Gustaf af Geijerstam
Frauenmacht
Gustaf af Geijerstam

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Einundzwanzigstes Kapitel

Als ich mich am selben Tage um die Mittagszeit von Elise trennte, begegnete mir auf dem Wege nach meinem Heim Karl Bohrn. Mit zugeknöpftem Rocke, die Handschuhe in der Hand, ging er das Trottoir entlang. Als er näher kam, merkte ich, daß er zerstreut aussah. Und als wir ein Weilchen nebeneinander dahingegangen, schlug er mir vor, unser Mittagessen draußen in einem Restaurant einzunehmen.

»Ich glaube, Elise ist froh, wenn sie heute die Wohnung für sich hat«, fügte er hinzu. »Sie läßt rein machen.«

»Davon hat sie mir nichts gesagt«, war meine Antwort. »Ich habe sie getroffen.«

Er sah mich von der Seite an und fragte:

»Sprachst du sie lange?«

»Ja, wir begegneten uns zufälligerweise und machten einen Spaziergang.«

Wie gut entsinne ich mich dieser nichtssagenden, alltäglichen Worte. Es ist mir, als könnte ich sie noch hören und die Doppelstimmung, die sie in mir weckten, empfinden. Sie schnitten wie ein Mißton in meine Erinnerungen hinein, in die Stimmung dieses ereignisvollen Tages.

Karl Bohrn wiederholte indessen seinen Vorschlag, und ich war froh, daß ich nicht heimzugehen und allein mit Gretchen zu sitzen brauchte. Ich fürchtete ihre forschenden Blicke mehr als die seinen.

So saßen wir denn an einem der Fenstertische in »Lilla Rydberg«, wie es damals hieß, dem engen Lokal im Erdgeschoß mit seinen grünen Möbeln, den kleinen Tischen und der Tropfsteingrotte mit der farbigen Gasbeleuchtung. Hier saßen wir hinter niedergelassenen Vorhängen, weil die Sonne schon fort war. Und während die Mahlzeit fortschritt, war es mir ganz kurios zu spüren, wie die Nachwirkung der ersten Frühlingsempfindung und der Gemütsbewegungen, die ich durchgemacht hatte, langsam vor der Einwirkung des Essens und der Weine dahinschwand. »Ich bin ein alter Mann,« dachte ich, »und ich bin zur Ruhe gekommen. Jetzt kann mich nichts wieder stören.«

Dann blickte Karl Bohrn auf von seinem Teller und sagte mit einer Miene, die er so unbefangen wie möglich zu machen suchte:

»Worüber sprachst du mit Elise heute? War es etwas Besonderes?«

»Nein«, antwortete ich. Und im selben Augenblick kam mir der Gedanke, daß ich falsch war gegen ihn, meinen Freund, ohne daß mein Gewissen mir Vorwürfe darüber machte. »Wir sprachen über Dinge, die wir lange wußten.«

Karl Bohrn schwieg ein Weilchen, und ich konnte es seiner Miene ansehen, daß er sich genierte, weitere Fragen zu stellen. Zuletzt sagte er aber trotzdem:

»Sprach sie nicht von mir?«

»Von dir?« rief ich.

Und ich mußte dabei an die Gemütsbewegung denken, die ich Elise angemerkt hatte, als sie mich in meiner Wohnung besuchte, und an ihren Dank vorhin am Vormittag.

»Ich dachte auch eigentlich nicht, daß Elise es getan hätte«, fuhr Karl fort. »Denn es sähe ihr nicht ähnlich. Aber ich weiß ja, daß sie dir sonst alles sagt. Und selbst eine Frau wie sie mag mitunter wohl eines Vertrauten bedürfen. Dieses Mal hätte sie Grund genug gehabt«, fügte er hinzu.

Er sagte dieses in einem ungewöhnlich ernsten Ton, und sein Blick bekam einen verschleierten und nach innen gewendeten Ausdruck, den ich bei ihm nie erwartet hätte. Und als ich ihn bestürzt fragte, was es sei, das ihn augenscheinlich so stark beschäftige, sagte er still:

»Dir will ich's gern sagen. Denn du hast sie lieb und mich auch. Einem anderen würde ich's sicher nicht sagen.«

Er schwieg und lenkte plötzlich das Gespräch auf andere Dinge. Erst später, als wir gemütlich im Sofa in der dämmerigen Grotte saßen, fing er wieder an:

»Du wirst wohl manches von dem gehört haben, was man über mich redet«, sagte er. »Man erzählt sich, Elise sei zu gut für mich. Ich gebe es zu. Ich bin nicht in allen Stücken der Gatte, der ich sein müßte. Ich bin ein Mann wie tausend andere, und ich habe meine Junggesellengewohnheiten beibehalten wie tausend andere. Weshalb man mehr über mich redet als über Herrn so und so, das weiß ich nicht. Vielleicht verstehe ich die Kunst der Verstellung weniger gut. Aber wenn du glaubst, daß ich mir diese Sache nicht zu Herzen nähme, so irrst du dich. Ich will mich nicht verteidigen, aber ich kann dir vielleicht erklären, wie mir zumute ist und wie alles gekommen ist.

»Ich war jung zu einer Zeit, da man es ebenso unmöglich hielt für einen jungen Mann, ohne Frau zu leben, wie für einen Fisch, nicht im Wasser zu schwimmen. Diese Meinung sog ich ein mit der Luft, die ich atmete. Sie war von meinen Kameraden als Axiom angenommen, und sie galt als eine von allen anerkannte Wahrheit, die nur den einen Fehler hatte, daß sie verschwiegen werden mußte. Sie sollte verschwiegen werden vor Frauen und Kindern – stets. Selbst vor Kindern vom genus masculinum – bis sie das reife Alter erreicht hatten. Dann, gerade zur Zeit, wenn die Leidenschaft den höchsten Grad von Selbstberauschung besitzt, wird plötzlich die Binde von ihren Augen genommen, und sie entdecken, daß kaum einer jene Tugend, die man sie als Kinder gelehrt, im Ernst von einem jungen Manne fordert. Froh, den unerhörten Kampf wider das eigene Fleisch los zu werden, sucht er Befreiung auf den Wegen, wo das Laster seine Nester baut. Anfangs ist die rein physische Erleichterung so groß, daß er nur die Befreiung empfindet. Später kommt die Zeit, wo er zu reifen beginnt und sich von dem Greuel wegsehnt. So gründet er sich denn eines Tages ein eigenes Heim, und mit Jubel beginnt er das neue Leben, das ihn befreit. Jahre hindurch lebt er glücklich, weil er liebt, er glaubt dann an das Alte nie mehr zu denken zu brauchen. Aber das ist eben das Furchtbare: niemand wird seine Vergangenheit los. Was wir einmal getan haben, ist unsere Hölle, die während einer Zeit schlafen mag, die aber immer wieder erwacht. Es gibt nur wenige, die dann Kraft und Beharrlichkeit genug besitzen, um sich zu Herren über ihre Triebe zu machen. Es ist aber eine grauenvolle Entdeckung, wenn man als erwachsener Mann sieht, daß man wieder durch sich selbst und durch andere betrogen worden ist. Von neuem fällt die Binde von den Augen des Mannes, und er begreift, daß die Ehe kein sicherer Hafen ist, in dem man sich ohne Kampf zur Ruhe legen kann. Seit früher Jugend ist er in seinem innersten Wesen zersplittert, denn er hat sich daran gewöhnt, seinen Körper ohne seine Seele zu geben. Und in der Fieberhitze der Großstadt, im entnervenden Kampf der Arbeit, im Wirbel des Ehrgeizes und aller Reize des Genusses, erwachen die Triebe aufs neue und machen ihn so unglücklich und zerrissen – wie ich es jetzt bin.«

Er schwieg einen Augenblick und schien nachzusinnen.

»Ich bin ein praktischer Mann«, fuhr er fort. »Und ich bekümmere mich im allgemeinen nicht um Theorien. Über dieses aber habe ich mehr als einmal gegrübelt. Liebte ich Elise nicht, wie ich es tue, würde ich weniger leiden.«

Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß es mir bei dieser Beichte wie Feuer vor den Augen loderte. Für mich war alles dieses aus dem Leben der beiden Gatten neu, und die Kenntnis davon zerschmetterte mich, weil ich mich, sonderbar genug, gerade dieser Beichte gegenüber als ein Verbrecher fühlte.

»Hast du niemals versucht, mit deiner Frau darüber zu reden?« fragte ich. »Vielleicht würde sie dich verstehen und dir helfen können.«

»Glaubst du?« erwiderte er sinnend, und seine Stimme wurde leise. »Dann hätte ich es früher tun sollen. Jetzt ist es zu spät.«

Er schwieg ein Weilchen und fuhr dann in seinem gewöhnlichen Ton fort:

»Ich fragte dich vorhin, ob Elise dir etwas gesagt hätte über mich. Gerade in diesen Tagen nämlich ist etwas vorgefallen. Eine dumme Geschichte natürlich. Ich weiß, daß Elise sie kennt. Sie hat nichts gesagt. Aber es ist ganz klar, daß sie alles weiß. Es wäre tausendmal besser, wenn wir sprechen könnten.«

Ich schwieg, erfüllt von dem Gedanken an die wunderbare Macht des Schweigens, die bald trennt, bald vereint. Und Karl schien meinen Gedankengang zu ahnen.

»Woran denkst du?« sagte er.

»An nichts Besonderes«, war meine leere Antwort.

»Siehst du«, fuhr er fort mit seiner gewohnten Lebhaftigkeit. »Ich tat nicht mit zu der Zeit, als eine solche Aufrichtigkeit gebräuchlich war. Bei jüngeren Männern, habe ich mir sagen lassen, ist es allerdings wohl der Fall. Vielleicht kann es ihnen helfen. Ich weiß es nicht. Aber so viel weiß ich: Selbstbeherrschung in der Jugend ist nützlicher, als die moderne Literatur glaubt. Wenn meine Jungens aufwachsen, will ich es sie lehren, ehe es zu spät wird. Und ich werde mich keinen Augenblick besinnen, mich selbst als warnendes Beispiel hinzustellen. Vielleicht wird dadurch das Vertrauen zwischen uns besser befestigt, als wenn ich ihnen einzureden versuchte, daß ich ein Muster gewesen sei.«

»Sicher«, antwortete ich. »Meine Erfahrung ist freilich eine ganz andere. Vielleicht war mein Blut ruhiger, vielleicht waren meine Versuchungen geringer. Solche Jugenderfahrungen, wie du meinst, habe ich wenige in Erinnerung. Aber, wenn ich nicht so unerfahren gewesen wäre, würde mein Schicksal möglicherweise ein anderes gewesen sein.«

Karl Bohrns Augen leuchteten, wie vom Blitze getroffen, und mit dem plötzlichen Stimmungswechsel, der ihm eigen war, rief er aus:

»Ja, das ist gerade das Kuriose, diese ganze Frage ist wie ein zweischneidiges Messer. Wie man das Ding auch dreht, man riskiert, sich die Finger abzuschneiden. Gott mag wissen, was man eigentlich seinen Jungens sagen soll!«

Es lag etwas vom klugen Humor des Weltmannes in seinem Blick, als fände er sich selber und die ganze Welt diesem ironischen Gesetze des Fleisches unterworfen, das so viel Farcen und Tragödien schafft. Und wie ich die stämmige, kraftvolle Gestalt mit dem wohlgebildeten Kopf und dem offenen, guten Gesichte ansah, empfand ich eine Sympathie mit ihm, die ich kaum beschreiben kann. Mag sein, daß es die ungeschminkte Menschlichkeit seines ganzen Wesens war, welche in diesem Augenblick, ungeachtet seiner großen Schwäche, mich zwang, ihm sogar das Glück zu gönnen, Elisens Mann zu sein.

Als wir ein Weilchen von anderen Dingen geredet und ein leichterer Ton die Beklemmung des ernsten Gesprächs abgelöst hatte, sah Karl Bohrn auf seine Uhr und äußerte:

»Ich will heute abend in die Oper gehen und die »Zauberflöte« hören. Ich habe ein Bedürfnis nach Musik. Ich werde gehen und Elise hertelephonieren.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, stand er auf und ging hinaus. Durch die offene Tür konnte ich der Telephonunterredung folgen. Ich hörte, daß Elise Einwendungen machte, die nach einer Weile siegreich bekämpft wurden. Als mein Freund wieder kam, sah er strahlend aus, als hätte er eine wirkliche Erleichterung erfahren.

»Ich sehnte mich nach ihr«, sagte er. »Das ist die ganze Sache.«

Elise kam auch, und als Karl hinausging, um die Billetts zu besorgen, sah Elise mich mit ihrem offenen, hellen Blick an und sagte:

»Karl hat mit dir gesprochen.«

»Ja«, antwortete ich, über ihren natürlichen, ruhigen Ton erstaunt.

»Mit mir tut er es niemals.«

Ihre Augen wurden feucht, und ihre Stimme bekam einen Klang von Wehmut, so voll und reich, wie ich ihn nie in einer Menschenstimme gehört.

»Niemals, wenn es sich um solche Dinge handelt. Er weiß nicht, wie gut ich ihn verstehen würde. Ihm helfen vielleicht, auch – jetzt.«

Das letzte Wort fiel weich und still und erzählte eine ganze Geschichte.

Als Elise es aussprach, fielen ein paar Tränen aus ihren Augen, ohne daß sie wegsah oder es zu hindern suchte, und ihr ganzes Gesicht wurde in einer wunderbaren Weise lebendig.

Ich faßte ihre Hand, glücklich, daß sie doch zu mir reden konnte.

Da lachte sie, und indem sie ihre Hand zurückzog, sagte sie:

»Anfangs war es nicht so leicht.«

Darauf gingen wir miteinander hinaus, wo die Gasflammen über den nassen Straßen flackerten. Ich ließ die beiden Gatten allein und ging heim. Trotz ihrer Proteste fand ich, daß ich nicht das Recht hatte, sie zu stören. Ich selber war zu erfüllt von dem, was ich erlebt hatte, um mich nicht nach der Einsamkeit zu sehnen, die von diesem Tage an mehr und mehr das große Glück für mich wurde.

 


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