Gustaf af Geijerstam
Frauenmacht
Gustaf af Geijerstam

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Zehntes Kapitel

So geschah das, was sich meiner Erinnerung unauslöschlich eingeprägt hat, was mein ganzes Leben veränderte und mich langsam zu einem anderen Menschen machte.

Eines Tages kam ich über Norrbro, unschlüssig, ob ich heimgehen oder aus reiner Unlust an der gewohnten Umgebung das Wiedersehen hinausschieben sollte, indem ich allein draußen in einem Restaurant blieb. Da sehe ich vor mir ein Gesicht, das mir bekannt zu sein schien, ein junges, feines Gesicht, das doch ein wenig älter geworden war, seitdem ich es zum letztenmal gesehen. Ich sah eine hohe, schlanke Frauengestalt, und ein Lächeln strahlte mir entgegen, das mich gleichzeitig erwärmte und verwirrte. Und mit einem Male sah ich wieder, wie an meinem Hochzeitsabend, jenen seligen Sommer vor mir, den ich so lange, lange vergessen hatte. Das Ganze erschien mir so natürlich, als ob ich erwartet hätte, daß es so kommen würde. Ich fühlte eine weibliche Hand die meine drücken, und wie in einem Traum lauschte ich einem Strom von Worten, die ich nur dadurch beantworten konnte, daß meine Stimme unhörbar und meine Augen verschleiert wurden.

»Komm mit mir nach Hause«, hörte ich Elise sagen. »Es ist ja eine Ewigkeit her, seit wir uns gesehen haben.«

Ich sah mich selbst an ihrer Seite gehen und hörte mich antworten. Aber meine eigene Stimme war mir fremd geworden. Und als die Betäubung der ersten Überraschung vorüber war und ich zu begreifen anfing, daß doch eine Art von Wirklichkeit mit im Spiele war, da wurde die Wirklichkeit mir zu einem Traum und das Ganze zu einem Chaos.

Was ich sonst überhaupt noch sagte, habe ich vergessen, aber ich entsinne mich, daß ich sie fragte, ob sie verheiratet sei.

»Das ist eine schöne Frage«, sagte sie. »Ich habe zwei kleine süße Jungen, die schönsten in ganz Schweden. Und das weißt du nicht? Du bist seit zehn Jahren verheiratet und du hast eine Tochter, daß weiß ich. Sie ist wohl schon groß jetzt?«

»Hast du die ganze Zeit hier gewohnt?« sagte ich.

»Gewiß«, antwortete sie. »Erst dachte ich jeden Tag, du würdest zu mir kommen, wie in alten Zeiten. Als du aber nicht kamst, dachte ich: na, dann muß ich wohl warten.«

Dabei lachte sie laut, und ich hörte aufs neue ihr gutes, weiches, gesegnetes Lachen. Und alles wurde so einfach und offen, so klar und leicht. Ihre lichte Stimmung steckte mich an, aber zugleich ließ mich doch die Erinnerung an mein Heim und an das, was ich durchgemacht hatte, nicht los, ich sehnte mich danach, mit ihr sprechen zu können, ich wußte auch sofort, daß ich es tun würde. Jetzt ging ich nur schweigend an ihrer Seite und genoß ihre Nähe, genoß, daß sie überhaupt da war und daß sie mich nicht vergessen hatte.

Und so näherten wir uns ihrem Heim, und zum erstenmal seit vielen Jahren betrat ich eine schöne, feine Wohnung. Zuerst preßte es mir die Brust zusammen. Denn ich konnte nicht umhin, an meine eigenen kleinen Zimmer zu denken, wo die Möbel so verschlissen und alltäglich waren, wo es keinerlei Ausschmückung gab, die anzeigte, daß eine liebevolle Hand das Heim geordnet hatte. Ich dachte an meine Kupferstiche und Kunstsachen, alles, was du hier siehst. Die hatte ich verpackt und nie wieder daran gedacht sie hervorzunehmen. Es war, als fürchtete ich sie zu zeigen, als hätte ich gewußt, daß sie in dieses Heim nicht paßten. Daran dachte ich jetzt. Und zugleich genoß ich es, diese großen, weiten Räume zu sehen, wo die Luft so rein war. Zwei kleine Knaben, beide kleiner als meine eigene Tochter, kamen herbei und gaben mir die Hand, und Elise ließ mich ein Weilchen allein mit ihnen. Ich stellte mich ans Fenster und blickte auf die weite Ebene hinaus, die mit den weißen Flecken vom halbgeschmolzenen Schnee und dem dunklen, feuchtgrünen Tannenwald dahinter vor mir lag. Alles vereinigte sich, um mich friedlich und ruhig zu stimmen, und ich fand es nur ganz natürlich, als Elise hereintrat und mir sagte, während ihrer Abwesenheit sei eine Telephonmeldung angekommen, daß ihr Mann heute nicht zum Mittagessen käme. »Wie schade,« sagte sie, »ich hätte euch so gern einander vorgestellt, nun muß es ein andermal geschehen.« Diese Worte störten mich in einer seltsamen, unbestimmten Weise, indem sie mich daran erinnerten, daß sie einem anderen angehöre. Aber mir war, als sei alles, was geschah, gleichsam vom Schicksal vorausbestimmt. Gerade jetzt sollte es keinen Dritten geben. Nur Elise und ich. Was uns einst miteinander verbunden hatte, sollte ungestört aus der Vergangenheit emporsteigen und wieder verknüpfen, was nie hätte gelöst werden sollen.

Die Mahlzeit nahm ich hin wie etwas Notwendiges, dem ich nicht entrinnen konnte. Aber ich wartete die ganze Zeit darauf, daß der Augenblick käme, wo wir vom Tisch aufstehen würden. Alles andere, als dieses Alleinsein mit ihr, das meine Rettung werden sollte, kam mir leer und bedeutungslos vor. Ich glaube, Elise verstand mich während der ganzen Zeit, und ich empfand ihre Sympathie so stark, daß alles andere an mir vorbeiglitt, als wäre es nicht dagewesen.

Und als wir nun allein saßen im kleinen Kabinett und die Kinder hinausgeschickt wurden, welch reiches Glück war das für mich! Ich war ja ein Hungernder, der sich plötzlich satt essen durfte. Und ich genoß es, daß wir schweigend dasaßen, als hätten wir beide gefühlt, daß wir Zeit brauchten, um das, was gewesen, in Berührung zu bringen mit dem, was war.

»Wir beiden haben aber füreinander geschwärmt, damals, weißt du noch?«

Ich nickte lächelnd zu ihren Worten. Aber ich war zu sehr von meinen eigenen Gedanken erfüllt, als daß ich ihre Stimmung ganz hätte teilen können.

Instinktiv folgte sie meinen Gefühlen und begriff, wie sehr ich das Bedürfnis empfand zu reden, und deshalb sagte sie:

»Nun erzähle mir alles von dir selber.«

Und ich begann zu erzählen. Das ging nicht so leicht. Es mag zusammenhanglos genug und oft ohne Sinn gewesen sein. Aber ich erzählte alles von Signe und mir selber, von meinem Kinde und von meinem ganzen Leben, das ein Chaos war, welches ich nicht selbst entwirren konnte. Ich erzählte alles, so wie ich es dir eben erzählt habe. Und viel, viel mehr, dessen ich mich damals noch erinnern konnte, was aber die barmherzige Zeit mich später hat vergessen lassen. Während ich sprach, brannte das Feuer nieder, und es wurde dämmerig um uns. Elise zündete eine kleine Lampe an, wie sie sagte, um mein Gesicht sehen zu können. Die ganze Zeit saß sie neben mir, und als ich zum Letzten kam, zum Schlimmsten, legte sie ihre Hand in die meine und ließ sie da liegen. Als ich aber ausgeredet hatte, fühlte ich ihre Hand, die mich an sich zog, und ermattet wie ich war von allem, was ich so lange verschwiegen und zum ersten Male ausgesprochen hatte, fiel ich nieder mit dem Kopf auf ihr Knie. Und Gott segne sie! sie ließ mich ausweinen.

Wie lange ich so lag, weiß ich jetzt ebensowenig, wie ich es damals wußte. Aber während wir in dieser Stellung saßen, kam ihr Mann herein. Ich sah es nicht, aber ich fühlte, wie Elise aufstand, und ich hörte sie flüstern:

»Störe ihn nicht.«

Darauf müssen sie beide in einem Nebenzimmer verschwunden sein. Denn als ich mich später emporrichtete, war ich allein.

Nach einer Weile wurde die Tür wieder geöffnet, und sie kamen beide wieder herein. Ein fremder Mann umfaßte mich mit beiden Händen und streichelte mir die Schulter wie ein alter Kamerad, während Elise uns beide mit ihrem hellen, gesunden Lächeln ansah.

Auf diese Weise machte ich zum ersten Male die Bekanntschaft des Bankdirektors Bohrn.

 


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