Hans Hopfen
Die Heirath des Herrn von Waldenberg
Hans Hopfen

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VI.

Während sich Leonilla über Orlando's Noten und Kind also den Kopf zerbrach, trat Eduard Bolle vor Bettina hin, die so tief in ihre Gedanken verloren dasaß, daß sie sein Kommen überhörte.

»Was sitzest Du im Finstern ohne Licht, Hausmütterchen? Das heißt am unrechten Ende sparen. Oder fängst Du Grillen? Das geht im Dunkeln freilich leichter.«

»Ich mein', sie flögen mir jetzt auch am hellen Tage zu. Haben Sie den Vater sprechen dürfen?«

Bolle besann sich, ob er nicht lieber ein bischen lügen sollte. Allein er brachte es doch nicht über's Herz.

»Es geht nicht gut,« sagte er dann so sanft als er's vermochte. »In dieser Woche . . . in einem Monat ist kaum Hoffnung vorhanden, daß Du den Kranken sehen darfst.«

Bettina weinte still auf ihre Hände.

»Fasse Dich, Hausmütterchen, denke lieber daran, 120 wie Du dem theuren Manne das verarmte Leben so gut als möglich einrichten kannst. Eine Freistelle bekommen wir nicht. Er hat ja zweierlei Pensionen. Und was für welche, du lieber Himmel! . . . Die Gläubiger haben sich auch wieder gemeldet . . . Du weißt, ich bin nicht reich und ich habe selber Kinder, und wie lange wird's dauern, daß sie mir auch den Stuhl vor die Theaterthüre setzen werden! . . .«

»Ach, Vater Bolle, Sie sind ja ohnehin der beste Mensch von der Welt!«

Der wackere Tenorist hatte in der That seine Herzensgüte in diesem Falle wieder vollauf bewiesen. Orlando's Kassen und Taschen waren alle leer gefunden worden. Bolle hatte Alles gegeben, um das Nöthigste zu beschaffen; hatte es gegeben, ohne daß ihn Jemand darum gebeten. Aber nun war er selber am Rande mit seiner Hülfe und sah dem nächsten Zahltage mit einer schweigenden Spannung entgegen, die dem Regelrechten sehr ungewohnt war.

Immerhin ging ihm nichts so gegen den Strich, als das Lob seiner Güte singen zu hören, wo er nicht mehr als selbstverständliche Freundespflicht geleistet zu haben glaubte.

»Was ich gethan habe, Kind, ist nicht der Rede werth; laß uns davon sprechen, was Du thun mußt.« 121

»Ich!« rief das Mädchen mit einer Geringschätzung, mit einem Abscheu gegen sich selbst, der den gleichgewichtigen Bolle erschreckte.

»Hat sich auf Deine Annonce hin denn gar Niemand gemeldet?« fragte er.

»O doch!« antwortete Bettina und wieder hörte sich dieß bittere Lachen recht befremdlich an. »Eine Dame war hier . . .«

»Wohl ein rechter Drache?«

»O, eine feine, schöne, noble Dame!«

»Sie muß Dir empörende Vorschläge gemacht haben, diese schöne Dame, daß Du in diesem Tone von ihr sprichst.«

»Wie man's nimmt! Sie bot mir Alles nach Wunsch, goldene Berge, was weiß ich!«

»Nun, und Du nahmst doch nicht an?!«

»Lieber gleich sterben!«

Bolle schien das denn doch zu bunt. Er strich ein Zündhölzchen an und machte Licht. Nicht anders, als sollte damit auch in dieß wunderliche Gespräch mehr Klarheit eindringen.

»Kind, wie siehst Du aus? Man sollte meinen, Räuber und Mörder wären hier gewesen, nicht eine feine Dame, die Dir wohlwollte.«

Bettina zuckte die Achseln, als wär' ihr Miene und Aussehen völlig gleichgültig. »Ich habe viel weinen müssen,« sagte sie. »Was kann ich dazu?« 122

»Ich bin der Letzte, Dir das zu verargen, Kind; nur ist mit Weinen eben nicht viel geholfen.«

»Sie sind manchmal härter als Sie wissen, Vater Bolle.«

»Niemals härter als ich muß. Sag' selbst!«

»Ja, ja!«

»Und doch hast Du einen günstigen Antrag ausgeschlagen?«

»Ja, gewiß!«

»Ich verstehe Dich nicht. Du wirst Deine Gründe gehabt haben! . . .«

Bettina schwieg. Eduard Bolle wollte nicht in die arme Seele dringen. Sie hatte bei jungen Jahren so Hartes zu tragen. Der gute Mann konnte sich's wohl denken, daß anfangs jede Zumuthung, einer Fremden Dienerin zu werden, das stolze Mädchen empören mußte, welches im Bewußtsein groß geworden war, die Tochter einer Fürstin und eines berühmten Mannes zu sein. An Anderes dacht' er nicht.

Es fiel ihm weder Schlimmeres noch Besseres ein, während er jetzt, die Hände auf dem Rücken, in Bettinens Stube hin- und widerging.

Nur daß auch diese Wohnung anderweit vermiethet werden mußte, das fiel ihm ein und er sagt' es auch. Es verstand sich ja von selbst, daß Bettina für sich allein keine Wohnung behalten konnte. Womit sollte sie die Miethe bezahlen! Sie konnte überhaupt 123 nicht so neben Bolle her leben. Sie mußte anderswo untergebracht werden.

Tag für Tag kamen nun die Beiden auf dasselbe Thema zurück. So sehr Bettina den hülfreichen Freund ihres Vaters achtete, dieß tagtägliche Nergeln brachte sie heimlich auf. Der einfache Mensch mit seinen einfachen Gedanken, welcher nicht müde ward, die grausame Nothwendigkeit und ihr unfruchtbares Gebot mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks zu wiederholen, erregte ihre Galle, ja eine widerstrebende Empfindung, die sich bald nicht viel sanfter als Haß anfühlte. Sie hätte ihm jedesmal mit der Hand vor den Mund springen mögen, so oft sie ihm ansah, nun werde er die fatale Frage, die überflüssige Mahnung auskramen, die er für so nöthig hielt. Es überfiel sie jedesmal eine ordentliche Angst, wenn sie denken mußte, nun wird Bolle gleich aus der Probe oder aus der Vorstellung heimkommen und er wird wieder fragen: »Hast Du denn noch immer kein anderes Angebot erhalten?«

Der alte Tenorist meinte es von Herzen gut. Aber es war lange her, daß er jung gewesen. Er hatte vielleicht nie gewußt, daß es feinfühlige Naturen gäbe, denen man die verfluchte Schuldigkeit schon dadurch verleiden könnte, wenn man sie ihnen tagtäglich in derselben Eintönigkeit vorbetete. Naturen, die nichts peinlicher aufbrächte, als immer wieder 124 von Anderen zu hören, was sie sich ohnehin zu wachsender Pein schon Tag und Nacht selber sagten.

Für Bolle war das Nothwendige immer das Selbstverständliche. Was gethan werden mußte, duldete keinen Aufschub. Frisch angepackt, dann war »Alles ganz einfach!« Er hätte sich in Bettinens Lage keinen Augenblick besonnen, die gröbste Arbeit zu thun. Freilich er war aus anderem Holze. Und wenn es auch Bettina mit Karrenschieben und Lastentragen hätte versuchen können, viel wäre damit für den siechen Orlando eben auch nicht gewonnen worden.

Einerlei! Bolle, der ohne Wissen Bettinens die Anzeige schon dreimal im Blatte hatte wiederholen lassen, Bolle glaubte nicht recht daran, daß nicht ein einzig Mal, während er von Hause abwesend gewesen war, eine annehmbare Stelle sich gemeldet hätte. Darin that er dem Mädchen nun Unrecht. Glaubte dieß auch manchmal zu merken. Aber wenn auch, war's dann nicht um so unverzeihlicher, daß das zimpferliche Ding jenen ersten Antrag, den es selber einen guten nannte, hochnäsig ausgeschlagen hatte!

So erbitterte sich Bolle gegen das sonst so vergötterte Hausmütterchen immer mehr und mehr. Und wie sich Bettina vor der Stunde fürchtete, da sie dem alten Sänger wieder gegenüberstehen und die ewigen Fragen mit gleichem Nein beantworten müsse, so ärgerte sich Bolle selber darüber, daß er sie einen 125 Abend wie den andern in jenem stumpfen Hinbrüten, welches er für verstockte Gleichgültigkeit hielt, sitzen und schweigen fand und der Müßigen die müßigen Fragen stellen mußte.

Er ward dadurch nicht freundlicher und das Mädchen durch sein Gebahren nicht mittheilsamer.

Bettina wäre ja lieber gestorben, als daß sie einem Menschen gesagt hätte, wer die einzige Dame gewesen und warum sie dem freundlichen Ruf in ihr Haus nicht habe Folge leisten können. Sie fürchtete sehr, sich eines Tages vor dem alten Freunde denn doch zu verrathen. Sie konnte sein verdrossenes, vorwurfsvolles Inquiriren nicht länger ertragen. Schon der Gedanke daran machte ihr Kopfschmerzen. Sie wußte selber nicht, wie sie zu dem seltsamen Entschlusse gelangt war. Sie fühlte nur, wie sie auf einmal dachte: Jetzt magst Du, Vater Bolle, die vier Wände fragen, ich höre Dich nicht!

Und als sie sich umsah, merkte sie, daß sie auf der Gasse stand, weit weg von ihrem Stadtviertel, in einer langen, unbekannten Gasse, wo sie Bolle nicht suchen würde.

Sie wunderte sich über sich selbst, daß ihr nicht bänger zu Muthe war, so allein, ohne Begleitung, ohne Zweck, in der Stadt herumzulaufen. Sie fühlte nichts als ein leichteres Aufathmen und den tröstlichen Gedanken, daß sie wenigstens heute 126 den verwünschten Fragen keine Rede zu stehen brauchte.

Sie ging rasch und immer zu. Von einer Straße in die andere. Plötzlich fiel ihr auf, daß ein Mensch, der ihr schon einmal gerade genüber gekommen war, ihr noch einmal begegnete.

Ging sie im Kreise wie behext? Oder verfolgte sie der Mann? Sie sah sich nach ihm um. Er war unweit stehen geblieben und grüßte sie nun. Sie zog den Schleier vor's Gesicht und verdoppelte ihre Schritte.

Jetzt merkte sie auf den Weg und merkte auch auf die Leute, die ihr begegneten. Sie sah wohl, daß sie auffiel. Sie wußte nicht, warum, und war nicht in der Stimmung, nach den Leuten und ihrer Meinung zu fragen.

Dafür meldete sich jetzt aber die Sorge, was sie dem Einen sagen sollte, der über ihr Verschwinden in Sorgen sein mußte, dem Einen, der doch immer wie ein Vater an ihr gehandelt hatte.

Der Zufall schien ihrer Angst zu Hülfe zu kommen.

Ihr Irrgang führte sie gerade vor ein Haus, über dessen Thüre mit deutlichen Lettern ein Vermittlungsbureau für weibliche Dienstleistungen angekündigt war. Sie ging hinein und schrieb sich etliche Adressen auf ein Blatt Papier, das sie achtsam zu sich steckte. Das war ihr viel werth. 127

Bolle ließ richtig diese Entschuldigung gelten, und wenn er auch recht mürrisch auf das Blättchen sah, es schien ihm doch ein Beweis, daß es Bettinen Ernst war, sich ihren Unterhalt zu verdienen. Darum war er auch heute gütig und freimüthig zu ihr und ein Weilchen saßen sie fast so verträglich wie an früheren Abenden zusammen.

Am andern Tag aber um die Mittagszeit kam es wunderlich über sie. Die Sonne schien so freundlich, die Vögel pfiffen und das Papier in der Tasche gab guten Vorwand.

Es lockte, es zwang sie nur so in's Freie hinaus. Und wieder strich sie stundenlang in den Straßen hin und freute sich am Sonnenschein, am bunten Wechsel der Gestalten und all' dem städtischen Getriebe, das ihr die trübsten Gedanken ferne zu halten schien.

Mehr als einmal that's ihr die Scheu noch an. Mehr als einmal wandelte sie der Vorwurf an, daß ihre Verzweiflung solch' unweibliches Herumstreunen nicht entschuldigen könne.

Dann kriegte sie jedesmal ihren Zettel aus der Tasche, studirte sich den nächsten Weg nach einer der angegebenen Stellen zusammen und machte sich so ein Ziel, das zu erreichen war.

So sah sie allerhand wunderliche Wirthschaft, unheimliche Wohnungen, unfreundliche Gesichter. Hörte hier höfliche, dort grobe Auskunft. Nirgends 128 fand sich ein annehmbares Plätzchen. Mehr als einmal gab man ihr einen guten Rath mit auf den Weg, der wie eine Schmeichelei klingen sollte und sie doch schamroth machte.

Das erste Mal trug sie auch das, wie zu ihrer elenden Lage gehörig; das letzte Mal kamen ihr doch die lange verhaltenen Thränen über die blutrothen Wangen gelaufen und sie zerriß den Zettel, der sie solchen Zumuthungen entgegenführte, in hundert Stücke.

Da war es noch besser, ziellos in den Tag hineinzugehen. Freilich seinem Elend entging man darum nicht.

Es war ihr, nun sie wieder das Pflaster unter den Füßen hatte, als müßte ihr jeder Mensch ihren Jammer und ihre Schande ansehen. Darum lief sie, was sie laufen konnte und kam ohne Umsehen und Verweilen athemlos nach Hause.

Bolle saß bei einem verdorbenen Mahl, das er sich selber gar gekocht hatte. Als er aufstand, spitzte er die Lippen, als lächelte er. Bettina wußte wohl, daß er nun schelten würde.

Und er schalt nicht nur. Er platzte los in voller Wuth. Sie erinnerte sich nicht, den athletischen Alten jemals so außer sich gesehen zu haben. Sie mußte sich besinnen, ging das wirklich Alles gegen sie? Diese harten, abscheulichen, unbarmherzigen Worte 129 waren auf sie gemünzt?! Ja, was hatte sie denn verbrochen?

Der starke Mann ward kaum Herr seines Zornes. Der Tod des Knaben Orlando's, ja die Geisteskrankheit des alten Freundes selbst hatten ihn nicht so im Tiefsten erschüttert, wie das, was man ihm heute von mehr als einer Seite zu verstehen gegeben hatte.

Sind die Menschen im Allgemeinen selten geneigt, üble Nachrede auf ihren Feingehalt zu prüfen, so sind die Leute beim Theater, denen leicht Schlimmeres nachgeredet wird, als sie verdienen, mit einer gewissen Schadenfreude darauf erpicht, Böses von Anderen weiter zu befördern. Etliche Herren und Damen von der Oper waren Bettinen in den letzten Tagen begegnet, wie sie, gedankenlos, von Stutzern verfolgt und nicht eben in der sorgfältigsten Toilette, durch die belebten Straßen der Stadt geschlendert, ganz mit dem Gehaben eines unbesorgten Wesens, dem das Ziel, darauf es der Zufall hinführen werde, gleichgültig ist.

Es galt diesen mehr oder weniger bescholtenen Seelen für offenbar, daß die verwahrloste Tochter des früheren Chorregenten nunmehr auf schlechten Wegen wandle.

Freilich, sie war verarmt und verwaist . . . und schön! Ah, was auch die Damen einwenden wollten, 130 die Herren hielten es aufrecht, daß Bettina schön war. Nur darüber waren Herren und Damen einig, daß sie sich immerhin ein bischen mehr Zeit noch hätte lassen können. Sie war etwas früh dran. Und ein bischen mehr Vorsicht hätte auch weder ihrem Ruf, noch dem Andenken ihres Vaters, noch dem Verstande Bolle's schaden können.

Daß man bei dieser schönen Gelegenheit dem alten Philister, der immer gar so ehrbar that, dem steifleinenen Bolle eins aufmutzen konnte, das machte ja den lieben Kollegen den Hauptspaß bei der Geschichte.

Wollte der Flegel sich nicht noch aufbäumen, die ehrlichsten Leute Lügner und Verleumder heißen und allen Ernstes von seinen Fäusten Gebrauch machen! Sein Hausmütterchen dürfte ihm kein Lästermaul antasten! Sie aber konnten ihn schön bedienen. Augenzeugen waren nicht einzuschüchtern. Da waren Herren, die ihr Ehrenwort, Damen, die einen Schwur daran gaben, daß sie Bettina stundenlang auf der Straße herumstreunen gesehen hatten, daß sie gesehen, wie Einer ihr eine halbe Meile weit nachlief und ein Anderer ihr im Vorübergehen was in's Ohr sagte. Ja wohl! Noch weiter wollten sie die Indiskretion nicht treiben. Anständigen Leuten fehle auch die Zeit und – die Schamlosigkeit dazu. Sollten doch Diejenigen darauf ihr Augenmerk richten, die das süße Früchtchen sozusagen erzogen und denen 131 noch heute die Pflicht der Ueberwachung obläge – ja, heute mehr denn je!

Das mochte sich der ausgesungene Tenorist nur hinter die steifen Ohren schreiben.

Ach, all' das, was ihm hinter die Ohren war geschrieben worden, und all' der Schmerz, die Schande, die er in sein braves Herz hatte einstecken müssen, das kam nun siedeheiß über Bettinen. Sein Leben war ehrenhaft gewesen von Anfang bis heute, und daß sie, die er wie ein eigenes Kind liebte, den ersten, einen untilgbaren Flecken darauf geworfen, das brachte ihn aus aller Fassung.

Bettina horchte; sie wußte gar nicht, was man denn eigentlich von ihr wollte; war denn Bolle nun auch für's Irrenhaus reif! Es war ihr, als fiele ein Trunkener aus plötzlich geöffneter Schenke mit Schlägen über sie her. Sie wollte aufschreien und dazwischen wandelte sie's an, als sollte sie dem Tobenden in's Gesicht lachen. Aber allmälig, durch seine eigenen Worte zu herberen Worten hingerissen, fuhr's ihr, auftauchend und gleich wieder verschwindend, wie Klarheit durch's Hirn. Und dann fielen ihr – wunderlich genug in diesem Augenblick – die dreisten, lachenden Rathschläge in den Sinn. mit denen sie gestern, als sie nach Stellen suchte, war abgespeist worden. Pfui! Und heute redete Bolle nicht in viel anderem Ton! Der Mensch, der manchmal so schwer 132 begreift, denkt oft so rasch. Was für seltsames Zeug reimte sich da auf einmal in ihrem Gehirn zusammen! Was hatten Vorwürfe und Wünsche, Träume und Scherze doch für einen wunderlichen Sinn, wenn man wollte. Wie doch Bolle nur so schwatzen konnte! War der Uebertritt aus der harmlosen Tugend in's tiefste Laster so einfach, leicht und selbstverständlich? Mit einem Mal stieg ihr der Zorn zu Kopf. Was kam dem Alten ein, der nicht einmal ihr Vater war, ihr solche Vorwürfe zu machen! Die Unschuld wollte nicht länger mißhandelt sein.

Sie sprang vom Sitz empor und rief den zornigen Mann mit solcher Entschiedenheit an, daß ihm das Wort im Munde stecken blieb.

Er sündigte ja nur aus theilnehmendem Herzen. Ihm gegenüber ward es ihr nicht schwer, sich von jedem Vorwurf rein zu waschen. Und in wenigen Worten. Sie sagt' es ihm in's Gesicht, daß er es sei, der ihr mit seinem ewigen Nergeln das Haus verleide, daß sie sich lieber von Fremden wolle verkennen, als von ihm wolle quälen lassen.

Es fiel dem guten Bolle wie Schuppen von den Augen. Es fiel ihm schwer auf's Herz, daß er vom Zorne sich zu solchen Reden hatte hinreißen lassen. Reden, die Bettina vordem nie gehört hatte, nie hätte hören sollen. Es war ihm nicht oft geschehen, daß ihn die Wuth so kopflos gemacht. Er schämte sich. 133 Und ob er schon auch so dem Hausmütterchen wegen seiner Unbesonnenheiten den Verweis nicht sparen konnte, so hörte dieses doch deutlich genug heraus, daß er mit sich selber noch viel unzufriedener war als mit ihm, und daß er ihm im Stillen jedes Wort abbat, das es nicht verdient hatte. –

Am andern Tage gab es im Theater auf der Probe großen Lärm. Eduard Bolle hatte mit robuster Hintansetzung der königlichen Hausgesetze einen und andern der diensteifrigen Berichterstatter nicht nur beim Ehrenworte, sondern auch beim Kragen gefaßt. Er hatte die vorlauten Kollegen mit seiner einleuchtenden Beweisführung zwar nicht ganz erdrosselt, aber einige hohe und tiefe Töne blieben auf der Probe in den betroffenen Kehlen stecken, einige Damen fielen in Ohnmacht und der Rest der Mitglieder konnte doch nicht umhin, dem thatkräftigen Bolle – obschon auch er auf dieser Probe noch schlechter als die Anderen und schlechter als gewöhnlich sang – vollkommen Recht zu geben.

Der Zwischenfall hatte merkwürdigerweise für den gewaltthätigen Tenoristen keine weiteren schlimmen Folgen, obschon ihm von nicht wenigen Seiten mit Klage war gedroht worden.

Daheim schien's auch, als wäre das alte, gute Einverständniß wieder eingekehrt.

Der reumüthige Eduard hütete sich nunmehr, 134 Bettinen die verhaßte Frage jeden Tag auf's Neue vorzulegen. Und das Hausmütterchen hatte solche Scheu vor der Straße, daß es wochenlang gar nicht an die Luft ging.

Aber am Fenster stand sie wie eine Gefangene und sah hinaus, in Träumereien verloren, ohne die Stunden schlagen zu hören. Dieß zwecklose, unbemüßigte Laufen in freier Luft war ihr ein solcher Trost gewesen. Auch den hatten ihr die schändlichen Menschen nicht vergönnt. Ach, wie sie sich hinaus sehnte!

Was fing sie nur an den ganzen Tag?! Ach, wie sich die Stunden dehnten!

Wenn es Mittag, meist auch, wenn es Abend wurde, kam Bolle wieder. Mürrisch, wortkarg, rechthaberisch. Es war eine unerquickliche Gesellschaft. Ein Herz konnte sie seit jenem falschen Verdachte ohnehin nicht mehr zu ihm fassen. Er erschien ihr nicht anders, als dem Gefangenen der Gefängnißwärter. Der Gefangene würde ihn schon gerne hassen, aber dieser bringt ihm doch Nahrung und zeigt ihm ein menschliches Angesicht. Das ist viel in solcher Lage.

Für gewöhnlich kam indessen Bolle nach der Vorstellung nicht heim. Und wenn er kam, so wußte sie, daß er's für Schuldigkeit hielt, ihrer Hut zuliebe manchmal aus dem gewohnten Bräuhause 135 wegzubleiben. Viel liebenswürdiger machte das Bewußtsein dieses Opfers seine Laune auch nicht.

Und doch, wenn sie die Abende so mutterseelenalleine dasaß, wünschte sie, der alte, eintönige, vorwurfsvolle Geselle träte zur Thüre herein.

Was sollte sie beginnen? Das Klavier war ihr verleidet. Es machte sie immer an den Vater denken und darum weinen. Ja, wenn sie so mit Gewalt sich in den finstern Abend, in die Nacht hineinspielte, da ließ es nie lang auf sich warten, bis sie den Vater zu hören meinte, wie er seufzte, rief, im Wahnsinn schrie! – Es war entsetzlich. Sie wagte nicht, sich umzusehen. Sie meinte dann zu merken, wie ihre Finger beim Spielen wuchsen und die Empfindung der Fingerspitzen auf den Tasten in außerkörperlicher Länge sich fühlbar machte. So äfften sie die krankhaft aufgeregten Nerven.

Das war eine seltsame, halb schaurige, halb peinliche Empfindung, vor der sie sich fürchtete, und doch wollte sie dann am wenigsten mit dem Spielen abbrechen, ja sie konnte kaum. Trotzdem aber trug auch diese Empfindung bei, ihr das Klavier zu verleiden.

Es fiel ihr auffallend spät ein, daß man sich die Zeit auch mit Bücherlesen vertreiben könnte.

Eduard Bolle hatte nicht viel Gedrucktes auf seinem Brettchen stehen, was die Wißbegier eines 136 neunzehnjährigen Mädchens reizte. Mit Bibel, Gesangbuch, Schiller's Werken und Knigge's »Umgang mit Menschen« hatte man den größeren und gemeinfaßlichen Theil seiner Bibliothek erschöpft.

Der Vater hatte doch auch Bücher besessen. Sie erinnerte sich sogar, wo sie dieselben zuweilen, wenn Orlando seine Kasten vor ihr aufschloß, gesehen hatte. Nun hatte ja sie alle Schlüssel.

So aus Müßiggang fing sie an, in des Vaters Sachen zu kramen, als wär' er schon todt. Ach, in gewissem Sinn war er's ja auch, der Aermste! Neugierde trieb sie nicht, wenigstens im Anfang nicht.

Sie fand da wunderliches Zeug und oft, wo sie es am wenigsten gesucht hatte.

Der alte Musikant hatte nicht viel auf Ordnung gehalten. Zwischen vollgeschriebenen Notenheften – Entwürfen und Ausführungen durcheinander – lagen oft kleine Briefchen, annoch mit halbverlorenem ungewöhnlichem Dufte behaftet, allerhand vergilbte Sächelchen, die gar nicht in eines Herrn Hausrath paßten, Schleifen und Spitzen, einzelne Handschuhe, die ihrer kleinen Hand kaum paßten, und vertrocknete Blumen von der Art, wie sie Orlando gewiß niemals im Knopfloch getragen hatte.

Sie stieß auf Briefe ihrer Mutter. Zwischen diesen waren wieder andere, die gewiß nicht dahin gehörten, und doch waren sie da. Und die Briefe 137 ihrer Mutter selbst . . . hätte sie ihr ein Anderer gezeigt, sie hätte sie nicht für echt gehalten. Aber da sie sie selbst und an dieser Stelle gefunden –

Durfte sie denn die Briefe lesen? Erst sagte sie: Nein. Dann fand sie aber wieder so wunderliches Zeug unfern davon, daraus sie gar nichts zu machen wußte, daß sie unwillkürlich, um sich nicht in allzu eitle Gedanken zu verlieren, rasch wieder nach den Briefen griff, welche sie auch nichts angingen, aber doch bestimmte, faßliche Gedanken enthielten, die ihrer ausschwärmenden Einbildungskraft einen Halt gaben.

Noch vor Wochen hätte sie sich nicht unterfangen, einen Brief, der nicht an sie gerichtet war, zu lesen. Aber in diesen Tagen war ihre Neugier so fieberhaft erregt worden, daß sie an Alles tastete und Allem einen Sinn abhorchen wollte, was ihr wohl oder übel zwischen die Finger gerieth.

An Entschuldigung fehlt es ja nie. Es fiel ihr ein, wie sie als Kind nie habe glauben wollen, daß ihre Mutter wirklich gestorben sei. Jetzt setzte sich wiederum derselbe Gedanke mit der Zähigkeit einer Laune in ihr fest, ob nicht vielleicht wirklich noch die Mutter am Leben sei.

Dafür fand sich nun freilich in den Briefen nicht der geringste Anhaltspunkt. Aber es mußte ein seltsames Leben gewesen sein, was diese Fürstin in der weiten Welt geführt hatte. 138

Bettina lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sie versuchte, ob sie das Bild der Frau noch vor ihr Erinnern beschwören könnte.

Ja, so war's! Sie meinte es wieder zu haben. Und sprang auf und lief vor den Spiegel und befragte sich, ob sie der länder- und menschenkundigen Dame ähnlich sei.

Nur zu sehr! fand sie und wußte nicht, sollte sie sich darüber freuen oder es zu vergessen suchen.

Also in ungesundem Treiben verrannen ihr die Tage.

Endlich hatte sie auch Bücher gefunden. Allerhand kleine, schöngebundene Bändchen des verschiedensten Inhalts, meist in italienischer oder französischer Sprache.

Einige davon warf sie gleich wieder beiseite. Andere vertrieben ihr die Zeit recht angenehm. Sie hätte sich's vorher gar nicht träumen lassen, was Alles sie in diesen Büchelchen finden sollte, die man so bequem in die Tasche stecken konnte und die sich in einer Damenhand so zierlich ausnahmen.

Nun las sie oft ganze Tage lang und nicht selten halbe Nächte dazu. Ihre Einbildungskraft war in einem beständigen Kreisen. Sie las selbst beim Waschen und Kochen. Es bekam beiden Hantirungen nicht zum Besten. Was lag ihr daran! Sie vergaß dabei auf's Essen, ach, wie oft. Auch daraus machte sie 139 sich nichts. Zwar die erkälteten Gerichte ekelten sie dann meist an und, sie aufzuwärmen, war weder der Mühe, noch des Feuers werth. Da that ein Stück Brod Genüge und dabei ließ sich auch bequemer lesen.

Um von Bolle nicht gestört zu werden, der in Sachen der Hausordnung keinen Spaß verstand, legte sich Bettina sehr früh zu Bette. Hörte sie die schwanke Treppe unter dem Kommenden ächzen, im Hui war das Licht ausgeblasen, das Büchlein unter's Kopfkissen geschoben und die Heuchlerin schlief so fest, daß der gewissenhafte Hausvater sich ordentlich einen Vorwurf daraus machte, die Kammerthür geöffnet zu haben, und auf den Zehen davonbalancirte, daß sich ein Dieb an seiner Vorsicht ein Muster hätte nehmen können.

Kaum hatte sie drüben seinen Riegel klappen gehört, war das Licht schon wieder entbrannt und mehr als einmal schien die Morgenröthe hell durch den Vorhang, bis Bettina, in ihr winzig Büchlein vertieft, erst bemerkte, daß dieß Licht am Tage von Ueberfluß.

Was Wunder, daß sich bei dieser Lebensweise auch ihr Aussehen veränderte. Ihre Augen bekamen einen seltsamen Glanz, ihre Wangen wurden blässer, ihre Backenknochen traten deutlicher unter den Augen hervor; sie ward magerer, so daß es Bolle'n manchmal scheinen wollte, als wäre sie noch gewachsen. 140 Ihr Körper hatte ein scheues, fahriges Wesen angenommen, das nicht zur Ruhe kam, als wenn sie endlich wieder im Winkel saß und las.

Der alte Hausgenosse sah das Mädchen manchmal recht nachdenklich an. Fremde Sprachen verstand er nicht. Daß Einer las, daran hatt' er kein Arg. Und wie's Bettina trieb, das wußt' er nicht.

Er sah nur eben, daß das Ding sich seltsam veränderte. An Schönheit hatte es dabei kaum eingebüßt, und wenn an Schönheit, sicher nicht an Reiz. Und doch gefiel's ihm nicht. Von den Reden seiner Kollegen war immerhin ein bischen Verdacht in ihm hängen geblieben. Und ab und zu ließ er dann doch ein Wörtchen fallen, das an alte, leidige Fragen erinnerte. Er konnte nicht umhin.

»Ein wenig Zerstreuung ist Dir wohl zu gönnen. Aber vergiß über dem vielen Lesen Deinen Vater und Deine Zukunft nicht!«

Wenn er solche Mahnung fallen ließ, dann warf das verwandelte Hausmütterchen wohl im Zorn das Buch an die Erde und hob es auch nicht wieder auf, nachdem Bolle schon lange zum Hause draußen war.

Finstere, quälende, jammervolle Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Sie ließ sich mit einer Art Lust von diesen quälen. Die Menschen wollten ja, daß sie solchen Gedanken stillhielte. Mochten sie nur ihr Herz zerfleischen! 141

Es war zum Glück ein widerstandskräftiges, junges, elastisches Herz. Und wenn es eine Weile geblutet hatte, faßte sie's auch und warf's in andere Gedanken.

Ihr fehlt' es ja jetzt nicht an bunten Vorstellungen aller Art. Manche Gestalt aus ihren Büchern schien ihr, hochgeschürzt, in weiten Reifröcken, rothe Hacken unter dem glänzenden Schuh, auf sie zuzuschreiten. Die Damen in barocken Frisuren verneigten sich tief, die Herren, den Hut unterm Arm, den Degen unter dem Seidenfrack, forderten sie zum altmodischen Tanze, zu ungebundenem Mahl, zu Pfänderspiel und Räthselrathen heraus. Schäfer und Musketiere, Pagen und Mönche schwankten in langem Zuge vorüber, bocksfüßige Satyre liefen dazwischen mit Flötengeblase.

Sie wunderte sich selbst, wie ihr oft im größten Trübsinn die putzigsten Gestalten aus ihren Büchern einfielen. Und wie sie ebenso rasch wieder davon waren, um anderen Bildern Platz zu machen oder blassen, unfaßbaren Gedanken.

Sie schob den Lehnstuhl vor den Spiegel, setzte sich auf ihre Füße und fuhr sich in's Haar. Löste alle Nadeln los und versuchte, sich eine hohe, hohe, ganz närrische, ganz unerhörte Frisur auf dem Kopf aufzubauen, so wie vielleicht die galante Heldin einer lustigen Geschichte sie getragen, als Der und Jener sich um sie gequält. 142

Sie versuchte Mancherlei, was nicht halten wollte. Auch Hals und Schultern gab sie frei und schürzte ihr Kleid und trieb allerhand Possen und Komödienspiel – Possen aus Verzweiflung. –

*

Einmal, wie sie just im besten Zuge war und sie ihr Kleid so recht verschoben und ihre Haare in die wildeste Unordnung gebracht hatte, reißt es draußen an der Schelle.

»Gewiß wieder Jemand wegen der Wohnung!« dachte Bettina, sich mit eiligen Händen die Falten zurechtstreifend.

Doch nein! die Wohnung war ja seit ehegestern vermiethet. Das fiel ihr jetzunder peinlich genug zu Sinn. Aber dann brauchte sie ja gar nicht zu öffnen! Ihre widerspenstigen blonden Haare machten ihr gar so viel zu schaffen und wollten sich nicht fassen lassen.

Der draußen schien's aber nöthig zu haben, daß geöffnet wurde. Er klingelte gleich zwei-, dreimal nach einander und es war nicht wünschenswerth, daß er den Schellenzug entzwei riß.

So griff sie denn hurtig nach dem Regenmantel und zog ihn über's Kleid und knöpfte ihn über den losgegangenen Haaren zu, welche sie, wie sie ihr in die Hände kamen, in den Nacken hinabstrich. Sie knöpfte einen Knopf nach dem andern zu, von oben bis unten. Und bis sie damit fertig war mit der 143 Linken, hatte sie mit der Rechten auch schon die Thüre halb geöffnet.

»Enfin! Nicht wahr, ich dachte richtig, daß Jemand im Hause wäre!« sagte Naphtali Hertz und lachte behaglich.

»Ich bitte Sie,« antwortete Bettina. »treten Sie nicht ein. Bolle ist nicht zu Hause und bei uns Alles in Unordnung.«

Sie sagte aus Gewohnheit noch immer »bei uns«, obwohl sie allein war. Naphtali, seine Absicht verfolgend und ohne alle Lust, so bald zum zweiten Male nach der kleinen Gartenstraße zu wallfahrten, kehrte sich nicht an das Mädchen; er sah es kaum an und schob die Thüre mit den Worten auf:

»Alte Freundin, machen Sie keine Umstände. Bolle's wegen komme ich ohnehin nicht. Mir ist es um einen Band meines Johann Sebastian Bach zu thun, den ich einmal bei Ihrem guten Vater gelassen habe. Er braucht ihn jetzt leider nicht, Sie brauchen ihn gewiß auch nicht und mir fehlt er.«

Bettina schämte sich ihres vernachlässigten Anzugs. Aber gegen die zugreifende Gelassenheit dieses Mannes, der sein Eigenthum zu suchen gekommen, war nichts auszurichten. Er that, als wäre sie gar nicht da und, wohl vertraut mit der Wohnung, war er vor ihr im Saal und kramte in den Notenstößen, 144 die um Orlando's Klavier und unter demselben aufgeschichtet standen.

Sie folgte ihm nicht nach. Sie war just damit beschäftigt, vor dem Spiegel in ihrer Kammer ihre Haartracht in Ordnung zu bringen, als sie Naphtali aus dem Saale nach ihr rufen hörte. Gleich darauf vernahm sie plötzliches Gepolter, wie von übereinanderkollernden Sachen.

Sie stürzte, wie sie war, erschrocken in's Zimmer und fand Naphtali zwischen allerhand umgeworfenem Geräthe nicht ohne Verlegenheit auf dem Fußboden knieen.

»Verzeihen Sie, Fräulein Hunzelsperger,« sprach er, »ich habe im Eifer, nach meinen Noten zu suchen, ein gutes Möbelstück umgeworfen. Ich bin von Natur ein wenig ungeschickt und ziemlich kurzsichtig. Sie werden gut thun, mich nicht allein zu lassen. Ich glaube, ich habe da wirklich etwas zerbrochen. Seien Sie mir nur nicht böse!«

Bei diesen Worten war keinerlei Verstellung mit untergelaufen. Wenn er sich's allein zugetraut hätte, den Notenband aus dem Wuste heraus zu finden, es wäre Naphtali vollkommen gleichgültig geblieben, ob Bettina ihm suchen half oder draußen blieb.

Er war nur mit dem Gedanken beschäftigt, daß über kurz oder lang die Wirthschaft des im Irrenhause untergebrachten Organisten sich auflösen und 145 der größte Theil der vorhandenen Musikalien unter den Hammer kommen würde. Wenn er sich nicht bei Zeiten selber um sein Eigenthum umthat, so ging der eine Band unbesehen denselben Weg und die theure Sammlung der Bach'schen Werke war verstümmelt und entwerthet.

Erst jetzt, wie er dem Mädchen half, den umgeworfenen Notenständer aufzurichten, die zerbrochenen Stücke vom Boden aufzulesen und die umhergestreuten Musikalien wieder an die gehörige Stelle zu schaffen – eine Arbeit, wo Eines dem Andern Handreichung leisten mußte – erst jetzt fiel ihm das lose Haar und die außergewöhnliche Bekleidung Bettinens auf. Er mußte deutlich genug merken, daß der Regenmantel nur in aller Hast über einer sehr unvollständigen Toilette war zugeknöpft worden, daß die Arme, die so oft ihm hülfreich entgegenkamen, nackt in den Aermeln stacken, und daß Bettinens Wangen noch immer wie die einer peinlich Ueberraschten glühten.

»Warum sehen Sie denn immer beiseite, Fräulein?« fragte Naphtali. »Vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen ungelegen kam, aber –«

Er sprach nicht weiter. Das herausgeforderte Mädchen richtete jetzt fest und freundlich die Augen auf ihn und er fand, daß diese sehr schön waren. Diese Beobachtung machte er nun zwar nicht zum ersten Mal, aber sie hatte sich ihm nie mit solcher 146 Gewalt aufgedrängt und nicht Gedanken in seine Seele geworfen, die seine Wünsche entzündeten.

»Ich glaube, ich werde besser thun, Ihnen die Nachforschung nach dem göttlichen Johann Sebastian allein zu überlassen,« sagte er, sich die Stirne trocknend, »mir ist bei dem Manöver ordentlich heiß geworden. Verzeihen Sie nur meine Ungeschicklichkeit.«

Er konnte kein Auge von dem Mädchen abwenden, das, jetzt sich zur Erde bückend, dann sich aufrichtend und über's Haupt die Arme hebend, die Noten auf hohe Regale legte und sich wieder bückte und so in unbewußter Anmuth die schöne Harmonie ihrer jungfräulichen Formen zeigte, die das knapp anliegende Gewand noch mehr ahnen ließ, als es sie verhüllte.

Er saß da wie in einem Schauspiel. Je öfter ihn ihr Auge traf, desto deutlicher ward dem erfahrenen Manne die Wahrnehmung, daß sich Bettina seit dem Verschwinden ihres Vaters auffallend verändert habe. Im ganzen Wesen und besonders im Blick. Was für wunderliche Geister spukten in diesen Augen? und wo hatte sie das Mädchen aufgelesen? Er war wie Alle, die in Orlando's Wohnung ab- und zugingen, gewohnt worden, das sogenannte Hausmütterchen weit mehr als Kind, denn als volle Jungfrau zu beachten.

Nun war sie seltsam reif geworden in der kurzen Einsamkeit. Ueberreif! so wollt' es ihm scheinen und 147 es ward ihm fast schwer, an die gänzliche Einsamkeit zu glauben.

Allerhand Gedanken fuhren ihm durch den Kopf. Er hatte sich an jenem Nachmittag, da Orlando vor der Zeit von ihm geschieden, mit guter Freundschaft zanken müssen. Er lebte seitdem einsamer und verstimmter als je. Warum lebte er so einsam und so griesgrämig, wenn dicht daneben ein schönes Geschöpf auch in Einsamkeit lebte, in einer Verlassenheit, die ihr vielleicht sehr gefährlich werden mußte bei ihrer Armuth, ihrer Jugend, ihrer Schönheit und der Verderbtheit der Welt!

Bettina hatte nun endlich den Band gefunden. Aufathmend, die vorgefallenen Haare aus dem gerötheten Gesichte streichend, brachte sie dem betrachtenden Manne das große, dicke Buch und legte es ihm zur Seite auf den Tisch.

»Erlauben Sie einem alten Freunde, zu fragen, wie es Ihnen geht.«

Bettina zuckte die Achseln und biß sich in die Lippe.

»Weichen Sie mir nicht aus!« sagte Naphtali. Er wußte selbst nicht, wie er dazu gekommen war, ihre Hand in der seinen zu halten. Seine Frage klang wie aus ernstlichem Antheil. Er bildete sich vielleicht ein, daß er heute diese Frage unter allen Umständen an die Tochter Orlando's gerichtet hätte.

»Was soll ich Ihnen sagen?« antwortete Bettina 148 gelassen, ohne dem alten Hausfreunde die Hand zu entziehen.

»Was aus Ihnen werden soll. Haben Sie eine Aussicht, sich ihren Lebensunterhalt bequem zu verdienen?«

»Ich habe ganz und gar keine Aussichten, weder bequeme, noch unbequeme,« antwortete Bettina kalt, fast spöttisch.

»Sie erschrecken mich! Haben Sie bedacht, daß Ihres Vaters kärglicher Ruhegehalt für seinen jetzigen Unterhalt kaum hinreichen wird?«

»O, Herr Bolle sagt mir das jeden Abend.«

»Sehr begreiflich! Bolle selbst hat nichts zu viel. Wie wollen Sie diesen Ansprüchen gerecht werden?«

»Das weiß nicht einmal Bolle. Vielleicht weiß es Gott!«

»Und wenn Sie es zur rechten Zeit nicht selbst wissen, was wollen Sie thun?«

»Mir die Augen aus dem Kopf weinen . . . betteln . . . in's Wasser springen vielleicht!«

»Bettina!« rief Naphtali laut aus. Er war, fast zornig über diese bewußte Verzweiflung, vom Stuhl ausgestanden.

»Was ist?« sagte das Mädchen, freundlich betroffen, als hätte sie die Wirkung ihrer schauerlichen Worte überraschen können.

Sie sah ihn starr an, als wartete sie, was er 149 nun noch fragen wollte. Ueber dem Anschauen Aug' in Auge vergaß aber Naphtali alle noch vorräthigen Fragen. Es war wieder etwas in dem Blick des Mädchens, das alle Schleier der Verzweiflung und des Trübsinns durchbrach und Einen schalkhaft, fürwitzig anblitzte bis in's mitfühlende Herz hinein.

Naphtali besann sich, was das Beste wäre, das er der hülflosen Schönheit sagen sollte. Als brauchte er einen Anhaltspunkt seiner Gedanken, legte er über dem Besinnen den Arm um die schlanke Taille. Sie wehrte sich kaum. Er fühlte, wie ihr Herz unter dem dünnen Regenmantel gegen seine Brust schlug. Er meinte in diesem Augenblick in vollem Ernst, daß er das Mädchen liebte.

Und Bettina? Sie fühlte wohl, daß Einer sie im Arme hielt und fest an sich drückte. Sie meinte auch, daß sie solch' Unterfangen eigentlich nicht leiden sollte. Aber es that ihr wohl, daß es einen Menschen auf der Welt gab, der innigen Antheil an ihr nahm, und dann war wieder jene träumerisch-üppige Befangenheit über ihr, wo die Kobolde aus ihren italienischen Novellen um sie zu tanzen anfingen. Es war ein Augenblick, wo sie nicht wußte, wer sie da eigentlich im Arme hatte. Sie sah ihn freilich auch nicht an, sondern starrte so vor sich hin und dachte, ob sein Frack vielleicht von grüner Seide und seine Perrücke nach der neuesten Mode blond sei. 150

In der nächsten Minute besann sie sich, daß es Naphtali Hertz war. Sie mußte lachen. Es freute sie nicht, es grämte sie nicht, es war ihr auf einmal unsagbar einerlei. Sie hätte nur überhaupt ihr elendes Schicksal beweinen mögen.

»Wie wär' es, Fräulein, wenn Sie meine Hülfe annähmen? Ziehen Sie die Lippen nicht so . . . Warum sollten Sie denn nicht! Wir kennen uns so lange. Sie sind mir sehr werth . . .«

»Nun und?«

»Jenun . . . Seit Ihr Vater mich nicht mehr besuchen kann, fehlt auch mir ein Stück meines Lebens. Ich war so gewohnt daran, mit ihm einige Nachmittage in der Woche zu musiziren. Ich hatte mich so eingelebt in seine geniale Weise . . . Wissen Sie was? . . . Uebernehmen Sie an seiner Statt die liebenswürdige Pflicht, sich mit mir einige Stunden in der Woche . . . nein, einige Stunden im Tage zu langweilen. Wir spielen zusammen vierhändig, wir lesen Noten zusammen, lesen, was Sie wollen, wir lachen, wir fahren aus, wir speisen zusammen, wir . . .«

Bettina lachte. »Sie sind wohl nicht recht klug!«

»Möglich, aber dann ist es Ihre Schuld.«

Sie lachte wieder.

Er versuchte es noch einmal, sie an sich zu ziehen. Stürmischer, gewaltsamer als vorhin. Das gefiel 151 ihr nicht. Der Kuß, den er ihr zu geben versuchte, glitt machtlos auf ihr offenes Haar.

»Nun, Bettina!« begann Naphtali noch einmal. »Wollen Sie meinen Vorschlag annehmen?«

»Hat es denn Eile!« spottete Diese.

»Gewiß hat es Eile . . . Scherzen Sie nicht in Ihrer Lage . . . Mir ist es Ernst! . . . Hören Sie auf mich!«

Bettinens Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Unwillkürlich legte sie ihre Hand auf die linke Seite.

»Ich höre!« sagte sie leise.

»Und Sie kommen zu mir? . . . alle Tage unseres Lebens, Bettina? . . . und gleich morgen? . . . heute noch?«

»Morgen vielleicht!« antwortete die Tochter der Fürstin. Es kam ihr vor, wie sie das sagte, als redete ein Anderer außer ihr, als hätte sie geredet, ohne zu denken. Sie zuckte zusammen wie aus dem Schlaf, als sie fühlte, wie ihr Naphtali dankbar beide Hände küßte.

»Und nun keine Sorgen mehr!« rief der reiche Mann in so freundlicher Erregung, wie er lange nicht gesprochen hatte. »Ihr Kummer sei der meinige, und Alles, was mein ist, gehört von nun an Ihnen!«

Das Mädchen horchte verwundert auf. Faßte sie jetzt erst die Bedeutung seiner Worte? Oder machte die unselige Verzauberung ihrer 152 phantasirenden Sinne jetzt erst dem Gefühl der laut redenden Wirklichkeit Platz? Sie wiederholte sich in Gedanken noch einmal, was der Mann da eben gesagt hatte. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken.

»Gehen Sie jetzt, Herr Hertz, ich bitte, gehen Sie.«

»Sie haben Recht. Ich gehe,« versetzte der Mann und sah ob seiner männlichen Selbstbeherrschung sehr zufrieden drein.

Er griff nach dem köstlichen Johann Sebastian Bach und setzte ohne weitere Ceremonien mitten im Zimmer seinen Hut auf den Kopf. Wahrscheinlich um die eine Hand frei zu machen, da die andere durch den schweren Band außer Kampf gesetzt war. Er reichte ihr jene zum Scheidegruße und sagte lächelnd: »Also, mein süßes Kind, auf morgen!«

Sie berührte die dargereichte Hand mechanisch mit ihren Fingerspitzen. Aber es wollte kein Wort über ihre Lippen gehen. Dennoch nickte sie wie bejahend mit dem Haupte. Hätte sie Nein gesagt, wie der Wille sie antrieb, so wäre sie den Versucher nicht losgeworden. Und er war ihr jetzt unerträglich. Nichts dringender, als daß er ging.

Er ging. Sie riegelte die Thüre zweimal zu, als könnt' er unversehens wiederkehren. Sie horchte, wie sein Wagen davonrollte. Sein Wagen vor ihrer Thüre! Sie schlug die Hände vor's Gesicht . . . 153 Nicht um zu weinen. Nein, wie Jemand, der sich aus einem wachen Traum erwecken will, gewaltsam, strafend.

Sie lief zurück. Sie kämmte sorgfältig ihr reiches, lichtblondes Haar, sie zog sich hastig an, sie betrachtete sich ein über's andere Mal prüfend im Spiegel, als brauchte sie sich zu vergewissern, daß sie's auch richtig sei.

Es fiel ihr ein, daß Bolle wohl vor Abend zurückkommen müsse heute, da keine Vorstellung statthatte. Es fiel ihr ein, daß er Verdacht schöpfen müßte, wenn er die Thüre, die er von Außen zu öffnen verstand, wider alle Gewohnheit verschlossen fände. Wo hatte sie heute ihre fünf Sinne! Wie, um alle Welt! wie wollte sie heute vor Bolle bestehen, wenn der wackere Mann einen Verdacht gegen sie ausspräche, und wäre es der beleidigendste!

Sie lief nach der Thüre, um sie in den vorigen Stand zu setzen. Und eben so eilig lief sie wieder zurück, als wär' Eins hinter ihr her.

Mitten im Zimmer blieb sie stehen. Sie starrte auf den Schreibtisch, davor Naphtali Hertz gesessen.

War denn wirklich Einer bei ihr gewesen, Einer, der ihr Vorschläge gemacht?

Lächerlich, was sich nicht Alles zusammenträumen ließ. Mit wachen Sinnen!

Sie blickte vor sich. Was lag da auf dem 154 Schreibtisch, dieß neben dem Tintenzeug, schlicht und niedlich in weißes Papier gewickelt? Es war vorher nicht dagewesen. Es gehörte nicht ihr.

Oder doch? Und warum zögerte sie, es zu berühren?

Und wenn Bolle kam und wissen wollte, was da drin sei?

Sie griff darnach, besah's und schrie auf.

Ein Röllchen Gold!

In zierlichen Lettern stand die Bestätigung der Bank darauf. Der vorsichtigste Mensch konnte das Röllchen ungezählt für tausend Mark nehmen.

Bettina meinte, die Augen sprängen ihr aus dem Kopf. Was war denn das da in ihrer Hand? Ein Almosen? ein Geschenk? Pfui schon, wär' es nur das. Es ist was Schlimmeres: vorausbezahlter Lohn!

Sie nahm's und warf es fluchend auf den Boden. Warf es in ihrer Wuth mit solcher Gewalt von sich, daß die doppelte Hülse platzte und die blanken Goldstücke nach allen Seiten hin über den Boden, über den Teppich, unter die Tische, unter die Schränke, unter's Klavier kollerten.

Um Gottes willen, wenn jetzt Bolle käme!

Sie stürzte auf die Kniee und raffte, spähte, griff nach allen Seiten. Sie hatte schon ein Häuflein der niedlichen, zierlichen, blinkenden Fünfmarkstücke 155 zusammengescharrt und trug es nun in beiden Händen, ob auch etliche wieder über die Finger an den Estrich sprangen, als wollten sie neuer Haft entwischen. Ungezählt warf sie das Gefundene in die Schreibtischlade.

Allein sie durfte sich noch keine Ruhe gönnen. Sie wußte wohl, das konnten noch nicht alle sein! Richtig, da hatte sie eins fallen lassen und dort eins übersehen. Vor dem Spiegel lagen auch noch drei. Man sah ihren Wiederschein im Glase . . . Herr Gott! war das nicht Bolle's Schritt?

Sie wollte nach der Thüre, sie nochmals verriegeln. Aber nein, wenn's zu spät wäre . . . Lieber keine Sekunde verlieren und ungesäumt auflesen, was da noch herumliegt.

Sie rutschte auf den Knieen hin und her, sie strich den Teppich mit prüfender Hand wiederholt auf und ab. Sie schärfte ihre Augen, sie zündete sich überdieß noch eine Kerze an und leuchtete unter alle Schränke. Gottlob, nun hatte sie Alles wohl beisammen. Und Keiner hatte sie gestört, Keiner überrascht dabei. Sie hätte beten mögen.

Aber nichts war dringender, als das Restchen zu dem Uebrigen zu werfen. Da lagen sie beisammen. Sie wischte sich die Hände vor Ekel.

Glücklich wäre sie gewesen, wenn's nur damit sein Bewenden hätte haben können. Aber ob's ihr 156 paßte oder nicht, sie mußte die verwünschten Goldstücke auch noch zählen, um sich zu vergewissern, daß ja keines übersehen worden sei.

Ihr Herz pochte, daß sie's zu hören glaubte. Da saß sie und zählte mit ängstlicher Lippe und ängstlicher Hand und schichtete ein Häuflein neben's andere. »Sechzig, fünfundsechzig . . . fünfundsiebenzig . . . Jesus, Maria! . . .«

Dießmal war's wirklich Bolle's Schritt, den sie gehört hatte. Gerade noch zur rechten Zeit gehört, um die Schreibtischlade zu verschließen und den Schlüssel abzuziehen.

Sie drückte das kalte Schlüsselchen zwischen ihre heißen Hände, sie führte es an ihre Lippen, just als wollte sie sich fühlbar überzeugen, daß, ohne ihr Gewalt anzuthun, kein Mensch erfahren könnte, was in der Lade da drinnen versteckt sei.

Jetzt klinkte Bolle die Stubenthüre auf und jetzt vergrub sie das Schlüsselchen, ohne es aus der Hand zu lassen, in ihre Tasche.

Was ihr den Muth gab, vom Stuhl aufzustehen und dem alten Hausgenossen dreist entgegen zu gehen, wußte sie selbst nicht.

»Guten Abend, Vater Bolle!«

»Guten Abend, Kind. Nichts Neues?«

»Nicht daß ich wüßte!«

Er betrachtete sie eine Weile mit scharfen, 157 prüfenden, mißtrauischen Blicken. Sah sie nicht heute noch verdächtiger aus wie gewöhnlich?

»Bist Du unwohl? . . . Du siehst so blaß . . . so, ich weiß nicht wie.«

Bettina schüttelte nur das Haupt und zuckte die Achseln.

»Du wirst immer verschlossener, immer mißtrauischer, immer wunderlicher,« sagte der alte Tenorist. »Ich will Dich darum nicht schelten. Ich weiß recht gut, daß es in Deinen Jahren schwieriger ist, als in den meinen, die Seele im Gleichgewicht zu behalten. Aber Mittheilung läßt uns Mißgeschick leichter ertragen. Und Du solltest wissen, daß Du an mir einen treuen, väterlichen Freund hast, der Dich gerne reden hört und der auch nicht aus dem Häuschen fährt, wenn Du einmal kindisches oder überspanntes Zeug schwatzest. Nur dieß verstockte Schmollen kann mich aufbringen . . . Indessen bin ich der Letzte, der seinen Nebenmenschen zur Mittheilsamkeit zwingen will.«

»Aber ich habe nichts mitzutheilen, ich habe keine Geschichten zu erzählen!«

»Um so besser!« sagte Vater Bolle. Bettina's ausweichende Redensart war mit so aufgeregter Stimme hervorgestoßen, daß dieser gepreßte, zitternde Ton genügte, um hinter ihren Worten eine andere Wahrheit ahnen zu lassen. Es klang, als hätte sie's darauf abgesehen, den Alten vor den Kopf zu stoßen. 158

»Seine besten Freunde verkennen, das ist die Jugend!« sagte er zu sich selbst und ging verstimmt, die Hände in den Rocktaschen, in der Stube auf und nieder.

Er sprach kurz angebunden von gleichgültigen Dingen. Bettina antwortete hie und da ebenso wortkarg. Auf einmal blieb er stehen, zuckte die Achseln und rang sich die nothgedrungene Mahnung ab: »Ich will Dich nicht kränken. Ich erinnere Dich daran, obwohl es mir selber schmerzlich wird, weil ich nicht anders kann. In vierzehn Tagen mußt Du die Wohnung räumen. Die neuen Miether haben wiederholt erklärt, daß sie auf diesem Termin bestehen. Und wir müssen froh sein, die Last auf so gute Art los zu werden. Ich kann Dir, bis Du selbst anderswo unterkommst, ein Kämmerchen anbieten. Es ist bei mir knapper Raum. Ein Schelm, der mehr gibt, als er hat. Mich wird's nicht verdrießen. Aber Dich vielleicht. Du bist es bequemer gewöhnt. Und was wird aus euren Sachen?«

Bettina hatte keine Antwort. Sie hielt ihr Knie mit den Händen umfangen und stierte rathlos vor sich hin.

Bolle'n jammerte das verarmte Wesen sehr. Wieder hob er an: »Hat sich denn gar keine Aussicht für Dein Fortkommen ergeben?«

Bettina lachte wild auf: »O ja, es hat sich eine 159 Aussicht ergeben!« klang es trotzig von ihren aufgeworfenen Lippen; aber es war kein Trost in diesem Klang.

»Willst Du mit mir nicht über die Sache reden?« fragte Bolle.

Bettina schwieg und saß wieder da gleich einem versteinerten Weibe. Schon reute sie's, nur so viel gesagt zu haben.

»Nach Belieben!« sprach Bolle beleidigt.

Nach ein paar weiteren Schritten griff er nach dem Feuerzeug. »Es nachtet,« sagte er. »Es ist unglücklichen Menschen nicht gut, daß sie im Finstern lange mit ihren Gedanken allein sind. Könnt' ich Dir nur auch ein anderes Licht aufstecken!«

Er nahm die entbrannte Lampe vom Kasten und trug sie nach dem Schreibtisch hinüber, absichtlich den Blick von der Schweigsamen wegwendend. Mittewegs blieb er plötzlich stehen, bohrte sein scharfes Auge in den Fußboden, stellte die Lampe rasch beiseite und bückte sich nieder.

Bettina, die seinem Blick gefolgt, fuhr jählings auf. Er streckte abwehrend den gewaltigen Arm gegen sie und las ein versäumtes Goldstück vom Estrich auf. Er sah, noch zur Erde gebückt, hierhin und dorthin und hatte flugs noch ein zweites und drittes in der Hand.

Er stand auf. Er lächelte; es war ein so 160 gräßliches Lächeln, daß Bettina nicht wußte, ob sie die nächsten Minuten überleben würde. Alle Muskeln verzerrten sich in dem starken Gesichte des Alten und die Hand ballte sich zur Faust. Sein Schweigen war furchtbar.

Bettina stürzte zu seinen Füßen und rang schwörend die Hände zu ihm empor. »Verdamme mich nicht, Vater Bolle! Ich bin ohne Schuld! ohne alle Schuld!! Bei meiner ewigen Seele! Bei . . .!«

Bolle würdigte sie keines Blickes. Er warf die drei winzigen Goldstücke auf seiner flachen Hand ein paarmal mäßig in die Höhe und sprach mit vollendeter Verachtung: »Schuld! Ich verstehe. Was ist Schuld? Es ist ja Jeder Herr seiner selbst . . . Eine allerliebste Geldsorte das, so rund, so niedlich, so recht für zarte Damenhände . . .«

»Vater Bolle!« schrie Bettina auf, der jedes Wort in's Herz schnitt.

Der Alte schob sie unsanft beiseite. »Du!« rief er im höchsten Ingrimm, aber die schon erhobene Hand senkte sich sofort. Es war, als ob ein Alles überwältigender Ekel auch diesen großen Zorn entwaffnete. Er sagte nur noch sein gewöhnliches Wort: »Es ist ja Alles ganz einfach!« legte die drei Goldstücke in seiner Hand aufeinander und dann alle drei mit einem schallenden Schlag auf die Platte des Schreibtisches. Dieß gethan, schritt er, ohne noch 161 ein Wort, einen Blick auf das ihm kniefällig nachrutschende Geschöpf zu werfen, zur Thüre hinaus.

Bettina hielt den Athem an. Sie hörte, wie Bolle das Schloß seiner Wohnung zweimal umdrehte. Sie wußte, daß keine Gewalt der Erde den einfach denkenden Mann bewegen könnte, ihr die verschlossene Thüre noch einmal im Leben zu öffnen. Sie wußte, daß sie verurtheilt war, daß sie für den einzigen Menschen, der treu und uneigennützig, besser als der eigene Vater an ihr gehangen, für sie gesorgt und über ihr gewacht hatte, so gut war wie todt. 162

 


 


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