Gustaf af Geijerstam
Frauenmacht
Gustaf af Geijerstam

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Zwölftes Kapitel

Auf der Straße rief ich eine Droschke an und ließ uns nach einem Hotel fahren. Dort nahm ich ein großes Zimmer und bestellte ein Abendessen.

»Wir wollen es gemütlich haben, heut abend«, sagte ich. »Du und ich, mein Töchterchen, nicht wahr?«

Aber ich sah fortwährend, daß sie mir nicht glaubte. Da konnte auch ich die Rolle nicht weiterführen, die ich spielte, konnte nicht länger nur ein älterer Mann sein, der zu einem Kinde sprach, sondern fragte sie direkt und ohne Umschweife, als ob ich zu einer Gleichaltrigen spräche:

»Wirst du sehr betrübt sein, wenn du nie wieder nach Hause kommst?«

Während der ganzen vorhergehenden Zeit hatte ich gemerkt, daß sie unruhig war, gleichsam ihrer selbst nicht sicher und ängstlich vor allem, was geschah, weil sie nichts verstand.

»Soll die Mama denn allein da wohnen?« fragte sie.

Ich erklärte ihr ganz einfach, daß ich dieses noch nicht wüßte, daß ich aber jedenfalls wegziehen würde und gern wollte, daß mein Kind mir folgte. Da kroch das Mädchen auf meine Knie hinauf, ganz als ob sie alles verstanden hätte, legte ihren kleinen schmalen Arm um meinen Hals und fing leise an zu weinen. Aber ich erkannte auch, daß es nicht vor Kummer allein war.

So saßen wir ein Weilchen, und nachdem dies gesagt war, erwähnte keiner von uns wieder den Namen der Mutter. Es dauerte lange, ehe wir es konnten.

Wieviel das Kind verstand von dem, was geschehen war, konnte ich sie nie fragen. Aber ich glaube fest, Kinder wissen so gut wie alles, und nur wir Großen sind es, die ihre Kinderzeit vergessen haben. Mir tun die Kleinen leid, die gezwungen werden, ihre Überlegenheit über uns dadurch zu zeigen, daß sie schweigen und sich unserem Willen fügen.

Aber während mein kleines Mädchen neben mir saß, fing sie allmählich an zu sprechen. Und da erzählte sie so viel, daß ich allerdings eine Ahnung davon bekam, was da vorgegangen war und welcher Umgebung ich sie entzogen hatte.

»Sie schloß mich ein, jeden Abend, wenn du ausgingst«, sagte Gretchen. »Und sie sagte, wenn ich es dir wiedererzählte, würde sie mir soviel Prügel geben wie noch nie.«

»Aber wußtest du denn nicht, daß ich dir geholfen hätte«, wendete ich ein.

Das Kind überlegte sich die Sache ein Weilchen und sagte dann nur:

»Daran dachte ich nicht.«

Da hielt ich sie mit ausgestrecktem Arm und betrachtete sie. Ihr Gesicht hatte etwas Durchsichtiges und zugleich Waches bekommen, als wäre sie lange daran gewöhnt, auf eigene Hand zu denken und sich selber zu schützen. Ich sah und sah sie an und verstand, daß all mein eigenes Erleben, mit ihrem verglichen, unsagbar gering war. Ich wagte nicht an die Zukunft zu denken. Mir schien, daß ein Kind, welches so etwas durchgemacht, nie wieder Kind werden könne, sondern fürs Leben geknickt sein müsse. Und auf meiner Zunge brannte während der ganzen Zeit die furchtbare Frage, die ich nicht auszusprechen wagte: »Weshalb schloß sie dich ein? Weißt du es? Verstehst du oder ahnst du?«

Plötzlich sagte Gretchen:

»Wie leicht alles jetzt werden wird. Du bist immer so gut gegen mich.«

Da verstand ich, daß dieses besser war als alle Phantasien darüber, was das Leben mir möglicherweise hätte schenken können, im Fall meine Wünsche überhaupt verwirklicht worden wären. Hier hatte ich einen kleinen weiblichen Freund, den mir keine widerstreitenden Leidenschaften rauben konnten, weil ich, in meinem Verhältnis zu ihr, nie fordern, sondern nur glücklich sein würde, daß ich geben durfte.

»Du wirst mich immer lieb haben, Gretchen?« sagte ich »Nicht wahr?«

Sie mußte diesen Ausbruch gerade jetzt verstanden haben, denn sie nickte so ernst, als hätte ich ihr einen Eid abgefordert.

Darauf aßen wir unsere erste Mahlzeit zu zweien, und als sie beendet war, legte ich Gretchen in das große Hotelbett, in dem sie fast verschwand, und ich hielt noch ihre Hand, als sie einschlief.

So still, so feierlich, so reich und warm erschien mir mit einem Male dieses schwere, banale Zimmer mit seinem gewöhnlichen Schmuck und seiner falschen Eleganz, als hätte ich zum erstenmal gefühlt, was ein Heim sei. Ich blieb lange auf, und ich genoß diese Stille und diese Einsamkeit, als hätte ich nie erfahren, was Schmerz sagen wollte. Für das, was gewesen war, hatte ich kein Gefühl. So vieles war inzwischen hinzugekommen, daß es in einer Ferne verschwand, die schon der Erinnerung anzugehören schien. Da träumte ich, daß ich allein in meine alte Straße zurückgekehrt und die Treppen zu meiner früheren Wohnung hinaufgeschlichen sei.

Dort irrten die wunderlichsten Gestalten umher. Krokodile mit Menschengesichtern, Schlangen mit Pferdeköpfen und Frauenhaaren, Hunde mit Katzenaugen, Kühe mit Schweinerüsseln, und Elefanten mit großen Mäulern, die ägyptischen Sphinxen ähnlich sahen. Es war mir, als hätten sich alle diese Ungeheuer hier zusammengefunden, um ein kleines Kind zu verschlingen, und ohne mich um sie zu kümmern, lief ich in den Zimmern umher und suchte das Kind. Es war nicht Gretchen, die ich suchte, es war ein anderes Kind, das dort sein mußte, wie mir schien, das aber nicht zu finden war.

Da erblickte ich plötzlich ein anderes Tier, das ich vorher nicht entdeckt hatte. Es war ein Geier, der an dem Platze saß oder schwebte, wo der Kronleuchter früher gehangen. Ich sah deutlich seinen langen, nackten Hals mit dem Federkranze, und die unergründlichen Augen, die endlose Fernen in sich aufnehmen, starrten mir entgegen. Auf irgendeine Weise verstand ich, daß der Geier das Kind aufgefressen, mit fiebernder Eile rieb ich ein Streichholz an und riß die Gardinen herunter, so daß sie in einem Haufen auf die Erde fielen. Dann entzündete ich ein Feuer, das hoch aufflammte, und während die wilden Tiere im Rauch und in den Flammen verschwanden, brannte ich mein altes Heim zu Asche. Ich stand selbst dabei und sah, wie durch den Rauch der lange Hals einer Giraffe herausguckte. Die unsäglich schmerzerfüllten Augen begegneten den meinen, und zuletzt fühlte ich, daß es die Augen Elisens waren, die mich mit Kummer und Entsetzen fragten:

»Was hast du getan?«

 


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