nun?!«

Es war dem Kinde deutlich so, als wäre Carlotta noch nicht todt, als schliefe sie nur oder stellte sich schlafend, um die Treue der kleinen Schwester auf die Probe zu stellen. Erst wenn die Treue gehalten, erst wenn der Wunsch erfüllt, erst wenn das Vermächtniß ergriffen wäre, dann erst könnte die arme Seele heimgehen in Frieden. Und was sie jetzt gefesselt hielte, wäre nur ein schmerzlicher Krampf 224 banger Erwartung, trostlosen Schmerzes – noch nicht der Frieden des Todes.

»Ich will Dich erlösen von der Angst,« sagte Leonilla lautlos zu der Leiche und meinte doch ihr eigenes Herz.

Mit weit ausgebreiteten Armen stürzte sie auf die todte Schwester zu, warf den linken um die reglose Brust, wühlte das Angesicht in's Kissen neben der Geliebten Haupt und also die klappernden Zähne verhindernd, daß sie sie verriethen, schob sie die rechte Hand unter die Polster.

Diese unter dem leichten Haupt, hatten ihre Finger die nämliche Empfindung wie damals, als Carlotta ihr die Hand geführt. Sie ergriff eine steife Karte, die sie für eine Photographie hielt. Ohne daß einer der Anwesenden es merkte, ohne ihren Körper vom Lager der Todten zu erheben, brachte sie die Hand mit dem Papier unter ihr Tuch und barg das Vermächtniß Carlotta's an ihrer kindlichen Brust.

Noch einmal fuhr sie mit der kühnen Hand unter das Kopfkissen. Vergebens! Es waren keine anderen Papiere mehr zu finden.

»Du hast sie verbrannt, Carlotta?« sagte sie, ohne einen Laut von sich zu geben, aber mit solcher Inbrunst der Seele, daß sie die Worte mit ihren eigenen Ohren zu hören vermeinte.

Drauf ging ein tiefer Seufzer durch's Gemach, 225 wie aus einem Busen, von dem eine Centnerlast gehoben wurde. Laut und lauter schluchzten die Weiber darnach. Es klang fast wie Geschrei. Leonilla wagte es nicht, das Gesicht von den Kissen zu erheben, sie fürchtete sich, der Todten in's Gesicht zu sehen. Wenn Carlotta die Augen offen hätte!

Und doch konnte sie es in der Nähe des Leichnams vor Angst nicht länger mehr aushalten.

Die über Maßen angestrengte Willenskraft des Kindes spannte sich ab. Die Sinne vergingen ihm. Es taumelte, griff in die Luft und lag leblos zu den Füßen der Verstorbenen.

– Als Leonilla nach wenigen Minuten in einem anderen Zimmer wieder zu sich kam, war ihr erstes Gefühl das der Angst: ob sie das Vermächtniß der Schwester nicht in ihrer Bewußtlosigkeit preisgegeben hätte. Sie legte die Hand auf das zitternde Busentuch. Sie war treu geblieben.

Man wollte sie entkleiden, zu Bett bringen.

Sie wehrte sich wie eine Wüthende. »Faßt mich nicht an!« rief sie. »Ich bedarf eurer Hülfe nicht! Geht zu Carlotta!«

Dann setzte sie sich hin und konnte weinen.

Die Karte, die sie unter dem Haupte der Verstorbenen gefunden, verbarg sie ungesehen. Sie zog ein Lädchen ihres Schreibtisches auf, preßte die Augen fest zu, legte die Karte in's Fach, und erst nachdem 226 das Lädchen wieder zugeschoben, öffnete sie wieder die Wimpern.

Es dünkte sie, als hätte sie noch kein Recht, das Eigenthum der Schwester mit ihrer Neugierde zu entweihen, ehe jene nicht zur Erde bestattet sei.

Erst am Sonntag nach dem Begräbnisse, während die Anderen alle zur Kirche waren, trat sie wieder vor den Schreibtisch. Man hatte sie zu Hause gelassen, weil sie seit der Ohnmacht am Todtenbette Carlotta's für krank galt. Vielleicht war sie's auch, ohne es selbst zu glauben.

Sie fühlte kein Ungemach, nur ein allzu heftiges Pochen des Herzens. Durch's offene Fenster strich goldener Morgensonnenschein und kühlende Luft. Vom nahen Dome klangen die Glocken so friedlich, als riefe ihr die geschiedene Schwester zu: »Muth, kleines Herz, ich bin in Gott geborgen!«

Sie überwand den letzten Schauder und rasch, als gehörte die nächste Minute nicht mehr ihrem freien Willen, zog sie das Kärtchen aus ihrer Schieblade.

Es war das photographische Bildniß eines jungen Mannes in Reiteruniform. Eine der oberen Ecken des Kärtchens war angesengt, aber das Bild selbst kaum beschädigt. Es war klar, daß Carlotta, da sie den Tod sich nahen fühlte, das Kärtchen mitsammt den Briefen verbrennen gewollt. Aber sie hatte es doch nicht über's Herz gebracht und die Flamme 227 wieder gelöscht, ehe diese das Antlitz des Geliebten erreicht hatte.

Leonilla besah sich das Bild recht genau. Sie mochte sich besinnen, wie sie wollte, sie hatte dieß Gesicht nie in ihrem Leben gesehen. Es war keiner von den Bekannten des Hauses. Und doch die Photographie schien gelungen und dem Urbild ähnlich. Fein geschnittene Züge, magere Wangen, ein zierliches Bärtchen über der schmalen Lippe, ein träumerischer Blick, die dunklen Haare etwas länger, als man sie sonst zur Uniform zu tragen pflegt.

Was sollte Leonilla weiter mit dem Bildchen? Ihr sagte es nichts. Es vor der Mutter verbergen? Geschah das nicht am besten, wenn sie Carlotta's Beginnen vollendete und die Karte, von der sich die Lebende auch in der letzten Stunde nicht hatte trennen wollen, nun der Todten in's Aschenreich nachsendete, wenn sie das Bildchen verbrannte? Aber wie, wenn der Mann einst käme und sie nach dem Vermächtniß Carlotta's fragte? Er weiß vielleicht gar nicht, daß Carlotta todt, und es wird ihm ein Trost sein, wenn er sieht, wie treu die Aermste an dem Bildchen gehangen.

Also in Gedanken, wendete sie mehr zufällig als absichtlich die Karte in der Hand. Die Rückseite war beschrieben.

Kurz über der Mitte des weißen Blattes standen 228 in klaren, schwungvollen Buchstaben von fremder Hand die wenigen Worte:

»Leben Sie wohl! Vergessen Sie mich nicht ganz!

O., 31. Dezember 1869

A. v. St.«

Niemals!«

stand darunter mit Carlotta's, der Schwester wohlbekannten Schriftzügen.

Dann, offenbar von einem späteren Tage – man merkte es an der Tinte – sah man, wieder von Carlotta's Hand, ein Kreuz gemalt, wie man's neben den Namen eines Verstorbenen zu machen pflegt, und dabei das Datum:

»† 16. August 1870.«

Darunter hatte die Schwester geschrieben:

»Ich folge Dir!«

und offenbar wieder an einem späteren Tage:

»Meine Mutter hat es so gewollt!«

Leonilla war damals noch ein Kind von kaum dreizehn Jahren. Es schauderte sie. Lange stierte sie auf die Handschrift der geliebten Schwester, die ihr mit wenigen Worten die traurige Geschichte ihrer Liebe und ihres Todes enthüllte. Die Buchstaben tanzten ihr vor den Augen, es war ihr, als wüchse der gefallene Mann zu Leibeslänge schattenhaft aus dem Kärtchen in ihrer Hand und hinter ihn auf ein gespenstiges Roß schwänge sich im weißen 229 Todtengewande Carlotta, und sie jagten selbander davon, wie es in Bürger's »Leonore« geschildert ist:

Des Leibes bist du ledig.
Gott sei der Seele gnädig!

Noch immer hallten vom Dome die Glocken her. Leonilla faltete die Hände und betete. Für die Schwester und für ihn, dessen Namen sie nicht kannte.

Sie verbrannte das Bild nicht. Sie verschloß es bedacht und sorgfältig, wo es kein Unberufener finden konnte.

Aber lange noch, wo immer sie ging und stand, sah sie vor sich die entsetzlichen Worte flimmern: »Meine Mutter hat es so gewollt!«

Diese Mutter, die so gut und zärtlich zu ihren Kindern war? die nur im Glück der Kinder lebte? Die ihnen jeden Wunsch an den Augen absah?

»Vielleicht nur die kleinen Wünsche!« bedeutete sich Leonilla, nachdem sie lange sich den Kopf über diesem Zwiespalt zerbrochen hatte. »Aber die großen, an denen Glück und Leben hängt, die versagt sie! Arme Carlotta!«

Seltsam! Je gütiger die Mutter von nun an gegen Leonilla war, desto deutlicher jedesmal fielen dieser die letzten Worte Carlotta's in's Gedächtniß. So oft die Mutter einen Wunsch ihrer harmlosen Seele errieth, erschrak sie, denn sie mußte denken: es ist das Alles nur ein Entgelt dafür, daß sie dir 230 einst den großen Wunsch deines Lebens verweigern darf, unerbittlich, wie sie es vordem der armen Schwester gethan.

Leonilla wurde älter und klüger. Aber dieß Mißtrauen überwand sie nicht. Manchmal nahm sie das angesengte Kärtchen in die Hand und schlang darum ihre irrlichterirenden Gedanken.

Mit Theodolinden sprach sie nie über dieß Vermächtniß Carlotta's. Diese hatte ja ausdrücklich gesagt, daß die andere Schwester nichts davon zu wissen hätte. Auch war Linda nicht von den umgänglichen Mädchen, besonders nicht im Hause. Sie hatte dicke Bücher in ihrer Stube und that sich was zugute darauf. Kam die Jüngste muthwillig und keck in die Stube gesprungen, so sah Theodolinde entweder gar nicht auf von ihren vielgeliebten Scharteken oder sie nahm den Störenfried gar bei der Schulter und schob ihn zur Thüre hinaus. Wo sollte da Zutrauen herkommen?

Immerhin liebten sich die Schwestern zärtlich.

Aber Theodolinde kam sich in ihrer Gelahrtheit so superklug vor und hielt sich für so viel älter als ihre Jahre waren, daß sie ein gutes Recht zu haben glaubte, die jüngere Leonilla immer wie ein unmündiges Kind zu behandeln, das schon die unreife Jugend von jedem ernsthafteren und verfänglichen Gespräch ausschloß. 231

Da Theodolinde in rückhaltloser Freundschaft mit der Mutter lebte, entbehrte sie nichts im Gemüthe. Leonilla jedoch, frühreif und durch der Schwester Vermächtniß zu wunderlichen Gedanken verführt, vereinsamte dabei mehr als gut war.

Allmälig freilich, da diese denn doch ein unleugbares Fräulein geworden, wollte sich auch die Schwester freundschaftlicher zu ihr stellen. Aber um dieselbe Zeit erschien Theodolinde auch in manch' anderem Belang wie umgewandelt. Es war recht deutlich, daß ein schweres Herzeleid über sie gekommen. Sie saß wohl noch halbe Tage bei ihren Büchern, allein ihre Augen gingen drüber weg, ohne auf den krausen Schriften zu haften, und manchmal füllten sie sich mit Thränen.

Nun hatte sie nichts mehr dawider, wenn Leonilla bei ihr saß und mit ihr plauderte.

Sie gab oft wunderliche Antworten.

Freilich, Leonilla fragte manchmal auch wunderlich genug.

So fragte sie einmal: »Warum doch unsere Schwester Carlotta gestorben ist?«

»Weil sie nicht Kraft genug hatte, ihr Schicksal in eigene Hand zu nehmen, und die ihr im Wege standen, zu zwingen,« gab Theodolinde zur Antwort.

Leonilla erstaunte gar sehr ob dieser Weisheit. Carlotta hätte also nicht blind zu gehorchen brauchen? Herz gegen Herz, das stärkere siegt! 232

Aber Die solche Weisheit trocken hinwarf, krankte selbst und, wie es schien, an derselben Krankheit, wie Carlotta.

Und wieder fragte die Kleine: »Warum nimmst Du Dein Schicksal nicht in eigene Hand und zwingst die Anderen?«

Theodolinde lächelte bitter über so kindliche Logik. »Weil es stärker ist als ich.«

»Das konnte Carlotta auch sagen.«

»Nicht mit demselben Rechte.«

»Warum nicht?«

Theodolinde zuckte wieder vornehm lächelnd die Achseln. Besann sich, wie man dem Kinde sagen sollte, was man ihm nicht erklären durfte, und sprach dann: »Es gibt Ketten, die nur Der zerbrechen kann, welcher sie trägt! . . . Ach, Kind, Kind, hänge Dein Herz nicht an das Unerreichbare. Wer das Unmögliche begehrt, gleicht einem thörichten Schützen, der mit Pfeilen nach dem Monde schießt!«

Theodolinde, die so viel mit Büchern verkehrte, liebte auch wie ein Buch zu sprechen.

Leonilla, die im Hause gar offene Augen und Ohren hatte. wußte lange vorher, auf welche Wünsche, welchen Mann all' diese Gleichnisse zu deuten waren.

Für sich zog sie aus jenen stolzen Worten nur die Lehre: Dawider, daß Theodolinde das Herz an's Unerreichbare hängte, dawider hatte die Mutter nichts 233 einzuwenden. Sie sitzen Tag und Nacht beisammen und Eine gibt der Andern Recht. Und Theodolinde siecht doch dahin wie Jene. Was aber Carlotta betrifft, so hätte diese nicht zu sterben gebraucht, wenn sie stärkeren Herzens und flinkeren Willens gewesen wäre.

Das merkte sich Leonilla wohl. Und Carlotta's Worte hinter dem einen, Theodolindens Ausspruch hinter dem andern Ohr, lebte sie verschwiegenen Sinnes weiter und guckte mit großen Augen in die Welt hinein.

Eine ernsthafte Natur, die still für sich ihre Gedanken austiefte, hatte sie ihr System lang fertig, ehe der tapfere Mann ihr begegnete, für welchen sie sich mit der in ihrer Familie herkömmlichen Leidenschaftlichkeit begeisterte. Auch sie war zum Sterben verliebt in den stattlichen Helden. Aber sie wollte nicht sterben. Sie wollte nicht verhauchen als ein nutzloses Opfer einer wahnsinnigen Leidenschaft, wie die zwei armen vorangegangenen Schwestern. Warum sollte sie nicht durch Anderer Schaden klüger geworden sein! Sie wollte mit dem Manne, den sie liebte, leben und glücklich sein, so glücklich, als man auf Erden nur werden konnte. Glücklich für Drei; war sie nicht die Erbin ihrer Schwestern, die doch auch ihr Theil vom Geschick zu fordern gehabt und nichts empfangen hatten? 234

Sie hatte weislich gefragt und geforscht. Sie wußte, daß sie ihr Herz nicht an ein Unerreichbares gesetzt, und sie nahm sich vor, ihr Glück mit eigener Hand zu schmieden.

Wer weiß, ob ohne diese theuererkaufte Weisheit an jenem Morgen die beiden Rosen so, wie geschehen, vom Fenstersims gefallen wären. 235

 


 


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