Gustaf af Geijerstam
Frauenmacht
Gustaf af Geijerstam

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Neunundzwanzigstes Kapitel

Als aber der Sarg an Bord des Dampfschiffes getragen war und ich selber auf dem Verdeck saß, da sah ich den ganzen Sommer, den ich kürzlich erlebt hatte, hinweggleiten. Das Ziegeldach und die Birken verschwanden hinter der Landzunge. Als ich mich aber umwendete, weil ich nichts mehr sehen konnte, fühlte ich mich ruhig und über alles erhaben. Die Menschen betrachteten mich, denn sie sahen meinen schwarzen Anzug, und der Kapitän hatte die Flagge auf Halbmast gehißt. Aber in mir fühlte ich etwas Hartes, das mich aufrecht hielt. Ich wußte, daß ich das mit mir führte, was mich einst reich gemacht hatte, und ich fühlte Mitleid mit allen denen, die um mich herum saßen und mich für arm hielten.

Als aber die Reise vorüber war und der Sarg hier stand, drinnen in dem Zimmer, das jetzt verschlossen ist, da dachte ich daran, daß ich an keinen darüber geschrieben, nicht einmal an Elise oder Karl Bohrn. Niemand wußte, was geschehen war, niemand außer mir. Nicht einmal eine Anzeige hatte in einer Zeitung gestanden. Aber das beunruhigte mich nicht. Ich dachte daran wie an etwas, das ohne mein Wissen geschehen war, und ich erinnerte mich, daß in Elisens Brief – dem Brief, welcher den Todestag in meinem Hause einleitete – gestanden hatte, daß sie in der nächsten Zeit nach der Stadt kommen würde mit ihren Kindern und daß sie dort Karl treffen würden.

Welcher Tag es war, das wußte ich nicht mehr. Und wo der Brief war, wußte ich auch nicht. Er mußte wohl noch in irgendeiner Schublade liegen oder war abhanden gekommen. Wo er war, wußte ich nicht. Ich wußte nur, daß ich jetzt dorthin gehen müsse, wohin ich während aller dieser Jahre hatte kommen dürfen mit so mancher Freude und so manchem Schmerz, und es fiel mir nicht ein, daß ich vergebens gehen könnte.

Als ich indessen nach Bohrns Hause kam, wurde mir der Bescheid zuteil, daß die beiden Gatten ausgegangen seien, aber bald heimkehren würden. Das Dienstmädchen stutzte, als sie meinen Anzug sah, tat aber keine Fragen, und unaufgefordert ging ich in die Wohnung hinein, um meine Freunde dort zu erwarten. Ich ging allein in den Zimmern umher, wo ich so vieles erlebt hatte. Instinktiv suchte ich Elisens Kabinett auf. Dort war es halbdunkel wie in all den andern Zimmern. Die Fenster waren mit Kreide überstrichen und die Vorhänge herabgelassen. Es war kühl, ein leiser Zugwind drang herein von den offenen Fenstern draußen im Entree. Und hier, in diesem kleinen Zimmer mit seinen weißen Möbeln und der großen Bronzeuhr auf dem Gesims des Kamins, setzte ich mich hin. Hier fühlte ich es wieder, aber milder und stiller wie vorher, daß der Kummer zu erheben vermag, er kann reinigen und uns hoch über alles hinwegtragen, uns zeigen, daß alles, wonach wir streben, wofür wir kämpfen, nichts ist, die große Gewißheit dagegen alles. Eines aber vermag er nicht. Er vermag uns nicht als unser einziger, schweigender Freund durch das Leben und seine Schicksale zu folgen; und was angesichts des Todes schwieg, das wacht wieder auf und schlägt mit den Flügeln, um ans Licht zu kommen, und wäre es auch auf die Gefahr hin, sich die Flügel gegen die Schranken der Unmöglichkeit blutig zu schlagen. Ich fühlte dieses, während ich hier saß und mich der Stunde erinnerte, da ich, den Kopf in Elisens Schoß, den ersten großen Kummer meines Mannesalters ausweinte. Ich fühlte es so stark, daß ich mit Erbitterung dachte: Du bist fünfzig Jahre alt, und das Leben ist bald dahin. Ja, ich hatte das Gefühl, als drohe alles in mir zu zerspringen. Und hier forderte die Natur ihr Recht; die übermenschliche Spannung, in der ich während dieser Tage gelebt hatte, ließ nach, und mein Kummer kam zum Ausbruch, mein zweiter, großer Kummer, gegen den nun alles, was ich vorher durchgemacht, mir geringfügig schien. Mein ganzes Leben glitt an mir vorüber wie Schatten, von denen ich nie einen einzigen hatte greifen können, und vor mir sah ich noch eine Reihe von Jahren, die hingehen sollten wie die bereits verronnenen. Aber ich spannte meine ganze Kraft an in angsterfülltem Gebet, daß mir doch etwas noch beschieden sei; in mir spürte ich einen erwachenden Willen, das zu erreichen, was niemals innerhalb meines Bereiches gewesen; und ich saß da schließlich ruhig, ich fühlte, wie die Minuten vergingen, und war mir zugleich bewußt, daß man dasjenige, was man angesichts des Todes zu erreichen glaubt, doch niemals ganz festhält, ehe man selbst dort ist.

So saß ich da, in einer Gemütsstimmung, die mir in überquellender Vermessenheit anders und größer, seltsamer und wertvoller erschien, als was mir je ein Mensch, tot oder lebend, in Buch oder Rede, von sich mitgeteilt hatte. Da hörte ich, wie eine Tür geöffnet und geschlossen wurde, ich hörte Stimmen und darunter Elisens Stimme. Aber ich saß wie versteinert, bis Elise und ihr Mann vor mir standen. Ich sah, wie sie ihre Hände nach mir ausstreckten, und wie durch einen Nebel hörte ich, daß sie bei mir gewesen und mein kleines Mädchen gesehen hatten. Sie hatten nichts gewußt, waren nur hereingekommen und hatten sie auf ihrem weißen, blumenbestreuten Lager liegen sehen, still, als ob sie schliefe. So hatten wir einander gleichzeitig aufgesucht; und nun brauchte ich, Gott sei gelobt, nichts zu sagen und nichts zu erklären. Sie standen da vor mir, meine Hände haltend, sie standen schluchzend da, an allen Gliedern zitternd, und ich war der einzige, der nicht weinte. Ich empfand nur, wie mein Schicksal ihre Seelen erfüllte; und es war mir, als wäre die schlimmste Schwere von mir genommen und als fesselten ihre Tränen und ihre Verzweiflung mich an sie, die noch lebten.

Da fühlte ich Elisens Arm um meinen Hals und ihre Lippen auf den meinen. Ich war schon ein bejahrter Mann, aber ich fühlte, daß dieser Kuß noch stärker sei, als was der Tod mich ahnen ließ.

»Daß ich nicht bei dir sein konnte, wie ich es so gerne gewollt«, sagte sie. »Daß du nicht geschrieben hast!«

Da las ich in ihren Augen alles, was sie mir früher nicht hatte sagen wollen. So furchtbar hatte der Tod in ihrer Seele alles durcheinander geschüttelt, alles, was sie an ihr eigenes Leben band, daß das Bekenntnis wie Sonnenglanz über ihrer Gestalt, ihrem Antlitz und ihren Worten lag.

»Es war dein Letztes, dein Allerletztes«, rief sie, und alles andere, als ihr eigenes großes Gefühl vergessend, strich sie mir über das Haar, als wäre ich ein Kind . . .

Da endlich löste sich das Band meiner Zunge, und ich fing wieder an zu sprechen. Ich sah Elise nicht an, ich fühlte aber ihre Nähe, und obgleich die Worte auf meinen Lippen ersterben wollten, machte ich meinem Schmerze Luft. Ich sah meiner Freundin und ihrem Manne gerade ins Gesicht, und ich sagte ihnen alles, von dem die Menschen glauben, daß ein Freund es dem anderen nicht sagen könne. Ich erinnere mich nicht an alles, was er mir antwortete. Vielleicht war ich noch zu aufgeregt, um jedes seiner Worte zu hören. Aber ich erinnere mich, daß Elise darauf seine Hand faßte, sie küßte und ihm in die Augen sah. Keiner von uns hätte sagen können, wie das alles gekommen oder wie es eigentlich war. Auch dachte keiner von uns alten Menschen an Trennung oder neue Ehe oder daran, überhaupt etwas an dem zu ändern, was unser Schicksal geordnet und zusammengefügt. Sondern wir sprachen wie Kinder, die nicht wissen, was gut und was böse ist. Und habe ich armer Mensch, der nun so allein hier steht, je einen Schimmer vom Paradiese gesehen, so war es damals.

Es kam daher, weil wir um uns her das Flügelrauschen des Todesengels spürten, der in Gestalt eines Kindes über unseren Häuptern schwebte. Es kam aber auch daher, weil Elise ein ganzes Weib war, und ihr Gatte ein ganzer Mann, er sowohl wie ich.

 


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