Gustaf af Geijerstam
Frauenmacht
Gustaf af Geijerstam

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Wie segnete ich in dieser Zeit das Geld, das mir erlaubte, alles für mein Kind zu tun! Wie erstaunlich kam es mir vor, daß ich, der während meines ganzen Lebens jeden Pfennig in der Hand umdrehen mußte, gerade jetzt zum ersten Male nicht zu sparen brauchte.

Alle vorhergehenden Sommer hatte ich mich auf Ausflüge ins Freie beschränkt oder auf Besuche während der Feiertage. Gretchen pflegte nämlich einige Wochen bei Bohrns zuzubringen, die dann immer auf dem alten Herrensitz an dem Bergstrom wohnten, wo Elise die glückliche Zeit ihrer Jugend und Kindheit von neuem durchlebte.

Gretchen hatte sich nie gern von mir getrennt, und diesen Sommer brauchten wir auch nicht daran zu denken. Ich mietete uns ein schönes Landhaus weit draußen in Skärgarden, und wir waren froh wie die Kinder, hinauszukommen. Der Sommeraufenthalt, den ich gewählt hatte, bestand aus einem roten Gebäude mit halboffener Glasveranda, einem alten, zum Teil verfallenen Garten mit bejahrten, moosbewachsenen Apfelbäumen, die längst aufgehört hatten, Früchte zu tragen, und mit großen, verwilderten Stachelbeerbüschen. Das Gebäude lag ganz dicht am Strande, und von der Veranda sah man auf eine große Bucht hinaus, wo die Sonne hinter dem Tannenwalde der Insel unterging.

Zweimal, ehe wir dort hinauszogen, hatte Gretchen einen von den Anfällen gehabt, vor denen der Arzt mich gewarnt, ohne daß ich eine besondere Veranlassung hatte finden können. Diese Anfälle äußerten sich ganz einfach auf die Weise, daß das Herz aussetzte. Ich hatte sie nach den Anweisungen, die ich erhalten hatte, behandelt und gefühlt, wie das Leben wiederkehrte in ihren Körper, der tot und starr schien. Als Gretchen das erstemal nach einem solchen Schlafe erwachte, merkte ich, daß sie sich selbst mit Verwunderung betrachtete. Sie sah sich erstaunt um und stellte keine Fragen. Nach dem zweiten Anfall aber wurde es mir klar, daß sie über sich zu grübeln anfing.

»Was ist das, Papa?« sagte sie. »Weshalb habe ich das Gefühl, als ob das Herz still stände.«

»Es ist nichts, mein Kind«, antwortete ich. »Der Doktor sagt, es sei nur große Schwäche.«

Aber ich konnte es dem langen, forschenden Blick, den sie auf mich richtete, anmerken, daß sie meinen Worten nur zur Hälfte Glauben schenkte. Und ich überlegte mir schon damals, ob die Grübelei nicht ebenso gefährlich werden könnte wie der Gedanke, sterben zu müssen.

Daran dachte ich, als wir auf dem Verdeck des kleinen Dampfers an dichtbelaubten Ufern entlang unserem neuen Sommerheim entgegenfuhren. Niemals habe ich Gretchen so strahlend glücklich gesehen. Sie saß neben mir, mit einer kleinen Reisetasche auf dem Schoß, und brach in Entzücken aus über alles, was sie sah. Nur einmal in ihrem Leben hatte sie eine so lange Dampferfahrt gemacht. Die Mahlzeit an Bord, der Kaffee auf dem Achterdeck, die zurückkehrenden Skärgardsbewohner, die in der Stadt Geschäfte gehabt, die hinausziehenden Stockholmer mit Hunden, Vogelbauern und vielen Kindern, das alles machte auf sie den Eindruck von etwas Neuem, Ungewöhnlichem und Zauberhaftem. Eine Möve flog über das Schiff hin, der Dampf wurde zu Wolken, die sich an den Baumwipfeln zerteilten, von der Schraube des Dampfers ging ein Wirbel aus, der zu zwei Reihen Schaumwellen wurde, welche sich am Ufer brachen! Alles sah sie, und sie sprach ohne Aufhören; sie redete davon, was wir nun tun wollten, wie sie sich einrichten würde, welche lange Zeit wir da draußen wohnen würden – von allem, was in ihrer Phantasie kam und ging. Ich weiß kaum, daß ich sie je so viel auf einmal hätte sprechen hören. Und ihre Lebhaftigkeit ängstigte mich.

Denn ich mußte an die Worte des Arztes von den Gemütsbewegungen denken. Sie waren zu einem Alb geworden, der mir nun immer auf der Brust lag und mich daran verhinderte, ihre Freude zu genießen. Sie war ja auch nicht wie andere. Bei ihr wurde alles Gemütsbewegung, die geringste Freude wie der geringste Schmerz. Sie glich einem See, den der leichteste Wind zu hohen Wellen emportreiben kann. Und was war denn ihr ganzes Leben? Was war es anders gewesen als eine einzige, andauernde Reihe von Gemütsbewegungen, die hinreichend gewesen wären, selbst die Gesundheit eines Erwachsenen zu untergraben, wieviel mehr also die eines Kindes. Mit unsäglicher Bitterkeit erfüllte mich dieser Gedanke, und er wuchs zu einem ohnmächtigen, marternden Zorn an, in dem ich mich sehnte, wieder einmal das Weib von Angesicht zu Angesicht zu sehen, das mich selber einst fast aus dem Gleise gebracht und das nun schuld daran war, daß mein kleines Mädchen an einem unheilbaren Leiden hinsiechte, das ihre zarten Kräfte zerstören würde. Aber zur selben Zeit fühlte ich: das, was Gretchen geworden war, war sie aus Liebe zu mir geworden, ihre ganze Frühreife – wenn ein solches Wort hier überhaupt am Platze ist – war eine Überverfeinerung, die sie dadurch erhalten hatte, daß sie mit mir gelitten hatte und zum Weibe geworden war, während ihr Körper noch der eines Kindes war.

Dieses erfüllte mich mit Stolz und mit Glück. Denn es entfernte sie von der Mutter und näherte sie mir mitten in allem Unglück.

Sie stand am Reeling angelehnt an meiner Seite, und ihr Gesichtsausdruck war der eines jungen Weibes, obgleich ihre Freude die eines Kindes war. Nicht einen Augenblick während der drei Stunden langen Reise hatte ihr Entzücken nachgelassen. Und jetzt, als wir uns unserm Landungspunkt näherten, wurde sie fast betrübt, daß die Fahrt schon zu Ende war.

Aber im nächsten Augenblick war dieser flüchtige Kummer vorbei. Sie stand neben mir auf der Brücke und sah zu, wie das Dampfboot langsam wendete und schließlich schnell dahindampfte. Sie lachte mit dem ganzen Gesicht, als die Wellen an der niedrigen Brücke hinaufplätscherten und fast unsere Füße benetzten. Mit einem tiefen Atemzuge und einem Gesichtsausdruck, so seltsam wie ich ihn niemals gesehen, drehte sie sich um und ging neben mir den schmalen Pfad hinauf nach unserem Landhause. Die ganze Zeit sah sie sich um, als wollte sie alles, was sie erblickte, in Besitz nehmen und als wunderte sie sich darüber, daß es das alles da gäbe.

»Ist es, wie du es dir gedacht hast?« fragte ich.

Sie schüttelte nur den Kopf und legte die Hand auf meine Schulter. Rings um das Gebäude standen die Apfelbäume in Blüte, und die Luft war erfüllt vom Duft der großen Fliederbüsche. Ich sehe sie in dieser Umgebung, wie sie meinen Arm losließ und allein vor mir herging. Mir schien es, als wäre die Erde unter ihren Füßen heilig, und mit seltsamer Beklemmung verstand ich, daß hier der Ort sei, wo sie sterben würde.

Aber selbst dieser Gedanke störte die Stimmung des Augenblicks nicht, und als wir in die Veranda eintraten, kam uns auch dort der Duft des Flieders entgegen. Wir gingen miteinander aus einem Zimmer in das andere, und als wir uns müde gesehen und zu Abend gegessen, stand sie eine Weile in der Tür und genoß die schimmernde Abendröte, welche sich in der ruhig daliegenden Bucht spiegelte.

»Ich bin müde«, sagte sie und ging zu Bette.

Aber ich konnte nicht schlafen, sondern blieb noch lange auf, rauchte Zigarren und wunderte mich drüber, wie es zuging, daß ich, der ich in einer Waldgegend geboren bin und mich nie so recht mit dem nach meinem Geschmack unruhigen Skärgarden habe versöhnen können, ihn jetzt in einer ganz neuen und überraschenden Beleuchtung sah.

 

 


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