Hans Hopfen
Die Heirath des Herrn von Waldenberg
Hans Hopfen

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XIII.

Der Dichter der »Schwimmenden Sterne« war heute zu angenehm erregt, als daß er den Abend nach der Tragödienvorstellung wie gewöhnlich im Kaffeehause hätte beschließen mögen.

Er sehnte sich nach harmonischerem Ausklang. Wäre Hunzelsperger noch im alten Stande gewesen, heute hätt' er ihn aufgestöbert, um sich bis an den lichten Morgen Musik vormachen zu lassen.

Aber wofür war Naphtali Hertz denn auf der Welt?

Freilich, dieser gelangweilte Nabob war in dem letzten Vierteljahr noch immer langweiliger geworden. Langweiliger und spöttischer. Fridolin fühlte jedesmal selbst, wie er in der Gesellschaft dieses Spötters ordentlich geringer im Gewicht wurde.

Heute jedoch würde derselbe wohl nicht so leichtes Spiel an ihm finden. Das Lob aus schönem Munde hob ihn hoch empor und es war etwas Wärmendes, Wohlthuendes in seinem Gemüthe, davon er vielleicht 269 auch dem seltsamen Freunde mittheilen konnte, der mit seiner salomonischen Betrachtung längst am anderen Ende der Dinge angekommen sein wollte, wo nichts mehr glücklich macht.

Ach, wie wenig machte schon glücklich! dachte Fridolin und sah empor zu den Sternen, deren einige durch nächtliches Gewölk auf die dunkle Erde herabfunkelten. Ein Wort aus einem schönen Munde . . . ein dankender Blick aus zwei schönen Augen, die eben ein winziges Büchlein gelesen . . . ein kleiner Dienst, den man einem guten Menschen uneigennützig erweist . . . ein halb Dutzend ehrliche Worte, die man über ein ewiges Werk aus vollem Herzen geplaudert . . . ein unerreichbares Angesicht, das man wunschlos betrachtet . . . ein ferner Stern zwischen wandernden Wolken . . . das Alles und noch viel mehr – noch viel weniger auch, konnte glücklich machen. Und wie sehr glücklich.

Warum wollte Naphtali Hertz, der doch so scheußlich viel wußte, nur davon nichts wissen! Er schlug ordentlich um sich, wenn man ihm mit solchen Ansichten aufrückte. Aber heute war Fridolin so glücklich, daß er es selbst auf einen Streit mit dem ausgepichten Sauertopf ankommen lassen wollte. Es zog ihn ordentlich zu dem vergrämten Freunde. Und wenn er ihn nur dazu brachte, eine halbe Stunde Klavier zu spielen, so war die Mühe schon verlohnt 270 und Naphtali's Redensarten mochten sich über was er wollte hermachen, Fridolin's Laune war heute kugelfest!

Freilich, an Hunzelsperger durfte er dabei nicht denken. Aber Löwe gehörte zu den glücklichen Naturen, deren Gedanken so hartnäckig als möglich bei angenehmen Vorstellungen verweilen und die unangenehmen, so viel man kann, außer Acht lassen. Zudem hatte sich ihm durch häufige Besuche der Schauder abgestumpft, der heute noch mit voller Kraft auf eine neugierige Seele wie Leonilla's wirken konnte. Für ihn war der große Musiker lange todt. Der Patient auf Nr. 73 war für Löwe längst nicht mehr Orlando, sondern etwas wie ein nachgelassener Verwandter desselben, dem man aus Rücksicht für den einst verehrten Meister alle die Sorgfalt und Treue angedeihen ließ, welche dieser selbst ihm erweisen würde, wenn er noch unter den Lebenden weilte.

Und weil der erfindungsreiche Orlando todt war, so war Naphtali Hertz, der keine eigenen Gedanken hatte, gut genug, um zu den Phantasieen des »treuen Knechtes« Musik zu machen.

Ein Lichtschimmer hinter den Gardinen des ersten Stockwerks überzeugte Fridolin, daß er den griesgrämlichen Freund zu Hause treffen werde. Das freute ihn. Er vergaß ganz der monumentalen 271 Geheimerathsfassung und nahm wie ein Fant die Treppe in fünf Sprüngen.

Er traf Naphtali Hertz an seinem Schreibtische sitzend im Schlafrock. Mehrere Lampen brannten im Zimmer, hier und dort auf einem Schrank oder Tischchen auch noch eine Wachskerze. Auch Schlafzimmer und Speisesaal waren erleuchtet und die Thüren standen offen.

Vor Naphtali lagen verschiedene Schriften und Briefe, die meisten in Bündel gebunden, einige noch zerstreut und aufgeblättert. Es sah aus, als hätte man Papiere gesichtet und geordnet. Der Mann im Schlafrock war offenbar in voller Arbeit und zeigte keine besondere Freude, noch so spät durch einen Besuch gestört zu werden. Er stand nicht einmal vom Stuhl auf und erwiederte Fridolin's Gruß nur durch ein leises Nicken des Hauptes.

Der Andere war eben auch nicht gewohnt, hier viel Umstände zu machen, setzte sich in seinen Lieblingsfauteuil und griff nach einer der herumliegenden Zeitschriften.

Jetzt ward er auch gewahr, daß trotz der annoch warmen Jahreszeit im Kamin ein kleines Feuer gebrannt hatte. Ein paar Holzkohlen glühten noch. Ein leiser Geruch, der noch im Zimmer merklich, gab auch die nöthige Erklärung zu dieser unzeitgemäßen Feuerung: hier waren offenbar Papiere 272 verbrannt worden und nach der Asche zu schließen, ein ziemlicher Haufen.

»Darf ich Ihnen nichts anbieten?« war Hertzens erste Frage.

»Ich danke schön,« lehnte der Andere ab.

»Sie pflegen doch sonst des Abends noch eine Tasse Kaffee zu trinken. Hier steht welcher. Bitte, bedienen Sie sich.«

»Das ist etwas Anderes. – Aber seit wann nehmen Sie so spät noch Kaffee?«

»Ich hatte langweilige Arbeit und wollte nicht dabei einschlafen.«

Naphtali band während dieser Reden wieder ein paar Bündel Papiere zusammen und warf sie nun von seinem Stuhl aus in den Kamin. Er mußte dieß Manöver schon oft gemacht haben, denn der Wurf ging ihm, der sonst in Handgriffen nicht geschickt war, ziemlich sicher aus dem Gelenke.

Erst da er sah, daß das Papier nicht gleich Feuer fangen wollte, stand er auf, zog die Schnur über seinem Schlafrock fester an und trat die Briefschaften mit dem Fuß in die Kohlen, bis eine Flamme darnach kam, die sich alsbald den Blättern allen mittheilte.

»Was machen Sie denn da?« fragte Fridolin.

»Ich verbrenne gewalkte Lumpen, – oder wenn Ihnen dieß zu nüchtern klingt, so sagen Sie: ich lasse meine Vergangenheit in Rauch aufgehen. Wie 273 Sie merken, es ist trockene Waare, die doch nicht gern Feuer fängt. Man kann sich auch nicht lange daran erwärmen.«

»Warum thun Sie das? Wollen Sie verreisen?«

»Unsinn! . . . Aufräumen will ich.«

»Und sind Sie nun fertig?«

»Nahezu!«

»Seien Sie einmal liebenswürdig. Setzen Sie sich an's Klavier und spielen etwas von Beethoven.«

Naphtali schien diese Zumuthung, der er oft genug, ohne sich lange bitten zu lassen, nachgegeben hatte, heut' außerordentlich komisch zu finden. Er lachte dem Arglosen gröblich in's Gesicht und sagte: »Machen Sie sich doch gefälligst selber Musik, wenn Sie deren bedürfen. Dort steht der Flügel. Ich,« – setzte er mit einem wunderlichen Ausdruck in den Mundwinkeln hinzu, – »ich habe ihn seit Wochen nicht mehr berührt.«

Fridolin sah den Mißlaunigen verwundert an. Hertz schien den Eindruck der eigenen Worte unbehaglich zu empfinden. Ein wenig freundlicher sagte er nun: »Können Sie mir etwas Neues erzählen? . . . Ist es wahr, daß Sie trotz Ihrer weltverachtenden Theorieen ein Opus zwei in die Welt gesetzt haben?«

»Sie meinen die ›Schwimmenden Sterne?‹ Allerdings!« 274

»Ich glaube, der Buchhändler hat es mir dieser Tage geschickt . . . Ich hatte zu viel Abhaltungen . . . Ein ganz kleines Büchelchen, nicht?«

Fridolin nickte äußerst würdevoll und sprach: »Das wahre Kunstwerk ist immer klein!«

»Ja wohl,« antwortete Naphtali, »wie die Laokoongruppe, der Petersdom, das Nibelungenlied und die Romane Walter Scott's!«

»Daß ich mit Ihnen darüber stritte, lieber Hertz!«

»Darin haben Sie recht! Klein oder groß, wahr oder nicht! Es ist mir vollkommen einerlei!«

»Ach, du mein Gott! Ihnen, lieber Hertz, ist, glaub' ich, Alles einerlei!«

»Vollkommen!«

»Mir aber nicht! Heute schon gar nicht!«

»Heute schon gar nicht? O, Sie beneidenswerther Sterblicher! . . . Nun also, lassen Sie einen Strahl der Sonne, die Sie heute in ganzer Figur beleuchtet, auch auf mich abgleiten. Erzählen Sie mir von Ihren Triumphen! . . . Spaß beiseite, wird Ihr opusculum denn auch gelesen?«

»Die Welt spricht von nichts Anderem!« versetzte Fridolin im Vollgefühl seines gekränkten Werthes.

Naphtali aber sprang vom Stuhl auf und zornig, wie ihn der Andere nie gesehen, rief er: »Löwe, Sie sind der größte Hanswurst, den die Erde trägt! Oder leben Sie tagsüber im Monde und beehren 275 nur mich zuweilen mit einem überraschenden Herunterfallen? Die Welt redet von nichts Anderem?! Wissen Sie denn nicht, wovon die Welt redet? So will ich es Ihnen sagen, die Welt, die heute verzweifelnd auf dem Kopf steht, redet von dem furchtbaren Zusammensturz des größten Geldinstituts dieser Stadt, der das Vermögen von tausend Familien begräbt, redet von schimpflicher Entwerthung altehrwürdiger Namen, redet von Bettlern, die gestern noch Millionäre gewesen sind, von Narren, die sich an der Nase von ihrem Gelde weg in's Elend haben führen lassen, und von Schurken, die sich aus dem Elend von Tausenden kein Gewissen machen! Davon und von nichts Anderem redet die Welt. Wenn Sie im Ernst ein Künder der Herzen und ein Dichter Ihrer Zeit sein wollen, so sperren Sie die Ohren auf und horchen Sie in's Volk hinein! Vielleicht, wenn Sie morgen endlich einmal dieß Geschäft beginnen wollen, werden Sie auch von einem gewissen Naphtali Hertz hören, der bislang für einen wohlhabenden Mann gegolten hat, der niemals sich in schwindlige Geschäfte eingelassen, der von sicheren Anlagen sichere Zinsen zu genießen gewohnt war, und der doch sich betrogen hat und um das Geld seines Vaters gekommen ist durch Dummheit und Lumperei fremder Leute.«

Fridolin hatte über der traurigen Nachricht die vorhergegangene Beleidigung vollständig vergessen und 276 rief mit ungeheuchelter Theilnahme: »Wirklich, theurer Freund, Sie haben Alles verloren?«

»Alles?!« wiederholte Naphtali fast verächtlich lächelnd. »Wofür halten Sie mich? Von dem, was mir bleibt, könnten vielleicht fünf so bedürfnißlose Philosophen, wie Sie einer sind, mehr als standesgemäß ernährt werden ihr Lebenlang. Aber –«

Der Zornige unterbrach sich selbst, kehrte sich ab und spuckte aus, als läg' ihm Ekel auf der Zunge.

Fridolin Löwe dagegen fühlte sich seit voriger Auseinandersetzung wesentlich beruhigt. Er ließ sich behaglich in den bewußten Fauteuil sinken und sagte zu dem rastlos auf und nieder Wandelnden: »Warum vollenden Sie Ihr Aber nicht? Wo fünf Menschen, wie ich, satt werden könnten, wird doch Ihre einzige Schüssel nicht zu kurz kommen. Und wenn Sie mehr brauchen, Sie besitzen in Ihrem Geist und Wissen Hülfsmittel genug, um sich mehr zu verschaffen.«

»Es muß hübsch mit mir stehen, wenn ein Faullenzer wie Sie mich schon zum Besten hat. Was soll ich denn mit meinem Wissen? Die vor zwanzig Jahren unterbrochene Juristenlaufbahn von vorn wieder aufnehmen? Oder was soll ich mit meinem Geist? Auf die Börse gehen und kleine Geschäfte für große Leute machen? Oder soll ich über Hinz und Kunz, die dümmere Kerle sind als ich, lobhudelnde Artikelchen in Journale zusammenkritzeln, zehn Pfennige 277 die Zeile? Oder in breitspurigen Essays Kunstleistungen interpretiren, die mir nur zum Lachen sind? Und wofür das Alles? Um satt zu werden? Satt, satt! Wenn ich nur erst wieder einmal hungrig würde!«

»Hungrig würden Sie wohl auf einem dieser Wege werden!«

»Pfui!« sagte Naphtali noch einmal, aber heftiger als vorhin. Dann bat er, von etwas Anderem zu reden. Und ob es schon Löwe von Herzen bedauerte, dem schönen Tage so ein ungemüthliches Nachspiel angefügt zu haben, so hielt er sich doch für verpflichtet, den tief Verstimmten nach Möglichkeit zu zerstreuen. Während Dieser noch immer das Zimmer mit langen Schritten maß, schwatzte Jener von allen möglichen Dingen, die ihm gerade einfielen, und glaubte seinen Zweck schon erreicht zu haben, wenn der Andere nicht mit unwilligen Worten dazwischen fuhr, sondern schweigend seinen Groll in der Stube hin und wider führte.

Von seinem heutigen Abenteuer sprach Fridolin freilich nicht. Obschon ihm das hart genug ankam, fühlte er sich doch zur strengsten Diskretion verpflichtet. Nun denn, er begnügte sich damit, nur von der Staffage zu sprechen und dabei an die Hauptperson zu denken. So erzählte er auch, daß er den alten Hunzelsperger besucht, wiederholte, was Leonilla 278 über diese traurige Erscheinung gesagt, als eigene Meinung und sprach schließlich ein Langes und Breites über die Hamletaufführung.

Als Naphtali seines alten Lehrers erwähnen hörte, blieb er stehen. Solch' jämmerliches Schicksal erweckte ein bitteres Lächeln auf seinen breiten Lippen. Er ging auf's Klavier zu. Schon glaubte Fridolin, daß er es wirklich öffnen werde, da ließ er den bereits erhobenen Deckel wieder fallen und trat seitab an's Fenster.

Er sah lang in die Nacht hinaus und ließ derweilen seinen Gast über Shakespeare's Tragödie predigen.

Auf einmal kehrte er sich um, griff sich von einem Bücherschrank einen Band heraus und las, an seinen Schreibtisch gelehnt, vielleicht eine Seite. Offenbar im Hamlet.

Dann warf er auch das Buch mit geringschätziger Geberde über die Papiere hin und ging wie vorhin im Zimmer auf und nieder.

»Sie haben da eine schöne Ausgabe des großen Briten!« sagte Fridolin, der aufgestanden war und den Band von Innen und Außen bewunderte.

Naphtali antwortete nicht mehr. Er sah nach der Uhr. Und Fridolin konnte sich nun auch der Bemerkung nicht entziehen, daß es spät war. Gesprochen hatte er genug; dem Halsstarrigen wirksamer 279 in's Gewissen zu reden, fühlte er sich außer Stande, und daß hier heute keine Musik gemacht werden würde, war auch gewiß.

Mit nicht viel mehr Formalitäten, als der Besuch begonnen, ward er abgeschlossen.

»Ich habe mich verplaudert,« sagte Fridolin. »Nehmen Sie mir nicht übel, daß ich Sie so lang aufgehalten habe.«

»Nicht im geringsten!«

»Gute Nacht!«

»Gute Nacht! . . . Löwe!«

»Was wollten Sie noch sagen?«

Fridolin war an der Thüre stehen geblieben und kehrte sich um, in der Meinung, dem Anderen wäre noch Wichtiges eingefallen, um ihn zurückzuhalten. Hertz schien etwas auf der Zunge zu haben. Aber er überwand es und sagte: »Nein, es ist nichts . . . es hat Zeit! Leben Sie wohl!«

Es war ein eigenthümlicher, fast trauriger Blick, den Löwe beim Scheiden auf sich gerichtet sah. Jenes konzentrirte Feuer, das Naphtali'n sonst nur, wenn er arbeitete, aus den Augen leuchtete.

Fridolin wollte es später bedünken, als hätte Jener ihn nie früher im Leben so angesehen, und schon jetzt trat ihm des Freundes Mißgeschick nahe. Er streckte Jenem die Hand hin und sagte warmen Tons: »Schlafen Sie recht wohl!« 280

»Ich danke! Gleichfalls!« antwortete Hertz, die dargebotene Rechte berührend und freundlich lächelnd.

Im Vorzimmer fand Fridolin den alten Jakob in halbem Schlafe neben einer Lampe sitzen. Es kostete Mühe, auch diesen Halbschlaf zu ganzem Wachen umzuwandeln.

»Ach, verzeihen Sie,« rief endlich der Diener, »ich komme schon . . . Wenn's gefällig!« Als er öffnete, merkte er erst, daß die Laternen auf der Treppe schon ausgelöscht waren. Er kehrte noch einmal an den Tisch zurück, nahm die Lampe und begleitete Fridolin die Stufen hinab.

Der liebte es immer, mit dem alten Diener einige stimmungsvolle Worte zu wechseln, damit dieser über seine Protektion nicht im Zweifel wäre. Heute schien es Jakob, so schläfrig er war, selber darum zu thun, sein Herz auszuschütten.

Im Hausflur stehen bleibend, sprach er: »Nicht wahr, Herr Doktor, Sie haben Herrn Naphtali heut' auch sehr verändert gefunden? Ich habe ihn seit des Vaters Tod nicht so außer sich gesehen. Es ist sonst ein so gesetzter, ruhiger Mann, den nichts aus dem Gleichgewicht bringt. Aber man macht es ihm auch zu arg! Wer hätte sich so etwas träumen lassen! Ich bin nur froh, daß es der alte Herr nicht mehr erlebt hat!«

»Nun, nun, Der hätte sich auch drein geben 281 müssen. Uebrigens glaube ich, daß andere Leute dabei schlechter wegkommen, als Ihr Herr.«

»Freilich, freilich! Man spricht von schrecklichen Fallimenten. Und viele Privatpersonen verlieren gar Alles! Vornehme Leute, wie die Santalatona, die Waldenberger und Andere, sollen gar Alles verlieren!«

»Was für ein Waldenberg? Der Major bei den Ulanen?« fragte Fridolin mit einer Hast, als ob es sein eigenes Hab und Gut gälte.

Der alte Jakob erzählte, so viel er davon wußte, und entwarf dabei von dem unternehmungslustigen Thassilo von Waldenberg ein Bild »in grober Holzschnittmanier«, das Niemand für Schmeichelei hätte nehmen können.

Fridolin bändigte die Aufregung, in die ihn der geschwätzige Diener gebracht. Er machte ihn darauf aufmerksam, daß die Zeit verstreiche, daß die Zugluft im Thorweg sein zitterndes Lampenlicht auszublasen drohe, und schloß mit der beruhigenden Versicherung: »Nach Allem, was Sie selber sagen, braver Jakob, steht es mit euch noch lange nicht am schlimmsten. Also trösten Sie sich, Meister Naphtali und Sie werden genug zum Leben behalten.«

»Gott geb' es!« rief Jener. »Glauben Sie es wirklich? Mir fällt ein Stein vom Herzen!« 282

Er steckte den Hausschlüssel in's große Thor und öffnete und nickte dem Scheidenden, der ihn so gut getröstet, freundlich zum Abschiede.

Droben hörte man in demselben Augenblick heftig eine Klingel ziehen. »Der Herr schellt . . . es ist der Herr! Gute –«

Aber ehe Jakob seinen Wunsch beenden konnte, da er die Thorklinke noch in der Hand hatte und Fridolin erst mit einem Fuß auf der Straße war, krachte im Hause droben ein Schuß.

Furchtbar klang die Detonation in der Stille der Nacht.

»Das war ein Schuß!« rief Fridolin; da krachte es zum zweiten Male.

»Der Herr! Um Gottes willen!« rief der Diener und Beide stürzten in größter Hast die Treppe hinan. Die Thüren standen droben noch offen. So liefen sie geradewegs in Naphtali's Zimmer.

Schon beim Eintreten drang ihnen der Geruch des Pulvers entgegen. Doch war das Arbeitszimmer leer. Ueber der Schwelle des Schlafzimmers zog an den dunklen Vorhängen hin ein länglich zerflatterndes Wölkchen, nicht viel größer als ein Mund voll Tabaksqualm.

Dahinten auf dem Teppich, dicht am Bette, sahen sie Naphtali auf dem Angesicht liegen. Er krümmte sich noch einmal und schlug mit den Armen um sich. 283

Sie sprangen herzu und wollten ihn aufrichten. Da war er schon todt. Sie legten die Leiche auf's Bette. Jakob schloß ihr die Augen. Fridolin brachte die Hände in Ordnung. Dann erst suchte er die Waffe auf dem Boden. In der Trommel des Revolvers steckten noch fünf Schüsse, mit den anderen beiden hatte Hertz seinem Leben ein Ende gemacht.

Jakob lief händeringend hinaus, um die Köchin und den Kutscher und das ganze Haus zu wecken. Fridolin setzte sich zu dem todten Freund an's Bett, starrte auf das regungslose Gesicht, das die Flammen der Kerzen mit zitternden Lichtern beleuchteten; den Revolver hatte er noch immer in der Hand.

Noch lähmte Schauder die Gedanken. »Er hat es so gewollt!« war Alles, was er sagen konnte.

Er bedauerte den Armen. Er empfand, so fern seine Seele der geschiedenen im Leben gestanden war, daß er doch einen Freund verloren. Abermals einen! Der arme Fridolin hatte so wenig Freunde zu verlieren.

Was hatte er viel von dem Geschiedenen gehabt! Hie und da ein ärgerliches Gespräch, ein Stündchen in einem behaglichen Fauteuil, ein paar Büchernotizen, wenig Anregung im Ganzen. Und doch! »Nun wird Niemand mehr Löwy zu mir sagen!« sprach Fridolin seufzend und die Thränen traten ihm in die Augen. Es hatte ihm jedesmal die Galle 284 aufgeregt, wenn der Andere seinen Namen also verhunzt, und nun rührte es ihn zu Thränen, daß er auf immer dieser Anrede entbehren sollte. So ist der Mensch!

Allein es war auch menschlich, daß dem einsamen Leichenwächter noch andere Gedanken kamen. Er machte dem Verstorbenen bittere Vorwürfe, daß er mit so unwilliger Hast davongegangen. Und warum? Weil der Garten dieses Lebens keine Blumen mehr für ihn trug? Nicht allenthalben bringt der Herbst Rosen. Und hatte denn Naphtali allenthalben Rosen gepflanzt? Oder war er nicht allein darum gegangen? Also weil ihm ein unbequemes Leben unerträglich erschien. Unbequem? Was war denn unbequem? Fridolin mußte sich fragen, ob er selber sich denn in einem bequemeren Leben zurecht finden könnte. War er doch wie ein nomadischer Araber, der in der Wüste dieser Stadt sein Zelt aufschlug, wo er hinfiel. Zelt? Man konnte nicht einmal von einem Zelte reden.

Naphtali selber hatte – keine Stunde war seitdem vergangen – ihm versichert, daß der fünfte Theil dessen, was ihm geblieben, für einen Philosophen auf Lebenszeit ausreichen würde.

Seltsamer Einfall! Wie, wenn ihm der geschiedene Freund solch' ein Fünftheil letztwillig vermacht hätte! Der Einfall verlor an Seltsamkeit, je 285 länger Fridolin ihn erwog. Naphtali hatte trotz seines Gespöttes immer etwas auf ihn gehalten. Wär' er ihm sonst so nahe getreten? Und alle seine erbberechtigten Verwandten standen dem Geschiedenen, so viel er wußte, fern. Naphtali kannte sie kaum; kein persönlicher Verkehr, kein Briefwechsel war zwischen ihm und ihnen unterhalten worden. Sie lebten in kleinen Provinzstädten, standen tief unter seiner Bildung und seinen gesellschaftlichen Ansprüchen. Der Einfall war wahrlich nicht so dumm.

Fridolin sah in der Aufregung des Augenblicks in eine herrliche Zukunft ohne Sorgen. Ihm schwindelte und ein Gefühl hinreißender Dankbarkeit überfiel sein Herz. Er stand auf, als wollt' er die Hand des Todten fassen.

Aber sofort kam es anders über ihn. Er schämte sich des eigennützigen Gedankens gegenüber des noch kaum Erkalteten, und von dieser Beschämung überwältigt, nahm er ein Tuch und, da er sein eigenes Angesicht nicht bedecken konnte, verhüllte er sanft des Todten erstarrte Züge.

Er trat in's Arbeitszimmer hinaus, das noch wie vor einer Stunde hell erleuchtet war. Er ging an dem Schreibtisch vorüber, aber er berührte kein Papier, er schloß die Augen, um auch nicht unwillkürlich eine Zeile zu lesen, in welcher der Entschlafene vielleicht über sein Glück entschieden haben konnte. 286 Er öffnete ein Fenster und sah in die Nacht hinaus, ob Jakob nicht mit der Polizei zurückkäme. Die Köchin und der Kutscher schienen sich offenbar zu fürchten und in ihre Kammern eingeschlossen zu haben. Jakob blieb lange aus. Warum ließen sie ihn da mitten in der Nacht bei der Leiche allein? Ihn schmerzte der Kopf, ihn verlangte nach Ruhe, er wäre gern endlich heimgegangen.

Regte sich da nicht etwas im Zimmer? . . . Oder war's vor der Thüre? . . .

Er öffnete. Rief auf den Gang hinaus. Noch einmal. Dreimal . . . Keine Antwort.

Er ging an die Pforte . . . wollte öffnen . . . rüttelte mit aller Gewalt . . . man hatte ihn von draußen eingeschlossen.

Kommt man nicht endlich zurück?! Und wenn man kommt? . . . Unwillkürlich sah er, daß er noch immer den abgeschossenen Revolver in der Hand hielt. Wenn man käme und ihn, der noch die Mordwaffe trug, als den Mörder seines Freundes ansähe und in festes Gewahrsam brächte!

Das war ein Gedanke, der ihn in's Zimmer zurückführte. Der wollte ausgedacht sein. Er setzte sich noch einmal – ach, zum letzten Mal! – in den beliebten Fauteuil, setzte sich tief hinein und malte sich's nun aus, wie wunderbar es wäre, wenn ihn die Häscher in aller Brutalität am Kragen 287 hätten . . . Auf die Wache mit ihm . . . Nächtliches Verhör . . . Verwirrung der Thatsachen und Begriffe . . . Eine Nacht unter Räubern und Mordbrennern . . . Was that's? Am Morgen war er frei, gerechtfertigt, entlassen und hatte welch' eine Reklame! Alle Zeitungen mußten von ihm reden, von ihm, dem Märtyrer der Freundschaft, dem sinnigen, unschuldig verfolgten Dichter. Zweitausend Exemplare der »Schwimmenden Sterne« mußten in einem Hui abgehen! Drei neue Auflagen waren in kürzester Frist vonnöthen. Nun würde man erst sehen, was Fridolin Löwe für ein Kerl wäre, seit durch ein trauriges Mißverständniß die allgemeine Aufmerksamkeit bemüßigt worden war, sich mit ihm zu beschäftigen. Ja, sie haben ihr Schicksal, die Bücher und ihre Dichter.

Und diese Wendung dankte Fridolin wieder ihm, der kalt und regungslos dort lag und sterbend einen Glücklichen gemacht hatte!

Jetzt aber kam's wirklich auf der Straße daher, feste Tritte, aufgeregte Stimmen, etwas Geklirr von Waffen war auch dabei und Geräusch eines Schlüsselbundes, – oder waren das Ketten, die so klirrten, Ketten, die man gleich für den vermuthlichen Mörder bereit hielt?

Fridolin warf sich in die Brust. Breitspurig stand er auf der Schwelle des Schlafgemachs und beobachtete mit bewußter Künstlerschaft den 288 Beleuchtungseffekt, welchen Lampen und Kerzen auf der furchtbaren Waffe in seiner Hand hervorbrachten.

Da traten sie ein, die Schergen der Gewalt.

»Gestatten Sie gefälligst!« das war Alles, was der Polizeikommissär sagte, da er ihm die Pistole aus der Hand nahm.

Ein Arzt untersuchte mit rascher Geschäftigkeit die Leiche. Der Beamte hatte derweilen alle vier Winkel abgeschnüffelt. Dann ward Einer vor Naphtali's Schreibtisch gesetzt und man diktirte ihm ein kurzes Protokoll. Es ging Alles so nüchtern, sachgemäß und rasch, daß es dem nachtschwärmerischen Müßiggänger scheinen wollte, als wäre der eine und andere der Trabanten bei der wortkargen Hantirung gar nicht recht wach geworden.

Nun legten sie die Siegel an. Nun wollten sie wieder gehen, alles Weitere auf morgen verschiebend. Oho!

Fridolin Löwe pflanzte sich in seiner ganzen Größe vor den Polizeikommissär hin und sprach mit finsterem Trotze: »Befehlen Sie, mein Herr, daß ich Ihnen folge?«

»Warum nicht gar?« entgegnete verbindlich lächelnd der schlaftrunkene Vertreter der öffentlichen Macht. »Sie werden auch froh sein, wenn Sie nach dem Schrecken in Ihr warmes Bett kommen.«

Fahre wohl, zweite Auflage! Der Schafskopf, 289 der Jakob, hatte es auch gar so nöthig gehabt, ihn mit übertriebener Schmeichelei als des Herrn besten Freund und seinen dienstwilligen Helfer herauszustreichen. Nun war's nichts mit der unvergleichlichen Reklame! Nichts!

Noch einen Blick auf den starren Leichnam, – noch einen Blick auf den weichen Fauteuil, den er so sehr geliebt! Dann nahm er von Beiden Abschied auf immer und verließ mit den Polizisten das Haus. 290

 


 


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