Wolfram von Eschenbach
Parzival und Titurel
Wolfram von Eschenbach

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§. 12. Deutung des Gralsmythus.

Nachdem wir uns über den Ursprung des Gralsmythus aufgeklärt haben, dürfen wir uns auch an die Deutung seines mythischen Sinnes wagen. Der schmal zugemeßene Raum gebietet aber Kürze, und so muß ich mich mit Auszügen aus fremden und eigenen Schriften behelfen, die man dort in ihrem Zusammenhang nachlesen mag.

Aus Grimms Myth. 260 ff. ist bekannt, wie im Mittelalter geglaubt wurde, Herodias, die Tochter des Herodes, deren Tanz die Enthauptung des Täufers herbeiführte, sei verwünscht worden in Gesellschaft der bösen teuflischen Geister umzufahren. Wir finden sie an der Spitze des wüthenden Heers und der nächtlichen Hexenfahrten bald neben bald an der Stelle der antiken Diana, der deutschen Holda und Berchta. Wie diese sich mit andern Göttern in die Seelen der Verstorbenen theilen, so wird auch der Herodias, welche der Dichter des Reinardus Pharaildis nennt, der dritte Theil der ganzen Welt oder aller Menschen (»tertia pars hominum«) eingeräumt, wobei die Beziehung auf die Seelen der Hingeschiedenen um so weniger zweifelhaft ist als sonst die Seelen der ungetauft verstorbenen Kinder im Geleite jener deutschen Göttinnen fuhren. Dieselbe Meldung findet sich auch bei der Abundia, die in allen Zügen der Herodias gleichend, auf die deutsche Fulla oder Volla (Merseburger Heilsprüche) zurückgehen mag, wie Pharaildis (mnl. verelde) auf Frau Hilde führt, die aus einem Beinamen der Freyja, als der verborgenen Göttin, erwachsen ist. »Es sind ursprünglich lauter gütige Wesen, deren Erscheinung den Menschen Gedeihen bringt und Ueberfluß (Abundia); daher ihnen (noch in christlicher Zeit) wie befreundeten Geistern, wie Göttern zum Opfer Speise und Trank bei nächtlicher Weile aufgestellt werden.« Myth. 265. Von Herodias oder Pharaildis aber wird erzählt. »sie war in Liebe gegen Johannes entzündet, die er nicht erwiederte; als sie das auf dem Teller getragene Haupt mit Thränen und Küssen bedecken will, weicht es zurück und hebt heftig zu blasen an: die Unselige wird in den leeren Raum getrieben und schwebt ohne Unterlaß, nur von Mitternacht bis zum ersten Hahnkrat sitzt sie trauernd (moesta hera) auf Eichen und Haselstauden.« Die Mischung christlicher Sagen mit heidnischen Mythen ist hier unverkennbar. Was von der an die Spitze des wüthenden Heeres gestellten Herodias erzählt wird, daß Johannes sie blasend durch die Luft jage, ist eine Umkehrung des Mythus von der Freyja, die von Odhur, ihrem Gemahl verlaßen, ihm goldene Thränen nachweint, ja ihn zu suchen zu unbekannten Völkern fährt. Auch von Odhin finden wir umgekehrt erzählt, daß er als Sturmgott, als wilder Jäger die Freyja verfolge. Vgl. mein Handbuch §. 733 b. In Odhr aber ist Odhin verborgen, als dessen Gemahlin demnach Freya erscheint, wie sie sonst nur als seine Geliebte gilt. Unsere Mythen, die in der wilden Jagd nachklingen und nicht anders auch die Mythen der urverwandten Völker, zeigen uns entweder den Tod oder was dasselbe ist, die Flucht des Gottes der schönen Jahreszeit, den seine Gemahlin oder Geliebte aufsucht und betrauert (Handb. §. 733 b); oder der Gott ist es, »welcher der vor ihm fliehenden Göttin nachstellt.« Diese beiden Gestalten des Mythus beziehen sich auf die beiden Hälften des Jahrs, welche durch die Sonnenwenden geschieden sind. Die stürmische Brautwerbung des als Jahresgott gedachten Wuotan-Odhr fällt in die ersten Zwölften (zwischen Weihnachten und Dreikönigstag); in die andern (1.–12. Mai) ihr am 1. Mai (Walpurgisnacht) beginnendes Vermählungsfest: nach kurzer Verbindung in der schönsten Zeit des Jahres stirbt dann Wuotan als Hackelbernd, von dem Hauer des Ebers getroffen, um Johannis (Sommersonnenwende); von da ab weint ihm Freyja goldene Thränen nach oder fährt, den Entflohenen zu suchen, zu unbekannten Völkern. Dieser Jahresmythus war nicht geeignet, in dem Leben des höchsten Götterpaares, das untrennbar verbunden bleiben muste, den Vordergrund zu bilden: man verhüllte seinen Bezug auf diese Götter, indem man statt Odhin (Wuotan) Odhr (Wuot) als den entschwundenen oder gestorbenen Gemahl Freyjas nannte; für Odhins Gemahlin aber nun die Frigg ausgab, sie die der Freyja so identisch ist wie Odhr dem Odhin.« Handb. a. a. O. Die hier in Bezug genommene Sage von Hackelbernd ist Handb. 375 als ein Mythus nachgewiesen, welcher mit dem griechischen von Venus und Adonis, dem egyptischen von Osiris, der dem als Eber erscheinenden Typhon erlag, dem phrygischen von Attys u. s. w. gleichen Inhalt hat. Alle diese Mythen weisen aber auf die Sommersonnenwende, mit deren Eintritt der Gott der lichten Jahreszeit als Baldur vom Pfeil des blinden Hödur, der die lichtarme Jahreshälfte bedeutet, getroffen wird, oder als Hackelbernd, als Adonis, als Osiris u. s. w. am Zahne des Ebers verblutet, als Odhur seiner Gemahlin, der Erdgöttin, entschwindet, die ihn vergebens bei allen Völkern sucht und zwischen Mitternacht und dem ersten Hahnenkrat goldene Thränen um ihn vergießt. Wirklich findet sich auch gemeldet, daß der wilde Jäger in den Sommernächten, namentlich um Johannis, jage. Die Vergleichung läßt sich noch weiter fortsetzen. Bei den Griechen erscheint Orion als wilder Jäger, seine Geliebte ist bald Artemis, bald Eos. Von einem Scorpion in den Knöchel gestochen, stirbt Orion wie Hackelbernd, von Eos betrauert, die jeden Morgen, bevor sie ihren Tageslauf begann, Thränen der Sehnsucht um ihn weint, die wie Diamanten glänzen. »Diese diamantenen Thränen sind der Thau, und so laßen sich auch Freyjas goldene Thränen deuten.« Handb. a. a. O. Es wird aber auch erzählt, daß aus dem Blute des vom Eber verwundeten Hackelbernd im nächsten Jahre Blumen sproßten (Myth. 899): aus dem des Adonis, der ihm so ähnlich ist, sproß die Anemone, aus dem des Attys das Veilchen. Von Baldurs Blut ist nichts dergleichen berichtet; da aber Johannes der Täufer seine Stelle im Kalender einnahm, und das im Mittelalter so sorgfältig gesammelte und für heilkräftig gehaltene Johanniskraut auch Johannisblut heißt (Abergl. 457), so fehlte wohl auch bei ihm dieser Zug nicht. Ueberall ist dem Blute des sterbenden Gottes wunderbare Kraft beigelegt. Handb. a. a. O. Schon der Name Abundia (deutsch Fulla oder Volla) deutet auf die Fülle der irdischen Güter, die jenem Blut entspringt. – Ich war genöthigt, aus Stellen in Grimms Mythologie und meinem Handbuch Mosaik zu machen: es ergiebt sich daraus zugleich, wie nahe man schon früher dem Verständniss des Gralsmythus gekommen war. Wie in allen jenen Mythen dem Blute des sterbenden Gottes schöpferische Kraft beiwohnt, so geht Leben, Fülle und Ueberfluß von der Schüßel aus, auf der das Haupt des Johannes lag. Wie aber in dem Mythus von Kwasir, aus dessen Blut der Unsterblichkeitstrank der Götter, der Begeisterungstrank der Dichter gebraut wird, noch einmal derselbe Gedanke wiederkehrt und demnach der unvollständig erhaltene Mythus von Odhr aus dem Kwasirs zu ergänzen ist, das muß ich dem Leser überlaßen Handb. §. 76 nachzusehen.


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