Hans Hopfen
Die Heirath des Herrn von Waldenberg
Hans Hopfen

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IV.

Daß ihr mir nichts über den Alten sagt!

Bolle, den wir mit Stolz den unseren nannten, Eduard Bolle war ein Mordkerl, ein ganzer Kerl war er. Ihr werdet nimmer seines Gleichen sehn – unter Tenoristen schon ganz gewiß nicht!

Ich stelle mich dabei nicht so fest auf den einseitigen musikalischen Standpunkt. Von diesem aus betrachtet, würde Vater Bolle vielleicht gegen manchen minder würdigen Mann zurücktreten. Bolle mußte als Totalität gewürdigt werden.

Die Glanzzeit seiner Stimme war lange schon vor Beginn dieser Geschichte verblüht. Freilich stand er noch immer seinen Mann auch auf der Bühne. Aber es ist doch ein fühlbarer Unterschied, ob Einer früher den Freischützen Max gesungen hat und jetzt den Fürsten Ottokar von Böhmen singt, der nur im letzten Akte ein Bischen was dreinzureden hat! Früher Tamino und jetzunder Mohr! Und dabei – pfui über das undankbare Publikum! – wußte man dem 54 vielseitigen Menschen gar nicht genügenden Dank. Die Leute bildeten sich nun einmal ein, in dem ernsthaften Bolle eine »komische Kraft« um jeden Preis finden zu wollen. Machte er Späße, gut, dann war alle Welt zufrieden. Wollte er aber Fürchterliches vorbringen oder gar liebenswürdig oder liebevoll erscheinen, sofort ward er ausgelacht. Er brauchte dabei gar nichts zu thun, als mit dieser Absicht aus der Coulisse zu treten – so brüllte schon das ganze Haus. Bolle hatte ein zu seltsames Gesicht, wenn er ernsthaft dreinsehen wollte. Und noch seltsamer, wenn es die Lampen beschienen. Er konnte seine Falten zusammenlegen wie er wollte – er sah immer aus wie ein Clown in Bedrängniß.

Aber wohl verstanden nur auf der Bühne. Im sonnebeschienenen wirklichen Leben war er der ernsthafteste Geselle und sah auch ungefähr so aus. Er hatte sogar trotz seiner Schweinsäugelein und trotz seines immergespitzten Mäulchens etwas Imponirendes in seinem Wesen. Nie ist dem frechsten Spaßvogel in den Sinn gekommen, sich außerhalb der Bühne mit Bolle einen unpassenden Scherz zu erlauben. Es war etwas gut davor.

Bolle wirkte auch im Schauspiel mit, besonders seit sein hoher Tenor in manchen Lagen einen Timbre angenommen hatte, als kläng' ein Topf, der von Oben bis Unten einen Sprung gekriegt hat. Groß waren 55 seine Rollen auch im Schauspiel nicht mehr, aber seine Leistungen waren es zuweilen. Und unter allen eine, die ihm sobald Keiner nachspielen wird. Kennt ihr Friedrich Halm's »Fechter von Ravenna«? Es tritt darin eine ganze Gladiatorenschule auf. Der König dieser Schaar

                                        »gerad'
herausgesagt, ein zweiter Herkules.«

Wie heißt der? Këyx heißt er. Und wer spielte den Këyx? Wer anders als Bolle, wer konnte ihn spielen wie der!

»Streck' deinen Arm her!«

sagt der Vogt der Fechterschule von Ravenna. Drauf reckt Këyx-Bolle ohne Phrase, ohne Wattons, ohne Tricot einen Arm unter die Augen des staunenden Publikums, – ich sage euch: kein Gladiator der antiken Welt hatte einen besseren. Er selbst betrachtete diesen Theil seines gewaltigen Körpers mit naiver Freude. Er krümmte den Arm, daß der Biceps in dräuendem Bogen über die anderen Muskeln emportrat, und streckte gelassen den Arm wieder aus, daß auch die Muskeln des Vorderarms in ihrer Pracht bewundert werden konnten. Ein stummes Spiel, das seine Wirkung nie verfehlte. Da lachte Niemand. Einmüthige Anerkennung lohnte den Künstler. Man wußte in der Stadt, die reich an kräftigen Männern 56 war, solche herkulische Körperkraft zu schätzen. Es waren aber auch genug im Parterre, deren Dickbeine nicht von dem Umfang dieses Armes waren. Und darum konnte man den guten Bolle zuweilen oder auch regelmäßig auf der Bühne auslachen, aber im gewöhnlichen Leben unterließ man es lieber.

Bolle war einer der stärksten Menschen, die je gelebt haben. Er war dabei leidenschaftlicher Turner, Meister in jeder gymnastischen Kunst und trotz seiner fünfzig Jahre und seiner herzlichen Gutmüthigkeit überall dabei, wo etwas besonders Gewichtiges gehoben oder geschleudert, gereckt oder verrenkt wurde.

Bolle war nicht nur stark und gutmüthig wie Keiner, er war auch einfach, bescheiden und klug wie Wenige.

Fast möchte man sagen, er war einer der größten Philister, die je ihr Angesicht mit Schminke belastet, um vor einem zahlenden Publikum sich zu verstellen und zu singen. Aber das ginge vielleicht zu weit. Ein künstlerischer Drang war auch in seiner Seele. Jedoch er kam nur auf Augenblicke zur Geltung. Und in seinem Dasein war nichts Leichtfertiges, nichts Muthwilliges, nichts Ueberschäumendes zu finden, aber sehr viel geradliniges Pflichtgefühl, gemüthliche Munterkeit und harte Arbeit.

Am Abend ward es ihm noch am leichtesten. Er hatte abgerechnet mit dem Traum einer ewigen 57 Tenoristenjugend. Diese Zeit hatte kein Ohr mehr für den feinen Gesang geschulter Stimmen; sie wollte brüllende Schreier, Ton auf Ton, Lungen, die dreifach besetztes Orchester im Fortissimo überschrieen, und zu alledem eine Musik, die er nicht der Mühe werth hielt – er hatte abgerechnet. Er sang seine Schuldigkeit herunter, ließ sich auslachen und strich seine Gage ein – eine Gage aus alter Zeit leider! die man ihm jetzt nicht mehr erhöhen wollte.

Am frühen Morgen, wenn außer den Gärtnern noch Alles schlief, ging er mit einem Korb am Arme zum Stadtthor hinaus etwa eine Meile weit, um seinen Bedarf an Fleisch einzukaufen. In wonniger Sommermorgenkühle, im Schneesturm, im staubtreibenden Sturm, im strömenden Regen – gleichviel! Das Fleisch war draußen auf dem Land um ein Merkliches billiger, auch wollte er seinen gewohnten Morgenspaziergang nicht entbehren. Daheim gab's nachher allerhand Hantirungen, mit denen man sich, nun sämmtliche Hausgenossen aus den Federn waren, nicht mehr zu geniren brauchte. Bolle sägte selbst sein Holz und hackte es klein; er wichste sich nicht nur eigenhändig seine Stiefel, er machte sie auch; sein Bett, seine Stühle, seine Tische hatte er selbst gezimmert und geschnitzt; er bohnte seine Dielen und tünchte seine Wände. Es war Alles ganz einfach – wie er zu sagen pflegte. 58

Daß er nicht zu jenen Aengstlichen gehörte, die, um den Silberklang ihrer Stimme zu schonen und zu bewahren, sich allerhand Maximen und Diäten auferlegen, geht aus der Schilderung seiner Gewohnheiten schon klar hervor. Er lebte einfach und geradeaus, bedurfte wenig und entbehrte nichts.

Ja, Bolle war ein ganzer Kerl, eine humane Totalität, vor der man Respekt haben mußte.

Manchmal sprach er im Stalle seines Aftermiethers ein und sah nach den Pferden. Bolle hatte seine volle Zeit beim Militär abgedient. Er verstand was vom Kavalleriewesen. Die böse Welt sagte ihm nach, er sei einmal Trompeter gewesen. Wenn dieß der Wahrheit entsprochen, er hätte dessen kein Hehl gehabt. Sicher ist, daß er einen Gaul regelrecht zu reiten, zu putzen, zu scheeren und zu beschlagen wußte und auch einige veterinärische Kenntnisse besaß.

Wahrscheinlich hatte seine Vertraulichkeit mit diesen Dingen die erste kavalleristische Hausgenossenschaft veranlaßt, der dann nach erprobten Verhältnissen eine nach der anderen gefolgt, bis endlich Waldemar von Waldenberg zu dem braven Tenoristen in's Quartier gezogen war.

Bolle hatte schon vor mehr denn zwanzig Jahren in dieser Straße sich heimisch niedergelassen. Anfangs hatte er das ganze Haus bewohnt. Er war zweimal verheirathet gewesen und hatte von beiden Frauen 59 Kinder bekommen. Zum zweiten Male Wittwer, hatte er seine Nachkommen in Gottesfurcht und Selbstachtung zu handfesten Menschen erzogen. Eine Tochter war gut verheirathet. Von den Söhnen hatte keiner die Laufbahn des Vaters ergriffen, obgleich ein jeder schon in der Taufe einen gar opernmäßigen Namen erhalten hatte. Bolle hatte die Namen für seine Kinder nicht im Kalender, sondern aus dem Theaterzettel gesucht. Und so trug seine Nachkommenschaft zur Ehre seiner Glanzrollen die Namen Tamino und Sever. Der Jüngste hatte dabei etwas den Kürzeren gezogen, insofern zur Zeit seiner Geburt Papa Bolle schon mit zweiten Partieen vorlieb nehmen gemußt. Ihm war Basil zugefallen, weil Väterchen in jenen Tagen nur mehr als Dom Basilio in Mozart's »Hochzeit des Figaro« Lorbeeren ernten konnte. Trotzdem nun der Vater sie von kleinauf in schmelzenden Tönen Tamino, Sever und Basilio gerufen, zeigte sich doch einer unmusikalischer als der andere; dafür aber jeder in Leibeskraft so gewaltig wie der Vater. Einer dieser Hünen war Böttcher, einer Kunstschlosser – nur der dritte hatte ein weniger geräuschvolles Handwerk erwählt und wirkte als Chemiker auf einer Farbenfabrik, bis er, sich schlechter mit dem Vater vertragend, als dieß in der Familie Brauch war, mißmuthig, aber hoffnungsvoll über den Ozean fuhr.

Wie es in Bolle's Stuben allmälig immer leerer 60 und leerer geworden war, hatte er die Bekanntschaft Hunzelsperger's gemacht.

Erst hatte der merkwürdige Mensch ihm Bewunderung, dann Entrüstung erregt, dann das Mitleid jedes andere Gefühl in sich aufgenommen. Von allen Seiten redete man dem grobkörnigen Tenoristen in's Gewissen, sich doch nicht solch' eine Last aufzusacken. Aber Bolle sagte: »Das ist ja auch ganz einfach,« und machte sich's zur Pflicht, der Vormund dieses alten, genialen, ewig unmündigen Kindes zu werden, sein irrlichterirendes Leben, so gut als irgend möglich, in's Geleise zu bringen, seine Kinder zu erziehen und für diese zu erhalten und zusammenzusparen, was bei den wunderlichen Gewohnheiten und unberechenbaren Einfällen des Meisters zu retten war.

Orlando Hunzelsperger hatte seine regelmäßigen Einkünfte als erster Organist der Domkirche und als regens chori bei der Oper. Er war als eine lokale Berühmtheit überall in der Stadt gerne gesehen. Eines jener vielen musikalischen Genies in Deutschland, die etliche hundert Lieder komponirt, von denen drei oder vier sich in der Gunst der Salons, eines und anderes sogar im Munde des Volkes erhalten haben – der Rest ist vergessen oder vielmehr nie beachtet worden. Hier, an seinem Geburts- und Wohnorte, wußte man freilich mehr von ihm. Man wußte sogar, daß er vor zwölf oder zwanzig Jahren 61 eine große romantische Oper: »Die Keller von Pistoja«, zur Aufführung gebracht und noch ein anderes derartiges Werk im Pult verschlossen habe, welches die Eifersucht und Mißgunst des regierenden Kapellmeisters – alle regierenden Kapellmeister sind mißgünstig und eifersüchtig – nicht bis an die Lampen gedeihen ließ. Mehrmals hatte ihm die Stadt bei feierlichen Anlässen die Gelegenheitsmusiken zu komponiren aufgetragen – früher freilich öfter als nunmehr. Aber seine Gesangstunden, sein Unterricht im Generalbaß und Contrapunkt wurden noch immer mit Golde bezahlt. Hunzelsperger's Einkommen war weitaus beträchtlicher als das des guten Bolle. Aber dafür hatte dieser Orlando den Teufel im Leib und er war ihm weder durch Schmeicheln noch durch Schelten auszutreiben.

Seine Gutmüthigkeit überschritt die Grenzen des erlaubten Leichtsinns. Es fehlte natürlich nicht an spitzbübischen Kerlen, die sich ein Geschäft daraus machten, sein weiches Herz und seine gekränkte Eitelkeit zu mißbrauchen. Diese Marder rochen wohl, wenn die gelben und weißen Hühnerchen in seinen nicht verschließbaren Taschen zusammenliefen, und das Schicksal wollte nun einmal, daß Jene immer bedurften, wenn Dieser gerade was eingestrichen hatte. Dazu kam das Schlimmste: Orlando Hunzelsperger war ein Genie nach der alten Mode; sein Spruch war: leben und leben lassen! Und leben im 62 allerweitesten Sinn. Einer von jenen Unverwüstlichen, die da behaupten, keines Schlafs zu bedürfen, ja wie die Fische gar nicht schlafen zu können – »Ein paar Stunden Ruhe in meinem Lehnstuhl am frühen Morgen – mit offenen Augen – ein gutes Buch in der Hand – ich sage nicht, daß ich viel lese – aber es muß unter allen Umständen ein gutes Buch sein – ein leises Hindämmern, halbes Träumen – eine Ahnung von Gebet und Melodie, ein Zwiegespräch mit dem Morgenstern. Eins, zwei, drei! . . . Und ich bin wieder frisch und munter wie eine plätschernde Forelle!«

Gründe genug, um die Nacht zum Tage zu machen.

Er fand bei seinem Geist und Gaben immer welche, die ihm die Polizeistunde übertreten halfen. Er hatte seinen Kreis von lustigen und überlustigen Kumpanen, wenn sie auch meist jünger waren als er. Auch um seiner Lustigkeit willen war er stadtbekannt.

Er war aber nicht immer lustig. Er hatte zu Seltsames erlebt und zu Trauriges. Es drohte manchmal, ihn zusammenzudrücken. Aber er schnellte doch immer wieder empor und des Nachmittags ward er immer wieder aufgeräumt, hatte er auch bis Mittag den Kopf noch so tief hängen lassen.

Orlando hatte viel geliebt. Es war im Lauf 63 der Jahre viel an der Reihe gewesen und Verschiedenes. Er liebte noch immer Allerlei und immer mit singender Seele und stürmischem Gemüth. Aber Eines liebte er jetzt über Alles und über die Maßen.

Sie nannten das Ding in der Stadt »moussirenden Hochheimer« – war aber außergewöhnlich viel Cognak dabei und durchaus nicht Jedermanns Getränke.

Ehe die Frau, die er wirklich und mit ganzem Herzen verehrt, ehe sie sich nicht so gottlos gegen ihn benommen hatte, – erst so engelsgut und dann so gottvergessen, – da hatte er den Wein kaum so vom Nippen gekannt. Er pflegte wenigstens also zu sagen. Auch da sie zu ihm zurückgekehrt, hätte da nicht alles Leid noch vergessen werden können?! Wäre sie nur am Leben geblieben! Aber da mußte sie sterben und ihn neuerdings auf Nimmerwiedersehen allein lassen. Allein mit den unmündigen Kindern! Ach, ach und warum mußte von den Kindern gerade sein Liebling sterben! der Knabe!! welch' ein Knabe!!! War dieser nicht berufen gewesen, Großes in der Welt zu leisten? Er hätte es geleistet mit seinem Genie und seines Vaters liebevoller Unterweisung! Da riß auch ihn der grausame Tod aus den Armen des vernichteten Mannes. Der war nun ganz elend, ganz vereinsamt!

Ach ja, er hatte noch das Töchterchen.

Der gefühlvolle Mensch hatte auch für sein 64 Bettinchen die wärmste väterliche Zuneigung; o gewiß! Man konnte jedes Opfer an Geld und Sorgen von ihm verlangen. Auch sparte er seine Zärtlichkeit nicht. Das Kind war ja so lieb und gut. Aber was hilft das?! Was war Bettinchen gegen Alfred gehalten! Es ist wahr, das Mädchen lernte nicht schlecht und zeigte sich anstellig beim Flügel und Gesang. Es schien ihn sogar zu begreifen, wenn er ihm ein besonderes Heiligthum der Kunst erschloß. Allein wie anders hätte sein Alfred ihn aufgefaßt! Wie anders hätte er Jenem sein geheimstes Wissen, seine schätzbarsten Erfahrungen und seine köstlichsten Empfindungen erschließen können! Er fühlte das. Bettinchen war ein gutes Ding – aber es war ein Mädchen!

Und mit den Weibsleuten allen war's ihm verleidet. Ein minderes Menschenthum, eine geringere Sorte! Wie hatte die schönste, die beste ihres Geschlechts, wie hatte sein Weib, eine Fürstin, sich an ihm versündigt!

Bei alledem war noch Bettina sein einziger Trost – am Tage, denn mit sinkender Sonne, das wissen wir bereits, da winkte ihm ein anderer Trost, der über Menschenwitz und meist auch über Menschenkräfte ging.

Aber Bettina, so jung und frauenzimmerlich sie war, war für ihren Vater noch etwas mehr als 65 Trost seiner launischen Stunden. Ob Orlando je sich klare Rechenschaft über den Werth seiner Tochter ablegte, wer möcht' es ihm auf sein wüstes Haupt zusagen. Er kannte sein Kind nur zur Hälfte – mit vielen Vätern theilte er dieß Loos – aber genug, er liebte es von Herzen und that ihm zuliebe, was er vermochte, vorausgesetzt, daß man es bei nüchterner Zeit von ihm verlangte. Wer besser Bescheid wußte, was Bettina werth war und was sie ihrem Vater gelten sollte, das war der alte Bolle.

Bolle, der sie schalten und walten sah, trotz ihrer Jugend und alle den wunderlichen Dingen, Abenteuern und Wechselfällen zum Trotz, die sie schon mit Kinderaugen hatte miterleben müssen. Bolle, der sie dazu auferzogen hatte, hülfreich, edel und gut zu sein. Bolle, der sie kannte, wie keine andere Menschenseele sie kannte, und der ihr aus seinem besten eigenen Wesen jenen Zug nüchterner Nützlichkeit aufgezwungen, gegen den sich das Zigeunerkind lange genug gewehrt hatte und der ihr nun doch das eigenthümliche Gepräge und ihrem ganzen Gehalt durch seine Beimischung den vollen Werth verlieh.

Freilich war noch immer des Wilden, Unbändigen, Abenteuerlichen, oder wie man sonst das gährende Ferment in einer Künstlerseele nennen will, zurückgeblieben – Eduard Bolle wußte auch das zu schätzen und versuchte nicht, es auszutreiben. Dieser 66 Eduard war ja selbst vom Fach und klug genug, die liebe Natur nicht austreiben zu wollen. – Aber er pflanzte in das Mädchen das ernste Streben nach dem Erreichbaren, fröhliches Bewußtsein menschlicher Kraft und ein gut bürgerliches Pflichtgefühl, das immer das Nächste zuerst angriff und nichts nach der Schwierigkeit fragte.

Darum war es mit ihrer Hülfe Bolle'n gelungen, Regel und Zucht in's Hauswesen des alten Trunkenbolds zu bringen. Unter den heimlichen Vorwürfen, die Orlando Hunzelsperger gegen das Töchterchen in seinem Herzen schweigend hegte, war auch der, daß ihn das Kind durch seine Güte, seinen Ernst und seine Genauigkeit beschämte, daß es ihn in mehr als einem Stücke beherrschte.

Durfte der besorgten Tochter sein Leichtsinn in's Gesicht lachen? Lieber hätt' er sich die Zunge mit den eigenen Zähnen abgebissen. Er wollte ja ein guter Vater sein und liebte sein Kind genug, um in seinen Augen auch als ein guter Mensch dastehen zu wollen.

Die Kleine hatte es nachgerade weg, an welchen Tagen die Geldquellen ihres Vaters flossen. Und es war Ehrensache für sie, den Spitzbuben den Rang abzulaufen, welche die Güte des weichherzigen Organisten ausbeuteten.

Die alten Lumpe freilich ließen sich nicht bequem 67 aus dem Felde schlagen. Viele Schliche ahnte das Kind noch immer nicht und verzettelt und verschleudert ward noch genug. Aber es ward doch nicht mehr Alles zum Fenster hinausgeworfen. Im Hause war nicht nur kein Mangel, sondern ein solider Sparpfennig. Es versteht sich, daß Bettinchen ein Schloß davor legte und Bolle denselben weit aus dem Hause trug, in's Gewahrsam der Bank, wo er vor den Launen und der Freigebigkeit seines verehrten Chordirigenten sicher gestellt blieb.

Reich wurden die Hunzelspergerischen dadurch freilich nicht, auch wohlhabend nicht, aber, einen Meister der Genügsamkeit und Sparsamkeit wie Bolle vor Angesicht, wußten sie sich von gemeinen Sorgen befreit, und selbst über Orlando kam ein Gefühl behäbiger Sicherheit, das ihn zwar nicht vom Trinken abhielt, aber im nüchternen Zustande frei athmen ließ.

Bolle hatte somit ein gutes Recht, die wackere Bettina als ein Resultat seiner Erziehung zu betrachten. Er hatte sich an das Mädchen im Laufe der Jahre so gewöhnt, daß sein Herz keinen Unterschied mehr machte zwischen seinen eigenen Kindern und dem Töchterchen des Organisten. Sie sagte auch nicht anders als »Vater Bolle« zu ihm, und da sie die Mutter lang verloren, fand sie immerhin einen kleinen Trost darin, neben dem wirklichen Vater noch einen so tüchtigen Adoptivvater zu besitzen. 68 Ihre ganze Bewunderung und Zärtlichkeit gehörte dem Vater Orlando, aber Respekt, Gehorsam und Zutrauen – ob sie's auch nie sich selbst bekannte – standen Vater Bolle williger zu Gebote. Bolle gab Rath und auch Befehl. Wer in der Welt wußte denn auch so gut als er, wie »einfach Alles war«, auch das verwickeltste Ding. Und wie er streng auf Ordnung hielt, so ward er auch bedient.

Dafür leuchteten Bolle denn auch die Aeugelein, wenn er das flinke Persönchen in der Wirthschaft herumhantiren sah. Er selbst hatte ihr den Namen »Hausmütterchen« gegeben. Und wehe Dem, der ihm an dieß tugendsame Kind einen scheelen Blick oder gar ein unfreundliches Wort gerichtet hätte. Schelten durft' es nur er – nicht einmal der eigene Vater. Fiel dem Organisten in übler Laune solch' ein Frevel ein, so währt' es nicht lange, daß ihm Bolle unter vier Augen sein Unrecht klar machte. Ward Bolle selber heftig, je nun, dann mußte die Kleine das Unwetter aushalten – auch das war eine Schule. Der stramme Tenorist war nicht sentimental, kannte keine Reue und hielt sich – nicht ohne Fug – für einen Gerechten.

Als er nun in den Flur des Hauses trat, freute er sich, daß die unverhoffte Kerze ihm das frische Gesicht seines Töchterchens zeigte, daß sie es war, die ihm den nassen Radmantel abnahm und den triefenden Hut vom Kopfe. 69 Daß sie nicht hier am Fuße der Treppe auf ihn gewartet hatte, mitten in der Nacht, konnte er sich denken. Daß sie nicht allein war, sah er mit Augen. Was weiter?! Es freute ihn, auch noch dem Rittmeister gute Nacht sagen zu können.

Daß Bettina kein Kind mehr war, hatte er lange vor dem Rittmeister gesehen.

Aber daß Waldemar Waldenberg ein unentwegter Ehrenmann und dazu ein etwas trockener Geselle war – wußte er vielleicht noch besser, als der Rittmeister es selber wußte.

Drum als er den Beiden ansah, daß sie wohl ein paar Stunden in der Nacht allein geredet und sich dabei sogar in ziemliche Hitze geredet hatten, dachte er doch nichts Schlimmes. Seine Empfindung war etwa wie die eines Menschen, der in einem und demselben Menageriekäfig einen wilden, mächtigen Löwen und ein kleines weißes Hündchen zusammengesperrt findet. Im ersten Augenblick überrascht ihn der Anblick, aber er erregt ihm doch keinerlei Furcht um das liebe kleine Thier. Das Hündchen spielt mit dem gewaltigen Leuen sogar recht muthwillig, es springt auf ihm herum, es wühlt in seiner Mähne, es zwackt ihn sogar am Ohr. Aber so keck es sich gebärdet, der Mann weiß doch, der König der Thiere thut dem bellenden Gesellen nichts zuleide. Der Löwe ist großmüthig und stolz. 70

Immerhin erforderte die Würde des Hausherrn, daß Bolle ein wenig über langes Aufbleiben brummte.

»Hör' einmal, Du kleines Ding,« sagte er, »warum liegst Du denn noch nicht im Bette?«

»Ei, wir haben uns hier nur ein wenig verplaudert. Ich gehe schon,« antwortete gesenkten Hauptes Bettina und schickte sich auch sofort an, die Treppe hinaufzusteigen.

»Ist Dein Papa schon daheim?« rief ihr Bolle nach.

Und das Mädchen antwortete seufzend, schon von oben: »Ach nein.« Mit einem leisen »Gute Nacht« war es verschwunden.

Bolle trat noch für ein Weilchen beim Rittmeister ein. Sie sprachen vom Wetter, von Politik, von Musik. Der alte Sänger schimpfte auf die neue Oper. Der Enthusiasmus, von dem Bettina geleuchtet und geklungen, hatte ihn nicht berührt. Er schimpfte auf Alles, auf's Publikum und die Musikanten, auf die Stadt und die Zeit und die Mode – sogar auf das geliebte Bräuhaus schimpfte er, denn das authentische königliche Bier – der einzige menschenwürdige Trank – war unmotivirterweise heute versiegt und was ihn ersetzen sollte, verächtlich von Geschmack.

Unter diesen Umständen ließ er sich gegen seine Gewohnheit noch zu einem kleinen – einem ganz kleinen Grog herbei.

»Merkwürdig,« sagte Waldenberg, im Zimmer 71 auf und nieder schreitend, »unser Hausmütterchen war von der Oper ganz in Flammen gesteckt.«

»Ach was,« polterte der ärgerliche Sänger hervor, »was versteht so ein Kind von dramatischer Musik!«

»Je nun!« versetzte der Rittmeister und meinte in seinem Sinn: Von Musik versteht das Kind am Ende mehr als du, alte Drehorgel. Aber abgesehen davon, daß ihn dieser Gedanke zu unhöflich dünkte, um einem so braven Kerl an's Ohr geworfen zu werden, so war derselbe auch im Nu von einem anderen verdrängt worden. Und diesen dem auf Antwort lauernden Bolle mitzutheilen, hielt er in der That für angezeigt.

»Bettina ist kein Kind mehr, lieber Bolle. Sie und wir Alle sollten das Mädel auch nicht mehr als Kind halten und behandeln.«

Wovon das Herz voll ist, geht der Mund über. Kaum, daß er seine Beobachtung ausgesprochen, dachte sich der Reiter: Ich hätt' es auch besser für mich behalten können!

Vater Bolle jedoch stand mit dem Gläschen in der Hand wie eine Säule mitten im Zimmer und machte jenes ernsthafteste Gesicht, bei dem das ganze Publikum in schallendes Gelächter auszubrechen pflegte.

Was zum Teufel, dachte er bei sich, wie kommt der trockene Reitersmann auf einmal heut' in der Nacht zu solch' einer überraschenden Beobachtung! 72 – Jeder zahlt den Tribut seines Standes. Auch der nüchterne Bolle konnte nicht ganz über die Vorurtheile seines Berufskreises hinaussehen. Wäre Waldenberg ein zünftiger Tenorist gewesen, o, nicht fünf Minuten hätte er sein holdes Hausmütterchen mit so einem Gewohnheitsverführer allein gelassen. Aber was konnt' es mit diesem phlegmatischen Blondin, mit einem schweren Kavalleristen, der nicht mehr ganz jung war, schon etwas Fett ansetzte und nicht die Spur einer Stimme hatte, für Gefahr haben?! Für Bettina – gewiß nicht die geringste! Aber für Waldenberg selber? – ach so!

Er schlürfte, dieß zu Ende denkend, sein Glas aus und sagte dann: »Finden Sie, daß ich Bettinen zu barsch oder zu spielerisch behandle?«

»Keins von beiden!« verwahrte sich Waldenberg, und der Andere beeilte sich, weiter zu fragen:

»Also meinen Sie, es wäre Zeit, Bettinen aus dem Hause zu thun?«

»Wo denken Sie hin!« rief Waldemar ärgerlich, und Bolle selbst war trotz seiner absichtlichen Schlauheit von dem ausgesprochenen Gedanken so gerührt, daß er ihn kaum ertragen konnte.

»Was auch sollten wir mit der Kleinen anfangen?!« sagte er, »und wie würden wir sie hier vermissen! Sie ist die Seele des Hauses! Wir können sie gar nicht entbehren, nein, durchaus nicht! 73 Und was sollte vollends aus dem Alten werden, ohne diese biegsame und doch so kräftige Stütze. Freilich, wenn wir sie gut verheirathen könnten! – Glücklich der Mann, der solchen Schatz heimführt!«

»Glücklich der Mann!« wiederholte Waldenberg, denn Bolle hatte sich so sehr in Hitze geredet, daß er vor Rührung eine kleine Kunstpause machen und sich schneuzen mußte.

Dann fuhr er, immer heftiger sich ereifernd, fort: »Aber daran ist gar nicht zu denken. Die Mannsbilder unserer heutigen hyperpraktischen, unmelodischen Zeit sind ja viel zu dumme Kerle dazu, so einen Schatz zu erkennen. Und dann ist das Mädel ja noch viel zu jung. Es ist noch viel mehr Kind, als Sie mir heute einreden wollen. Und darum und aus vielen anderen Gründen mein' ich, das liebe Ding kann, ob Kind oder Jungfrau, nirgends sicherer und besser aufgehoben sein, als unter dem Schutze zweier Ehrenmänner, wie ich – und Sie. Nicht wahr, Herr Rittmeister, Sie sind mit mir der gleichen Meinung? Schlagen Sie ein!«

Bolle hatte mit der ganzen Hitze seines Temperaments geschlossen; die kleinen Aeugelein glühten ihm und die Hand, die er dem Hausgenossen entgegenstreckte, war wahrlich nicht zu verachten.

Waldenberg ergriff sie auch mit seinen beiden und schüttelte sie derb und herzlich. Fast kam auch ihm 74 etwas Hitze in die Augen. Ja, Bolle war ein ganzer Kerl und was er angriff, machte sich Alles so einfach. War Waldemar'n je ein leichtfertiger Gedanke aufgestiegen, welcher Bettinen hätte kränken können, er war mit diesem Händedruck verbannt für immer. Wie hatte der alte Sänger doch wieder die Sache »so einfach« angepackt. Waldenberg mußte die derbe Naivität bewundern, die ihn scheinbar ohne Argwohn zum Hüter gegen sich selbst berief.

Daß doch das Richtige immer so leicht zu finden ist und doch so selten gern gefunden wird! dachte er, und er rief:

»Sie haben Recht, Meister Bolle! Nirgends kann Bettina besser aufgehoben sein, als bei uns. Und Sie halten das Mädel ganz richtig.«

»Nun also! . . . Was aber wollten Sie dann sagen?«

Ja so! dachte Waldenberg, irgend etwas mußte ich mit meinen voreiligen Worten doch haben sagen wollen. Auch darin hat er Recht. Also sag' etwas! – Und er sagte: »Ich meine, Sie sollten Bettinen etwas frauenzimmerlicher halten (Bolle riß die Augen weit auf) . . . besser kleiden (Bolle zuckte verächtlich die Achseln) . . . und vor Allem nicht des Nachts unbegleitet aus dem Theater nach Hause gehen lassen!«

Bolle lachte laut auf, das Mädel sei ja keine Baronesse. Waldenberg ließ ihn lachen. Er hatte doch etwas gesagt, was Hand und Fuß zu haben 75 schien. Und um dieß noch mehr zu bekräftigen, fügte er hinzu:

»Bettina sagte mir, daß sie erst heute Belästigungen erfahren. Das Fräulein ist gar hübsch. Man drängt sich an sie . . .«

»Wer?« unterbrach Bolle den Redenden, der nun wohl einsah, daß er mit seinen Umschreibungen denn doch die Sache immer schlimmer machte. Die einsylbige Frage des empörten Ziehvaters klang wie das Gähnen eines blutgierigen Raubthiers, das sein Junges in Gefahr sieht.

»Nun, nun, ereifern Sie sich nicht. Für dießmal war's nicht schlimm. Ein galanter alter Herr, der nichts Böses wollte.«

»Alle Knochen schlag' ich dem Schurken entzwei!« schrie Bolle auf und reckte seine geballten Fäuste gegen die Zimmerdecke. Er war nicht mehr der dünnstimmige Sänger zarter Lieder, er war ganz Këyx, ein wuthschnaubender Athlet, dessen herkulische Muskeln nach einem Gegenstande lechzen, den sie rechtmäßigerweise zu Schanden dreschen dürfen.

»Ruhig Blut, alter Haushahn!« rief der Rittmeister und zwang sich zu lächeln, denn hinter seinen Worten quälte ihn doch die Vorstellung, daß sein eigener Vater heute gar übel hätte zugerichtet werden können.

Auf den einstigen Soldaten aber hatte das im Kommandoton ausgesprochene Wort des Offiziers 76 instinktiverweise noch so viel Gewalt, daß er es für gerathen hielt, seinen Zorn fahren zu lassen und wieder sanftere Töne anzuschlagen.

Sie plauderten noch ein paar Worte hin und her. Bolle fiel ab und zu in eine abgerissene Melodie. Dann empfahl er sich.

Bolle besaß eine seltsame Gewohnheit, beim Gesang seine Sylben zu artikuliren, eine Gewohnheit freilich, die er nicht erfunden, sondern Andern ahgehorcht und für den großen Raum des Theaters als nützlich oder bequem erprobt hatte. Allmälig war diese Hülfe zu einer lächerlichen Untugend geworden. Und nicht ohne Heiterkeit konnte der Rittmeister zuhorchen, wenn, wie jetzt, während der Sänger die Treppe hinaufstampfte, durch die stille, regenschaurige Nacht die Arie des Freischützen also zu vernehmen war:

»Da-wurch die Wäl-da-wer, da-wurch die Au-wa-wen
Za-wog ich lei-wa-weichten Schri-wa-witts dahin.
Ha-walles, was ich konnt' erschau-wa-wen,
Wo-haar des leichten Ro-wa-wohrs Gawinn« –

und also weiter. 77

 


 


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