Wolfram von Eschenbach
Parzival und Titurel
Wolfram von Eschenbach

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§. 25. Albrecht und Kiot.

Wenn aber das Gedicht so spät fiele, so wäre es noch unwahrscheinlicher, daß der Verfaßer Wolframs Quelle, den Kiot, vor sich gehabt hätte. Sollte dessen Werk, das, seine Existenz vorausgesetzt, in Frankreich schon gegen das Ende des zwölften Jahrhunderts verschollen scheint, sich in Deutschland bis tief ins vierzehnte erhalten haben? Setzen wir aber auch den Titurel, wie billig, spätestens in die siebziger Jahre des dreizehnten, so sagt der Verfaßer nirgend ausdrücklich, daß er den Kiot besitze, und doch ist anzunehmen, daß er in seiner Ruhmredigkeit einen großen Lärm darüber geschlagen hätte. Albrecht versichert zwar, er habe die Aventüre ganz; aber das bezieht sich auf den noch fehlenden Schluß, von dem wir schon wißen, daß er von Kiot, d. h. von Wolfram, abweicht. Wenn er sich früher auf Kiot berief, so that er das in Wolframs Namen, es gehörte eben mit zu der Rolle, die er zu spielen übernommen hatte; gewöhnlich geschieht es auch nur bei Dingen, für welche Kiot allerdings (Wolframs angeblicher) Gewährsmann war; bei andern, die der Titureldichter selbst erfunden hatte, mag man diese Berufung für angewöhnte Manier halten.

Entscheidender sind aber die innern Gründe. Wir erfahren aus dem ungeheuer langen Gedicht kaum etwas Neues, fast Alles hat der Dichter aus Andeutungen im Parzival und den echten Titurelstrophen herausgeklaubt, was er mit unendlicher Breite vor uns auskramt: denn wie schon St. Marte bemerkt hat, im Ausbeuten seiner Vorgänger findet dieser Albrecht von Scharffenberg, wie ihn Ulrich Fürterer, mit Anspielung auf sein Verhältnis zu dem Pfalzgrafen nennt, seines Gleichen nicht. Fast das einzige Neue, das er allenfalls aus Kiot entlehnt haben könnte, ist das Geschlechtsregister der Gralskönige von Sennabor bis Titurel, vgl. S. 356: aber das scheint seine eigene dürftige Erfindung: denn nirgend bei Provenzalen, Nordfranzosen oder Britten findet sich die Spur eines dieser Namen wieder. Wo er sonst von Wolfram abweicht oder ihn zu ergänzen scheint, stimmen die Nordfranzosen mit Wolfram (Lachmann XXV), und wo wir Ergänzung wünschten, z. B. bei dem Raub der vierhundert Frauen durch Klinschor, und bei dem Gralsschwerte, das durch den Brunnen von Karnant wieder ganz werden soll, läßt uns Albrecht unbefriedigt, obgleich er allerdings jene Lücken auszufüllen versucht. Wenn nach der Phantasmagorie jenseits des Waßers Siebra, das an Florischanze vorüberfließt, und der Tugendprobe auf der Wunderbrücke, die nur eine Variation der sonst in den Artusromanen vorkommenden Proben mit dem Becher, dem Mantel u. s. w. ist, die vier Königinnen plötzlich verschwunden sind, ohne daß man erfährt wie es damit zugegangen ist, so können uns jene vorgängigen Zaubereien nicht für eine Aufklärung über den Hergang bei jenem letzten Raube des Zauberers gelten. Auch mit dem Gralsschwert ereignet sich nichts, das nicht Wolfram schon angedeutet hätte. Daß es an Eckunat verschenkt wird, und dieser Schionatulanders Tod an Orilus damit rächt, befriedigt unsere Neugierde nicht, und daß es auf Flordiprinze von Flordibale zerbricht, der P. 772 nicht im Verzeichnis der Besiegten vorkommt, erweckt Verdacht. Es ist ein Missverständniss, wenn der Titureldichter das Schwert durch den Segensspruch, den Sigune den Parzival lehrt, wieder ganz werden läßt: denn P. 254, 15 verstand Sigune unter dem Segensspruch, den das Schwert bedürfe, und von dem sie fürchtet, daß ihn Parzival dort gelaßen habe, die unterlaßene Frage, mithin kann er hier nicht aus Kiot geschöpft haben. Im Ganzen darf man von Albrecht sagen, er habe aus Einer Märe zwei gemacht, obgleich er 36, 28 betheuert, daß er das ungern thue. Nun kommt noch hinzu, daß er, um seine Geschichte in die Länge zu ziehen und ein dickes Buch zu füllen, als ob er ellen- oder stückweise Bezahlung hoffte, mit Wolfram, also mit dem angeblichen Kiot, in Widerspruch geräth. Bei der Heftigkeit und Ungeduld, womit Sigune im ältern Titurel auf den Besitz des Brackenseils dringt, wird man nicht erwarten, sie habe dem Geliebten hernach Zeit gegönnt, alle die unnützen Abenteuer zu bestehen, die einen großen Theil des Titurel füllen, und gar ohne Noth zum andern Mal gen Baldach zum Baruch zu fahren. Daß er hier Gachmurets Tod an Ipomidon rächt, ist mit Wolframs Gedicht unvereinbar: denn Sigune würde dann dem Helden bei ihrem ersten Zusammentreffen gewiss gesagt haben, daß der Erschlagene, den sie im Schooße hielt, seines Vaters Tod gerächt habe, da sie ihm ja nicht verschwieg, daß er seinethalben und in der Verteidigung seiner Länder erschlagen worden sei. Von seinen zwölf Begleitern nach dem Morgenlande sind Kailet, Morhold, Friedebrand, Hardeiß und Heuteger schon einmal dort gewesen, und es sieht echter Sage nicht gleich, daß sie allein um den Tod Gachmurets zu rächen, der sie, Kailet ausgenommen, gar nichts angeht, nochmals dahin fahren; nur die äußerste Namennoth konnte dazu bestimmen, auch Orilus Bruder Lähelein, der nach 141, 7 dem Parzival zwei Länder nahm, unter Schionatulanders Mitstreitern aufzuzählen. Daß der Schluß der Aventüre, wo Joseph von Arimathia aus der nordfranzösischen Gestaltung der Sage aufgenommen ist, mit Kiot im Widerspruch steht, ist oben schon angedeutet.

Das Ergebniss wäre demnach: der jüngere Titurel ist spätestens in den ersten siebziger Jahren des dreizehnten Jahrhunderts mit Einschaltung und Ueberarbeitung der beiden Wolframschen Bruchstücke von Albrecht von Scharffenberg gedichtet, der nicht um zu betrügen, sondern um den Eindruck des Werks zu verstärken, den Namen Wolframs gebrauchte, dessen angebliche Quelle aber, den Kiot, nicht kannte, daher er bei Untersuchungen über die Gralssage mit Vorsicht zu benutzen ist.

Der Parzival ist nicht wie der Titurel in Strophen gedichtet, aber etwas Strophenähnliches ergiebt sich daraus, daß gewöhnlich, wenigstens vom fünften Abschnitte an, dreißig Zeilen näher zusammengehören und ein kleines Gemälde für sich bilden. Davon verschieden sind noch die sechszehn größern Abschnitte, in welche das ganze Werk zerfällt. Der Dichter hat sie selbst angeordnet; nur ihre Bezifferung und Benamung, so wie die der beiden Bruchstücke des Titurel, rührt von mir her. Bei der Benamung ging ich nur darauf aus, dem Gedächtnisse zu Hülfe zu kommen, wozu mir Eigennamen am tauglichsten schienen. Freilich ließ sich nicht immer der Hauptinhalt des Abschnitts an einen Namen knüpfen; wenn aber z. B. der letzte Loherangrin heißt, so ist dieser zwar nicht die Hauptperson desselben, so wichtig er auch für die Sage geworden ist, aber dem Gedächtniss bezeichnet sein Name den Schlußabschnitt unfehlbar. Bücher hätte ich diese Abschnitte nicht nennen sollen, weil der Dichter, vielleicht aus einem frühen ritterlichen Haß der Buchmacherei, seine Erzählung kein Buch genannt wißen wollte, da er keinen Buchstaben kenne und sein Gedicht sage, nicht lese wie andere, die das Buch erst vor sich nehmen müsten.

Möge mir der Leser nicht zürnen, daß ich Wolframs Gedichte nicht in eine moderne Form umgegoßen, vielmehr mit Beibehaltung des Versmaßes Zeile für Zeile in unserer Sprache so wiedergegeben habe, wie er sie in der seinigen erfand. Wohl weiß ich, wie viel ich wage, indem ich Werke des dreizehnten Jahrhunderts in ihrer ursprünglichen Gestalt dem neunzehnten biete; aber das Wagniss wäre größer gewesen, wenn ich sie dieser eigentümlichen Gestalt entkleidet hätte: denn schwerlich würde ich ihnen eine dem Inhalt gemäßere geliehen haben. Lange hielt ich selbst eine Uebersetzung des Parzival nach den hier befolgten Grundsätzen, denselben, die mich bei den Nibelungen, dem armen Heinrich, dem Walther von der Vogelweide und seitdem noch bei andern, geleitet haben, nicht für thunlich, ja Andere haben sie geradezu für ein Ding der Unmöglichkeit erklärt, wenn eine genießbare Lectüre zu Tage gefördert werden solle. Ob dieß hier dennoch geschehen ist, darüber muß ich freilich erst das Urtheil der Lesewelt abwarten; fällt es aber wider mich aus, so darf ich doch hoffen, es werde mir zur Entschuldigung gereichen, daß ich einen Dichter wie Wolfram lieber selber reden laßen wollte als seinen Erfindungen meine schwache Stimme leihen. Umdichtungen halte ich nur dann für erlaubt, wenn der neue Dichter dem alten an poetischer Kraft überlegen ist, und so durfte wohl Wolfram den Chrestien, aber nicht K. Simrock den Wolfram umdichten wollen.

Noch mehr als die Uebersetzung bedürfen die Anmerkungen der Nachsicht. Für einen vollständigen Kommentar der Gedichte Wolframs ist die Zeit noch nicht gekommen, nicht einmal das Bedürfnis erwacht. Selbst die Meister vom Stuhle gestehen: »Erklärende Anmerkungen zu Wolframs Gedichten werden freilich auch Kenner wünschen; aber ihnen ist wohl bekannt, was uns noch Alles an Hülfsmitteln und Kenntnissen fehlt um das Nöthige zu leisten.« Erläuterungen einzelner Stellen scheinen aber immer zu der Frage zu berechtigen, warum nicht auch das Nebenstehende erklärt sei, das der Erklärung vielleicht eben so sehr, wo nicht noch mehr bedurft hätte. Sonach wäre es denn allerdings am Besten gewesen, ganz zu schweigen. Wenn ich gleichwohl gegeben habe, was ich hatte, und was mir der Raum mitzutheilen erlaubte, so geschah es nicht ohne Scheu vor der Klippe, dem aufmerksamen Leser, der selten eine Nachhülfe braucht, lästig zu werden. Bei denen, die nur zur Unterhaltung lesen, und es gerne bequemer gehabt hätten, darf ich mich wohl darauf berufen, daß es auch eben keine Annehmlichkeit ist, Noten unter oder hinter dem Texte durchzustöbern, die gewöhnlich nur von der Sache abführen, während die Uebersetzung in sich der kürzeste Kommentar ist, da man nicht richtig und deutlich übersetzen kann ohne Sinn und Meinung der Urschrift wiederzugeben. Endlich wird auch die jedem Abschnitt vorausgeschickte Uebersicht des Inhalts Manches ins Licht zu stellen dienen.


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