Gustaf af Geijerstam
Frauenmacht
Gustaf af Geijerstam

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Siebzehntes Kapitel

Und doch konnte Elise mitten in diesem Leben, das sie erfüllte und ihr auf tausenderlei Weise Glück und Genießen bot, sich zuweilen nach etwas anderem, etwas Höherem sehnen. Die Mädchenträume schwebten vor ihrem klaren Blick wie Wolken von weißen Schmetterlingen über grünen Wiesen. Mit der Überlegenheit des reiferen Alters lachte sie über das sonnenschimmernde Spiel der Träume, aber sie genoß sie dennoch und freute sich ihres Spielens über hellen Sommerblumen. Deshalb konnte sie sich von der Großstadt und ihrem Winterleben hinaussehnen nach dem Walde und dem Bache, nach den blumenreichen Wiesen und den lichten Birkenhainen. Sie konnte Sehnsucht spüren nach den weißen Schneefeldern und der Morgensonne, die den Reif rot färbte. Oder auch nur danach, des Morgens zu erwachen, zu lauschen, ob alles still war, und zu hören, daß die alten Bäume draußen vor ihren Fenstern rauschten.

Wonach mag sich nicht ein Frauenherz sehnen, wenn wir Männer glauben, daß wir selbst den geringsten ihrer Wünsche erfüllt haben? Am häufigsten sehnt sie sich wohl gerade nach dem, was uns niemals einfällt, und eben darin, daß wir nichts merken von dem, was für sie ein unausgesprochener Traum ist, liegt die Möglichkeit, daß sich früher oder später zwischen Menschen ein Abgrund auftut, der niemals überbrückt werden kann.

Ich lernte das alles einsehen und begreifen während der Zeit, da ich mit Elise lebte, wie ich es nie für möglich gehalten, daß ein Mensch mit dem andern leben kann. Still und sicher wuchs das Verhältnis zwischen uns an Innigkeit, und ohne daß ich mir Rechenschaft darüber geben konnte, in welcher Weise sie es tat, füllte sie bei mir einen Platz aus, der immer leer gestanden zu haben schien. Und den ersten wirklichen Einblick in ihr Leben erhielt ich dadurch, daß ich ihr meinen Kummer mitteilte und sie mich mit seiner Bitterkeit versöhnte.

Ja, ich lebte während dieser Zeit in Wahrheit zwei Leben, und ich tat es nicht allein dadurch, daß ich meinen inneren Menschen teilte zwischen meinem Heim und dem, was ich damals meine zweite Welt zu nennen pflegte. Ich lebte zwei Leben noch in anderer Bedeutung, weil mir nämlich mein Wesen in zwei Hälften zerschnitten schien.

Anfangs war es nicht so. Anfangs glaubte ich, daß, was ich erlebt hatte, mir vorübergegangen sei, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich fühlte mich glücklich und stark, weil all das Alte vergangen und die Erniedrigung meines Lebens wie ein böser Traum verschwunden war. Ich hatte viel zu tun mit der Ehescheidung und mit der Einrichtung meines neuen Heims. Ich mußte daran denken, Geld herbei zu schaffen, um alles zu ordnen für die friedliche Zukunft, die meiner Tochter und meiner wartete. Diese Sorgen gaben mir meine Energie wieder, und diese Energie war derartig, daß sie mir keine Ruhe ließ, ehe das ausgeführt war, was ich wollte.

Als aber die Ruhe wiederkehrte und ich einsam mit meiner Tochter in unserer kleinen Wohnung saß, als nichts anderes meine Gedanken beschäftigte und zerstreute, als die Arbeit an einer Übersetzung oder das Ordnen irgendeines der vielen Buchhändlerprodukte, die meinen Namen tragen, da kam mein altes Leben zurück und schaute mir ins Gesicht. Es kam wie ein dunkler Schatten, der sonst nichts von einem menschlichen Gesicht hatte als zwei Augen. Und diese Augen starrten in die meinen und fragten:

»Wo bist du in allen diesen Jahren gewesen?«

Und ich antwortete gedankenlos:

»Weit weg.«

Die Augen fragten wieder:

»Bist du jetzt nach Hause gekommen?«

Eine kalte Angst überfiel mich, und ich antwortete!

»Ich weiß nicht.«

»Siehst du«, begannen die Augen wieder. »Nicht einmal das weißt du. Du wirst es auch nie erfahren. Denn du bist in meiner Macht, und ich komme, um dich mir wiederzufordern.«

Und der Schatten wuchs, bis er das ganze Zimmer um mich herum erfüllte, so daß alles dunkel wurde und ich das Lampenlicht wie einen Punkt mitten in all dem Schwarzen sah. Er kam, wenn ich allein war und die Nacht heranrückte. Da trieb er mich vom Schreibtisch weg und zwang mich, sinnlose Schritte im Zimmer hin und her zu tun, während ich an nichts dachte, nur fühlte, wie der Schatten mein Inneres erfüllte, bis dort nichts mehr zu sehen war als eine einsame, flackernde Flamme. Mir war es, als sei diese Flamme mein Leben und als wolle der Schatten sie auslöschen. Ich fühlte, wie sie ausging, wie ich nicht länger existierte. »Meine Tochter!« sagte ich laut vor mich hin. »Was soll aus ihr werden?« Und ich schlich mich hinein an Gretchens Bett. Dort fiel ich auf die Knie in tränenloser Verzweiflung, beugte mich über das Kind und empfand ihren ruhigen Atemzug an meiner Wange. Aber an der Wand, über ihrem Bette regte sich der Schatten, und die unergründlichen Augen funkelten.

»Noch bist du nicht ausgebrannt«, sagten sie. »Noch wird dir die Zeit lang.«

»Wenn ich nur still sitzen könnte«, dachte ich. »Wenn ich doch nur still sitzen könnte.«

Es war mein altes Leben, das zurückkehrte und mir das unsagbare Weshalb aufzwang, das kein Mensch beantworten kann, weder für sich noch für andere. Ich war jung und konnte mich nicht alt fühlen. Durch unnütze Selbstaufopferung war mein Leben in den Sand geronnen, und ich selber sollte bald nachfolgen, ohne auch nur einen Tropfen gefunden zu haben von jenem reinen Trank, nach dem ich dürstend meine Hand ausgestreckt hatte. Ich hatte ein Kind, das mich anbetete. Ein Kind, das mich glücklich machte, wenn sie nur meinen Blicken begegnete. Aber was ist denn ein Kind? Ein Teil meines Selbst, das Schutz suchend sich an mich drückt, so lange das Bedürfnis es an mich fesselt, das mir aber den Rücken zukehrt und seinen eigenen Weg geht, wenn das Leben einst lockt. Ich hatte Freunde. Was sind denn Freunde? Ein Beweis der eisigen Isolation des Lebens, die wir erst dann verstehen, wenn der Schmerz uns so hart geschlagen hat, daß jedes Gefühl fort ist. Ich hatte eine Frau gehabt . . . Wie unter einem brennenden Peitschenhieb beugte ich mich und empfand die Schande alles dessen, was mein Leben mir gebracht hatte. Und ich sah nur eines, daß ich allein stand, allein, entfernt von Gott und Menschen, dazu verurteilt, in der Stille zu verschmachten, ohne daß ich es vermochte, jemandem die Furchtbarkeit der Qualen zu offenbaren, die mich marterten.

Kein Mensch kann auf die Dauer allein sein, keiner kann leben, keiner kann sterben allein. Ich weiß, daß das alles geschehen kann und daß es wie alles andere ertragen werden muß. Ja, ich habe gehört, daß Menschen davon sprachen, wie von dem höchsten Gut des Lebens. Aber ich glaube ihren Worten nicht. Sie sind übertrieben oder Torheit, und selbst ihr Gerede birgt die Sehnsucht in sich nach einer anderen Seele, für die nichts in der unsrigen fremd ist. Und als ich damals so allein war, daß mir schien, niemand sei je so einsam gewesen, schrie ich im Zorn auf wider mein Schicksal und konnte keinen Frieden finden. Ich las das Buch Hiob und fand den Ausdruck für meinen Gemütszustand in des hebräischen Dichters einsamem Kampfe gegen Gott.

Um mich her glaubte ich die fremden Möbel meines kleinen Doppelzimmers zu sehen, wie ich es bewohnte, ehe ich mich verheiratete und mich glücklich glaubte. Ich sah mich als einen jungen Mann, der sich dem Leben gewachsen fühlt. Dieses Gesicht verfolgte mich wie ein böses Omen. Wer sich selbst erblickt, muß sterben, heißt es. Für mich bedeutete es aber nicht solches Glück. Für mich bedeutete es das Gegenteil. Wer sich selbst erblickt, der stirbt nicht. Aber er muß lebend herumgehen, als sei er schon längst gestorben, und sich über sein eigenes Bild grämen, das er nicht vergessen kann.

Während all dieser Lebensqual lebte ich mein tägliches Leben weiter, und niemand merkte mir etwas an. Ich verrichtete meine Arbeit, nicht schlechter und nicht besser als früher. Nur schneller. Es war, als zwänge mich jemand zu eilen, damit ich frei wäre, wenn die bösen Gedanken kämen und mich mir selber zeigten, mich und mein verfehltes Leben. Ich spielte mit meiner Tochter und las ihr vor. Und ich küßte sie jeden Abend zur Gutennacht mit einem Gefühl von Glück, endlich frei zu sein. Ich besuchte Elise und ihren Mann oder Elise allein. Ich hörte sie sprechen und wußte, daß ich ihnen Antwort gab. Aber ich fühlte mich erleichtert, wenn ich die Korridortür hinter mir zufallen hörte und mich wieder draußen auf der Straße befand, wo der Schatten wartete, um mich heim zu begleiten.

Kurzum, ich lebte ein Scheinleben, das ich nicht verstand. Und dahinter lockte mich die Versuchung, Hand an mich zu legen und mit unaussprechlicher Genugtuung zu fühlen, wie der Lebensfaden abreißen würde. Und ich vermochte mit niemandem darüber zu sprechen, nicht einmal mit Elise. Auch sie merkte nichts, sie, die sonst so scharf sah. Ich ging umher und wunderte mich darüber, ich fand, daß sie meinen Zustand ahnen und mir zu Hilfe kommen müßte. Ich fühlte Haß gegen sie, weil es nicht geschah. Einen ganzen Winter ging ich so umher und glaubte, ich könnte es nicht aushalten, es müsse zuletzt alles in mir zerspringen.

So saß ich denn eines Abends in Elisens Kabinett, und durch die offene Tür hörte ich spielende Kinder. Wir saßen und warteten auf ihren Mann. Er kam aber nicht. Da klingelte es am Telephon, und ich sah Elise hinausgehen.

Mit einem Male wurde es mir dunkel vor den Augen, ein Gefühl von wunderbarer Wehmut durchströmte meine Seele. Ich haßte nicht länger, die Bitterkeit wich, der Trotz, die Angst, die Grübelei, die Unruhe, alles wich von mir, nicht, als wäre ich es los, sondern als weigerte ich mich, diese unerhörte Spannung länger zu ertragen, die mir nicht einmal im Schlafe Ruhe ließ. Es war mir, als sänke ich betäubt um, als versagten die Sinne ihren Dienst. Ich bildete mir ein, es sei der Tod, der sich mir als Freund nahe. Ich war nicht bewußtlos. Aber ich hatte auch keine Erinnerung an das, was passierte, bis ich Elisens Stimme hörte und ihre Hand fühlte, die leise an meinen Arm rührte.

Ich sah mich um und fühlte dabei, wie mir der kalte Schweiß buchstäblich von der Stirn lief.

»Was hast du, Hugo?« hörte ich Elise sagen. »Ist dir nicht wohl?«

Ich erhob mich und blickte sie an.

»Nein,« sagte ich, »mir ist nicht wohl. Es ist nicht mehr wie früher. Da betrübte ich mich über etwas, dem abgeholfen werden konnte. Jetzt bin ich nicht mehr traurig. Der Grund für meine Traurigkeit ist verschwunden. Aber ich habe meine Kräfte einmal überanstrengt, Elise. Jetzt bin ich lahm. Und meine Glieder tragen mich nicht länger.«

Wieder sah ich ihre Augen, die forschend die meinen suchten.

»Sieh mich nicht so an«, sagte ich. »Das tut weh.«

Sie blickte weg und schwieg, machte nicht einmal eine erstaunte Bewegung. Ich hatte ein undeutliches Gefühl, daß sie es gut mit mir meinte, und es war mir völlig gleichgültig. Aber trotzdem fing ich an, über mich selber zu reden, und Elise antwortete mir. Zuletzt hörte ich auf ihre Worte, und etwas von der Kälte begann in mir zu schmelzen.

Aber noch war ich nicht imstande, nur zu begreifen, daß sie meinen Schmerz teilte, ich glaubte, sie müsse mich verachten, und sagte es ihr. Da lachte sie mich aus, als wäre ich ein krankes, eigensinniges Kind, und ich empfand dies. Aber ich wollte mich nicht unterkriegen lassen. Ich wollte ihr keine Macht über mich einräumen, und wäre es auch zu meinem eigenen Besten. Deshalb schüttelte ich den Kopf, als sie mich bat zu bleiben, erhob mich und ging fort, indem ich versuchte, sie zu überzeugen, daß ich nervös gewesen sei und alles übertrieben hätte.

Zu Hause aber fand ich Gretchen, die von ihrer Musikstunde gekommen war und mich erwartete. Sie hatte in meinem Zimmer ein Abendessen hergerichtet, den Tisch zierlich gedeckt und Obst darauf gestellt. Und als ich eintrat und sie sah, daß mein Gesicht sich erhellte, hüpfte sie ganz außer sich vor Entzücken im Zimmer herum.

Zum ersten Male seit langer Zeit fühlte ich, daß etwas anderes außer mir Wärme und Leben besaß. Ich fühlte es ganz schwach, als ob ich noch nicht imstande sei, es ganz zu empfinden. Als ich aber allein war, machte sich der Kummer Luft in einem Strom von Tränen, und todmüde ging ich zu Bett.

 


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