Gustaf af Geijerstam
Frauenmacht
Gustaf af Geijerstam

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Zweites Kapitel

Einige Wochen später war ich zu einem kleinen Souper beim Bankdirektor Bohrn geladen, zu dem die Gastgeber einige von den bekannten Schriftstellern und Künstlern der Hauptstadt um sich versammelt hatten, und in diesem Kreis sah ich zum ersten Male meinen Unbekannten vom Café wieder. Er wurde mir als Doktor Hugo Brenner vorgestellt, und im selben Augenblick, als ich seinen Namen hörte, wunderte ich mich darüber, daß ich ihn nicht gleich wiedererkannt hatte.

Ohne ihn persönlich zu kennen, hatte ich ihn nämlich früher mehr als einmal gesehen, und ich erinnerte mich, daß ich seinen Namen in Verbindung mit irgendeiner eigentümlichen Geschichte gehört hatte, deren nähere Umstände mir aus dem Gedächtnis entschwunden waren. Hatte er sich verjüngt? War er älter geworden? Oder hatte, was er durchlebt, sein Äußeres verändert? Ich konnte dies nicht entscheiden, aber ich wußte nun, daß mir seine Tätigkeit, die in der literarischen Welt große Achtung genoß, wohl vertraut war. Er mochte anfangs für seine Zukunft größere Pläne gehegt haben, das konnte man merken, wenn er dann und wann etwas schrieb. In längeren Zwischenräumen las man seine Signatur in irgendeiner Zeitschrift oder einer der größeren Zeitungen, und dann gehörten seine Artikel stets zu denen, an die man sich erinnerte, auf deren Worte man Gewicht legte. Gleichzeitig aber besaßen sie jene eigentümliche Art von Zurückgezogenheit, welche bewirkt, daß man gleichsam vergißt, sich später mit dem Verfasser zu beschäftigen. Was den Namen Hugo Brenner bekannt gemacht und ihm seine Stellung verschafft hatte, war seine Tätigkeit bei der Redaktion eines jener größeren Sammelwerke, die schon damals modern geworden waren und die dem Verleger gute Einkünfte, dem Herausgeber aber meistens nur einen kargen Lebensunterhalt verschaffen. Auf diesem Gebiete hatte sein Name, sowohl für die Allgemeinheit wie für die Presse, die Solidität des Unternehmens verbürgt. Durch diese Art von Tätigkeit war es ihm möglich gewesen, so zu leben, wie er es tat, das heißt, sich so weit einzuschränken, daß er an der starken Entwicklung, welche die letzten Jahrzehnte unseres Geisteslebens auszeichnete, teilnehmen und zugleich seiner Vorliebe für ein ungestörtes Einsiedlerleben folgen konnte. Denn dieses tat Hugo Brenner in seiner konsequenten Weise wie wenig andere; und das war in der Hauptsache alles, was die meisten von ihm zu berichten wußten.

Es war daher eine Überraschung für alle, die an jenem Abend seine Anwesenheit bemerkten, Hugo Brenner bei einem Souper zu begegnen. Die Gesellschaft, in der ich ihn jetzt traf, bestand nämlich zum größten Teil aus intimen Freunden oder näheren Bekannten. Sie waren es gewohnt, sich in diesem gastfreien Hause zu treffen, wo der Ton ebenso frei wie gut war und wo alle das warme Heimatgefühl hatten, daß ihre Gedanken und ihr Streben dort in ebenso hohem Maße eine Zufluchtsstätte fanden wie ihre Person. Das Zusammensein bekam auch allmählich die eigentümlich starke Stimmung, die wie Ruhe auf Unruhe, Schweigen auf Lärm wirkt, und wie volles Vertrauen auf die beständige Wachsamkeit, an die sich alle gewöhnen, die oft mit Fremden in Berührung kommen.

Und doch konnte man in dieser Gesellschaft, die aus Freunden, und wie es schien, obendrein zumeist aus Gesinnungsgenossen bestand, gleichzeitig eine Disharmonie, einen inneren Zwiespalt beobachten oder besser fühlen, der nur verdeckt oder niedergehalten wurde durch den zufälligen Umstand, daß niemand die allgemeine Stimmung stören wollte. Die Anwesenden waren zu sehr Schönheitsmenschen, als daß sie ein Zusammensein hätten stören können, aber es gab mehr als ein ironisches Lächeln, das sich hinter einem plötzlich veränderten Tonfall versteckte, manchen hastigen Blick, der anderen galt, aber nur von dem aufgefangen wurde, für den er bestimmt war, manchen verborgenen Sarkasmus, der den Schein des aufrichtigen Enthusiasmus annahm. Es lag etwas in der Luft wie eine Konkurrenz von gegeneinander kämpfenden Willen, wo jeder das Seine sucht und wenige an die Sache denken, ein mißtrauisches Aufpassen, das der Geübte herausfühlen konnte und das hinter der augenblicklichen, friedlichen Stimmung lauerte, deren alle bedurften und die festzuhalten sich daher alle bestrebten. Es waren aber wenige in der Gesellschaft, die dieses merkten. Denn die Gewohnheit des Kampfes aller gegen alle hat bis zu dem Grade das Verlangen der meisten nach voller Harmonie abgestumpft, daß sie die Dissonanzen erst fühlen, wenn sie zufälligerweise zu lautem Ausdruck kommen.

Ich konnte die ganze Zeit hindurch merken, daß Hugo Brenner zu den wenigen gehörte, welche verstehen, und daß er nicht in der Illusion lebte, daß Menschen, welche ihr Leben idealen Interessen gewidmet haben, ausschließlich davon erfüllt sind. Er schien in seinen eigenen Gedanken versunken und würdigte das, was um ihn her vorging, keiner größeren Aufmerksamkeit. Aber unaufhörlich ging es wie Wolken über sein Gesicht. Es war, als spiegele sich seine Seele nicht allein im Mienenspiel, sondern rede aus den Muskeln, ja selbst aus der Haut des Gesichtes. Kein Wort ging ihm verloren, und hinter den Worten las er die wirklichen Gedanken. Ich beobachtete, daß seine Aufmerksamkeit dabei doch geteilt war. Wenn er zuweilen aufsah, suchte sein Blick stets unseren Wirt oder unsere Wirtin, und ich bekam den Eindruck, daß zwischen diesen dreien eine Intimität herrsche, die viel tiefer sein mußte, als es gewöhnlich bei einem Freundschaftsverhältnis der Fall ist. Als wir vom Souper aufstanden, fragte ich einen meiner Freunde darüber aus.

»Weißt du denn nicht?« antwortete der Gefragte mit einem Lächeln. »Brenner geht täglich hier aus und ein. Nur wenn Besuch hier ist, pflegt er sich fernzuhalten.«

Ich kam nicht weiter mit meiner Frage, denn die Frau des Hauses näherte sich uns. Und ich folgte den anderen in die Gesellschaftsräume. Als wir dort Platz nahmen, gewahrte ich indessen einen Blick, der zwischen Brenner und Frau Bohrn gewechselt wurde, und ich dachte plötzlich, welch innerliches Verständnis doch zwischen diesen beiden existieren mußte, ohne daß es mir jedoch nur einen Augenblick einfiel, dies mit der alltäglichen Geschichte von der Liebe eines Mannes zu einer verheirateten Frau in Verbindung zu bringen. Zufälligerweise sah ich gleichzeitig den Wirt des Hauses an. Er lächelte, und sein Blick ruhte auf der Gattin und dem Freunde, welche ruhig widerlächelten, während sie sich dicht nebeneinander hinsetzten. Dieses ganze stumme Spiel läßt sich schwer beschreiben, und keiner aus der übrigen Gesellschaft beachtete es. Mir aber machte es den Eindruck, als stände ich an einer heiligen Stätte, ich ahnte, daß zwischen diesen dreien ein großes gemeinsames Geheimnis bestand, das sie in Leid und Freude miteinander verband und das niemand in der Welt außer den dreien, die es anging, je kennen lernen würde.

Dieses Gefühl war mir um so seltsamer, als nach allem, was ich von der Ehe der beiden Gatten gehört hatte, eine Liebesverbindung von seiten der Frau zum mindesten höchst erklärlich gewesen wäre. Die eheliche Untreue des Bankdirektors stand nämlich außer allem Zweifel, und seine Verbindungen außerhalb der Ehe waren häufig genug das Lieblingsthema bei den Klatschzusammenkünften, die in den Cafés unter den Männern ebenso gut gedeihen wie unter den wegen dieser Unsitte so berüchtigten Frauen. Diese Schwäche des Bankdirektors war so bekannt, daß sie, wie man erzählte, mehr als einmal störend in seine Geschäftsverbindungen eingegriffen hatte; aber eins wußte man sich nicht zu erklären: kannte Frau Bohrn diese schwache Seite im Charakter ihres Mannes, oder kannte sie sie nicht? Im ersteren Fall, so behaupteten ihre besten Freundinnen, verstand sie ihre Karten gut zu spielen. Denn der Welt gegenüber zeigte sie ihrem Manne eine Hingebung, die rührend gewesen wäre, wenn man sie für echt hätte halten können.

Dies war die Ansicht der Freundinnen, soweit sie nicht der modernen Schule angehörten, welche die Indignation zu einer Pflicht macht. Was mich selbst betraf, so hatte ich zu jener Zeit eben einen Anfall der Indignationskrankheit, und ich zog deshalb die Erklärung vor, daß Frau Bohrn, so wunderlich es auch schien, doch wahrscheinlich über alle die Seitensprünge ihres Mannes im unklaren war. Ich tat dieses um so lieber, als ich die offene, gewinnende Persönlichkeit der begabten Frau aufrichtig bewunderte, und ich hätte es als einen Flecken an ihr betrachtet, hätte ich glauben können, daß sie alles wußte und doch schwieg. Ich war damals zu jung, um zu verstehen, daß dies eine Art von Seelengröße bedeuten könnte, wie ich denn auch dem Bankdirektor gegenüber stets ein wunderlich gemischtes Gefühl von Sympathie und Verachtung empfand. Daher war es auch um so eigentümlicher, daß die Entdeckung dieser ganz besonderen Intimität zwischen dem Freunde des Hauses und den beiden Ehegatten bei mir keinerlei Verdacht erweckte, der etwa in Verbindung stand mit dem, was die ganze Welt von dem Eheleben der beiden wußte. Es war, als sei die Luft um sie herum zu rein, als daß die Samenkörner der Ansteckung darin hätten gedeihen können.

Dieses Gefühl blieb während des Gesprächs, das nach dem Souper begann, und ich war so beschäftigt mit Hugo Brenner, mit dem ich übrigens an dem ganzen Abend kein Wort wechselte, daß ich von dieser Unterredung nur noch weiß, daß sie sich um den Dilettantismus in der Kunst drehte.

Sonst erinnere ich mich nur, daß lebhaft und mit einem gewissen Fanatismus gesprochen wurde, da ja natürlich der Dilettantismus der ärgste Feind der Anwesenden war. Weiß ich aber auch nicht mehr, was gesagt wurde, so habe ich statt dessen um so lebhafter die ganze Szene vor Augen. Zwei Lampen standen auf bronzenem Gestell, jede in einer Ecke des großen Zimmers mit seinen roten Smyrnateppichen, niedrigen Möbeln und gedämpften Farben, und warfen einen grellen Schein über die lebhaften, eifrigen Gesichter, die aus dem Halbdunkel der tiefen Fauteuils und Sofas hervorleuchteten, sich gegeneinander vorbeugend, als suchten sie in den Gesichtszügen verborgene Gegner. Der Zigarettenrauch zog in leichten Wolken zum Kronleuchter empor, und neben mir sah ich deutlich Frau Bohrns immer noch jugendliches Gesicht, das den wechselnden Äußerungen mit einem Interesse folgte, das alles ernst nimmt.

Niemand konnte ihr ansehen, daß sie bereits ihr fünfzigstes Jahr zurückgelegt hatte. Schlank und hoch saß sie dort neben mir, und die feinen Runzeln im Gesicht waren wie ausgelöscht im Halbdunkel des Lampenscheins, während die Augen jugendlich leuchteten unter dem welligen Haar, das stark mit grauen Fäden untermischt war. In dieser Beleuchtung aber konnte ich das Grau nicht sehen. Und zum ersten Male fiel es mir auf, wie jung das ganze Wesen dieser Frau eigentlich war. Ich war damals erst sechsundzwanzig, und in dem Alter wird es einem bekanntlich schwer, eine Fünfzigerin jung zu finden. Ohne selber einzugreifen, ohne etwas für sich zu fordern, lebte sie mit allen, welche im Dienst des Wortes oder der Kunst tätig waren, als ob ihr Mißgeschick und ihre Siege auch die ihrigen wären. Was in ihrer Nähe keimte, liebte sie mit ganzer Seele, und gewann sie Zuneigung, so beanspruchte sie darum doch niemals das Recht, herrschen zu wollen. Und trotzdem gehörte sie nicht zu den Frauen, von denen man mit einem bezeichnenden Wort zu sagen pflegt, daß sie sich geltend machen. Sie war in sich gekehrt und impulsiv, offen und doch reserviert, weich und doch stark. Vielleicht kam die Zauberkraft in ihrem Wesen daher, daß sie alle verstand, sich aber wenigen hingab.

Alles das wurde mir klar, während ich in ihrer Nähe saß und die Wellen des Gesprächs um uns steigen und fallen hörte. Da sah ich, wie sie plötzlich unruhig wurde. Oder besser – ich sah es nicht, ich empfand es um mich her wie Elektrizität, und instinktiv richtete ich meinen Blick auf den Platz, wo Hugo Brenner sich befand. Er saß auf der anderen Seite des Zimmers, und trotzdem hatte ich das Gefühl, als hätte ich ihn die ganze Zeit in nächster Nähe gehabt. Den ganzen Abend hatte er schweigsam dagesessen, aber dieses Schweigen wirkte durchaus nicht störend oder drückend. Im Gegenteil schien er es zu genießen, dem Gespräch zu folgen, jedes Wort aufzufangen, und sein ausdrucksvolles Gesicht spiegelte augenscheinlich jeden Eindruck wider, den er empfing. Es war keine ruhige oder gedämpfte Natur, die aus diesen Zügen sprach. Es war auch nicht Sympathie allein, was sie in diesem Augenblick widerspiegelten. Eher schienen sie ein gewisses zitterndes Unbehagen auszudrücken, als vermisse er etwas von dem Innigen, Zarten, Echten, das er gerade in diesem Kreis zu finden wünschte, und als kämpfe er mit sich, ob er sprechen oder schweigen solle. Dies alles sah Frau Bohrn, und mit jeder Minute wurde sie unruhiger. Es war, als hätte sie seine Gedanken im Innern gehört, als würde sie davon angefeuert. Selten habe ich in Frauenaugen einen so leuchtenden, lebhaften und wechselnden Ausdruck gesehen, und niemals habe ich gefunden, daß ein Mann es so vollkommen verdiente, ihren Glanz entzündet zu haben. Brenner war sich der Tatsache bewußt. Denn er lächelte still und in sich gekehrt, wie über eine große heimliche Freude, und als er schließlich emporsah und zu sprechen anfing, zitterte seine Stimme, sicherlich nicht nur aus Nervosität, sondern in dem Bewußtsein, daß unter den Anwesenden sich eine befand, die seine Gedanken kannte, ehe sie ausgesprochen waren. Aber vom Ernst seiner Gefühle wurde sein Antlitz weich, und als er zu sprechen anfing, klang seine Stimme rauh, als treibe ihn der Zorn vorwärts.

Auch drangen seine Worte abgerissen und trocken hervor, kurze Sätze bildend, in denen die Gedanken sich zu drängen schienen, um Platz zu finden. Nicht ein einziges Mal sah er die Gesellschaft an, während er sprach. Sein Blick starrte in die Weite, als hätte er aus seinem eigenen Innersten geredet und nicht gewußt, daß jemand seinen Worten lauschte. Sein ganzes Äußeres bekam etwas von jener verschlossenen Grübelei, die mich schon das erstemal, als ich ihn im Café sah, gefesselt hatte. Seine Stimme aber vibrierte leise, wie wenn eine zurückgehaltene Bewegung alle zum Zuhören zwingt; als er sich warm gesprochen hatte, wurde er fast beredt, und ich sah, wie Frau Bohrn einen Augenblick vor Stolz errötete. Er entwickelte eine Art von sachlicher Beredsamkeit, über welcher man die Form fast vergaß. Auch war es gerade die Vergötterung der Form, gegen welche er sprach.

»Es sind heute abend Dinge gesagt worden,« so begann er, »die ich nicht im einzelnen widerlegen kann. Aber ist die Aufgabe der Kunst, ihrem innersten Wesen nach, wirklich nur die, Bücher und Gemälde hervorzubringen? Dann ist es heutzutage gut um die Kunst bestellt. Aber ist es nicht vielmehr das Wesen der Kunst, Leben zu schaffen? Die Kunst, meine ich, müßten wir mit der Laterne suchen. Der Zweck des Lebens – ich meine, was wir sehen und was uns am nächsten angeht – ist doch wohl der, wirkliche Menschen zu bilden. Hilft uns die Kunst nicht dazu, dann ist sie wenig mehr als ein tönendes Erz und eine klingende Schelle. Losgelöst vom Menschen ist das Gedicht nur ein gut beschriebenes Papier, das Gemälde ein schönes Stück Leinwand und das Werk des Bildhauers ein veredelter Stein. Alle sind gleich tot, alle gleich vollendet. Einer nur gibt ihnen Leben. Der Meister selber, der lebt, der aber von allen am wenigsten einem vollendeten Kunstwerk ähnlich sieht.«

Er lachte, dann wurde er plötzlich wieder ernst, über dem Ernst aber lag gleichsam noch ein Schimmer des hastigen Lachens.

»Kurz und gut, ich meine, es gibt noch einen anderen Gegenstand für die Kritik, der ebenso wichtig ist wie der Kunst-Dilettantismus. Ich meine die Dilettanten des Lebens.«

Die letzten Worte sprach er wie im Zorn. Dies war aber augenscheinlich nur eine Maske, um zu verbergen, in wie hohem Grade seine Worte mit seinem eigenen lebendigen Glauben zusammenhingen.

»Wäre es möglich, wenn die Kunst nicht dilettantisch wäre, daß so viel Dilettantismus um uns herum gedeihen könnte? Lieben wir nicht wie Dilettanten? Hassen wir nicht ebenso oberflächlich? Leben wir nicht getreu nach der Regel, daß wir uns trösten, wenn nur alles im gewohnten Gleise geht und wir nicht von allzu vielem Unbehagen gestört werden? Und ist die Kunst ohne alle Schuld daran? Es wird jetzt in zehn Jahren mehr gelesen, ja verschlungen, als früher in fünfzig. Aber was nützt es uns? Merkt man es den Menschen an, die alles wissen und alles durchstöbert haben, daß die Verfeinerung in Wort und Bild wirklich zu ihrem Herzen gedrungen ist? Ist die Kunst nicht viel eher ein Luxusgegenstand, als eine Wärmequelle und ein Gesundbrunnen des Lebens? Ich bin ein Mann aus dem Publikum, und ich wende mich an die Dichter wie an meine Lehrer. Mitunter habe ich solche gefunden. Aber ich frage mich oft: wie viele sind überhaupt ernst zu nehmen in ihren eigenen Werken?«

»Ich will damit sagen,« hub er wieder an, lauter als zuvor, »daß jeder Künstler vor allem die Forderung an sich stellen müßte, ein ganzer Vollblutmensch zu sein, aus einem Guß. Wer das nicht tut, spielt mit der Welt, und das ist eine Todsünde. Oder habe ich nicht recht? Geht unser ganzes Streben nicht darauf hinaus, das Kunstwerk vom Menschen zu trennen, statt daß wir alles tun müßten, um beide einander zu nähern? Sagen wir nicht obendrein: ich beurteile das Werk, wie es ist, der Mensch geht mich nichts an? Das ist für mich eine Lästerung. Oder weshalb sollten wir den Gedanken an die Vollendung des Menschen, unserer eigenen Persönlichkeit allein den Moralisten überlassen, welche meistens Pfuscher sind, die nichts verstehen? Mir ist, als fühlte ich hinter dem Werke stets den Menschen. Wird dann der Eindruck vom Menschen unzusammenhängend und kleinlich, dann kann selbst ein Meisterwerk mich mit Verachtung erfüllen. Ich schrecke nicht vor dem Wort zurück. Und deshalb fasse ich, und sollte es auch paradox klingen, meine Verachtung all der halbfertigen, tastenden, unwahren und prahlerischen Kunstwerke, welche die Welt in Erstaunen setzen, in das Urteil zusammen, daß sie von Dilettanten des Lebens herstammen. Dilettanten des Lebens sind es, die mit ihrem eigenen Leben und dem der anderen wie mit einem Ball spielen, sie sind es, die die schlechte Kunst schaffen, möge sie nun weltlich oder akademisch heißen, diese seelenlose, nichtssagende, barocke Abart der Kunst, die sich hinter das leere Schlagwort »l'art pour l'art« verkrochen hat, die Kunst nur der Kunst wegen. Sie sind es, welche das Ehrfurchtsgefühl vor dem Leben getötet haben, die stets an dem vorübergehen, was am tiefsten liegt. Diese Halbmenschen sind es, welche die Worte Form, Technik und Stil so leichtsinnig auf der Zunge tragen, als wüßten sie nicht, daß das schönste Kleid auf einem verunstalteten Körper häßlich wird. Ich begnüge mich nicht damit, ein einzelnes Werk genießen zu können. Meine Genußsucht ist bei weitem anspruchsvoller. Ich will auch die Ganzheit des Menschen genießen können, welcher das Werk hervorgebracht hat. Dieses kann ich tun, ob ich ihn verehre, liebe und anbete, oder ihn hasse, verabscheue und bekämpfe. Das beruht ja nur auf individueller Neigung. Aber vom Helden der Dichtung verlange ich, daß er ein Mann sei und kein Stümper, der mit seinem eigenen Leben herumgepfuscht hat, deshalb weil er blutleer genug geworden ist, leben zu können, nur um Papier mit Worten oder Leinwand mit Farben anzufüllen.«

Ein wunderliches, fast befangenes Schweigen folgte diesen Worten, und anfangs schien es, als habe niemand Lust das Gesprächsthema wieder aufzunehmen. Nur Frau Elise Bohrn antwortete, und ich hatte den Eindruck, daß sie es konnte, hauptsächlich weil sie in ihres Herzens Güte nicht ahnte, wie die Worte getroffen hatten.

»Ich gebe Doktor Brenner recht«, sagte sie. »Ich habe auch immer gedacht, daß die größten Künstler möglicherweise unter denen zu suchen seien, die nie eine Zeile geschrieben, nie einen Pinsel oder Meißel in die Hand genommen haben. Alles, was wir von edlem, schönem Leben erschaffen, ist ein Kunstwerk. Warum sollte nicht die Vollendung unseres eigenen Innern das größte Kunstwerk sein?«

Sie sprach diese Worte mit einer milden und doch vollen Stimme, die dem, welcher soeben geredet, direkt ans Herz zu gehen schien. Denn er erhob seinen Blick einen Moment und begegnete dem ihrigen. Wiederum gewahrte ich diesen hellen, glücklichen Blick, der mehr zu enthalten schien, als ein ganzes Leben aussprechen kann.

Darauf glitt die Unterhaltung allmählich in ein leichteres Fahrwasser. Als wir aber auseinandergingen und die letzten Gäste im Vorzimmer verschwunden waren, bemerkte ich, daß der Bankdirektor Bohrn seine Hand auf Hugo Brenners Schulter legte, wie es schien, um ihn zurückzuhalten. Ich war der letzte, welcher sich verabschiedete. Denn ich war in der Hoffnung geblieben, Brenner noch sprechen zu können. Als die Tür sich hinter mir schloß, sah ich noch eben, wie die beiden Gatten und der alternde Herr mit dem jugendlichen Gang und den paradoxen Ansichten über die Kunst zusammen in den leeren Salon zurückkehrten.

 


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