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Pfingstmontag am Abend kommt der blaue Guguck von einem weiten Weg, den er durch die Stadt gemacht, heim und bringt sich zwei Freunde mit, den Webstuhlmechaniker Schweibenroider und den Appreteur Woitech.
»Hol einen Wein, Wettl!« sagt er ernst, »wir müssen uns stärken!«
»Um Gotteswillen,« denkt sie, »ist es schon wieder schief gegangen –?« Traut sich aber nicht zu fragen.
Wie der Wein da ist, heben die drei Männer ihre Gläser und stoßen bescheiden an und schauen sich ganz bekümmert und traurig in die Augen dabei. Und der Guguck sagt feierlich, aber mit gedämpfter Stimme, so als ob ihm jedes laute Wort weh täte: »Der Kaiser soll leben! Und der Erzherzog Karl auch!«
»Wenn nur der Lebold auch lebt,« denkt die Wettl.
Inzwischen kommt auch noch der Reckenschuß an. Sie begrüßen ihn schweigend und bleiben stumm vor ihren Gläsern sitzen. Ob sie Nachricht hätten, wie es stehe? fragt er zag, ihre Niedergedrücktheit für ein schlimmes Zeichen nehmend.
Gut stünd' es! Ein fürchterliches Gedräng', heißt es, sei auf der Lobau. Der Napoleon geworfen und samt seiner Armee auf der Flucht nach dem rechten Donauufer zurück! Der Fluß hoch angeschwollen, die Brücken bedroht, der Erzherzog Generalissimus vermutlich hinter den Fliehenden drein!
»Und das erzählt ihr mit solchen Leichenbittergesichtern?«
Alle drei Männer seufzten und stützten die Stirn in die Hand.
»Wenn du gesehen hättest,« sagte der Guguck, »was wir gesehen haben: Die armen, armen Verwundeten alle, die die Franzosen von der Lobau und von Kaiserebersdorf her in die Stadt hereinschaffen!«
»Ja, werden denn die Franzosen jetzt, wo sie geschlagen sind, Wien nicht aufgeben müssen?« fragte Reckenschuß.
»Wien brauchen sie deswegen noch nicht aufzugeben,« meinte der rote Igel; »denn aufs rechte Donauufer wird ihnen der Erzherzog Karl so leicht nicht nachkommen. Sicher ist jedenfalls, daß ihre Blessierten und auch viele Österreicher darunter, die verwundet in ihre Hände gefallen sind, nach Wien hereingeschafft werden. Auf der Landstraße und am Rennweg haben wir die blutigen Transportkolonnen gesehen – es ist doch etwas Schreckliches, so ein Krieg!«
»Alle Fuhrwerke sind aufgeboten aus Stadt und Land,« erzählte Schweibenroider, »ein endloser Zug von Leiter- und Zeiselwagen, Kaleschen und Bauernfuhrwerken, kurz von allem, was Räder hat! Und auf blutigem Stroh liegen die Verwundeten und Verstümmelten gebettet, halb verschmachtet, schreiend vor Schmerz, viele, die vielleicht schon tot sind, mit geschlossenen Augen, alles bunt durcheinander, Offiziere und Gemeine, Franzosen und Österreicher, wie man die armen Kerle halt auf dem Schlachtfeld zusammengeklaubt und in der Eil' auf die Wägen geschmissen hat!«
Die Thür ging auf, der Pimperonkel und Thomas traten ein. Auch sie waren ergriffen; auch sie hatten die langen Wagenreihen gesehen, die Tausende und Tausende von Schwerverwundeten in die Stadt schafften, auch ihnen hatte der schreckliche Anblick die Freude am Sieg der österreichischen Waffen, an dem man kaum mehr zweifeln konnte, getrübt und gedämpft.
»So lang ich leb', hab' ich so was Grauenvolles nicht gesehen!« sagte der englische Lord. »Von der St. Marcuslinie bis aufs Glacis herein eine einzige Straße von Blut, wie es von den Fuhrwerken heruntertröpfelt!«
»Es muß eine mörderische Schlacht gewesen sein!« meinte Thomas, indem er bekümmert an Lebold dachte.
»Ich bin froh, daß mir die Parlezvous gleich im Anfang meine Hakenbüchse weggenommen haben!« sagte der Guguck mit wackliger Stimme. »Beim ersten Tropfen Blut, den ich gesehen hätt', wär' mir das Gewehr ohnedies aus der Hand gefallen. Heut' spür' ich es deutlich: zum Soldaten taug' ich wirklich nicht! Mir wird noch jetzt ganz schwach, wenn ich an das viele Blut denk'!«
Er leerte sein Glas und schenkte wieder ein. Auch der Schweibenroider trank sich eifrig Stärkung, und die rote Latern' in seinem wohlgenährten Gesicht fing an festlich zu leuchten. Der rote Igel gestand, daß er einen Sieg der Österreicher für ausgeschlossen gehalten habe. Früh am Morgen sei er auf die Roteturm-Bastei gegangen, um zu spähen, und dabei habe er französische Panzerreiter über den Stephansplatz gegen das Schlachtfeld ziehen sehen, wohl an die drei oder vier Regimenter. Der Boden habe unter ihrem stählernen Gerassel erzittert, ihm aber sei bei ihrem Anblick jede Hoffnung geschwunden.
»Und jetzt sind sie alle hin!« rief der Pimperonkel.
Woher er das wisse? fragte Woitech.
»Fast bis auf den letzten Mann sollen sie aufgerieben sein!« sagte der Pimperonkel. Er habe eine Feldflasche mitgehabt, um sich nicht ganz als überflüssiger Gaffer zu fühlen, und auf dem Rennweg einen verwundeten französischen Offizier gelabt; von dem wisse er es.
Der Wein begann allgemach die betrübten Herzen zu trösten und die schreckensstarren Gemüter aufzutauen. Die düsteren Bilder, die sie in sich aufgenommen hatten, verblaßten nach und nach, und sie fingen an, sich auch ein wenig zu freuen. Schließlich war es doch ein Sieg, wenn auch ein blutiger! Der erste Sieg, der über den Korsen errungen worden war! Es wollte ihnen noch immer gar nicht recht eingehen: Der Napoleon geschlagen! Der Napoleon auf der Flucht! Abermals hoben sie ihre Gläser: »Der Kaiser! Der Erzherzog Karl!« Sie tranken bewegt.
»Und unser gutes, altes Österreich!« sagte der Guguck. Die Gläser klangen aneinander. Dem Guguck liefen die Tränen über die Wangen herunter. »Alsdann, sind die Parlezvous halt endlich doch gestolpert, wenn auch nicht gerade über den Kuruzzenwall!«
»Über die Friedhofsmauer von Aspern sollen sie gestolpert sein,« sagte Schweibenroider eifrig. Er war stolz auf seinen Landwehrmann. »Um die Friedhofsmauer von Aspern, heißt es, hätten die aufgekrempten Hüte sich wie die Löwen gerauft und das Dorf schließlich auch genommen! Wackere Burschen!« – Befriedigt, seinen Anteil am Siege festgestellt zu haben, lehnte er sich in seinen Sessel zurück.
Der rote Igel schenkte ein leeres Glas voll, das noch auf dem Tische stand.
»Fräulein Wetti, wollen Sie nicht einen Augenblick hereinkommen?«
Sie hatte sich nebenan im Magazin zu schaffen gemacht, um allein zu bleiben, und von dort mit angehört, was in der Stube gesprochen wurde. Auch sie konnte des Sieges nicht recht froh werden, immer mußte sie an Lebold denken. Jetzt trat sie ein, bleich, verstört, mit zusammengepreßten Lippen.
»Sie müssen mit mir anstoßen!« rief der alte Woitech. »Der Erzherzog Generalissimus hat es Ihnen nachgemacht und der ganzen Welt gezeigt, wie man den Franzosen jagt!«
Sie dankte, nahm das Glas und stieß an.
»Ich hab' wohl kein Verdienst dabei,« sagte sie und versuchte zu lächeln.
Man hörte jemanden die Treppe heraufpoltern, mit einem Lärm, als käme ein halbes Regiment an. Das könne niemand anderer als die stille Andacht sein, meinten alle. Und richtig, gleich darauf donnerte der Mestrozzi zur Tür herein. Wettl ergriff die Gelegenheit, sich unauffällig wieder zurückzuziehen. Thomas folgte ihr, sie plauderten eine Weile miteinander, und er war in allem, was er sagte, so behutsam und schonend, und wenn er ihr auch nichts helfen konnte, es tat ihr doch wohl, weil sie seine herzensgute Absicht fühlte. Wie es jetzt mit Fany stehe? fragte sie. Ein rechter Patsch sei er gewesen, bekannte er; ein richtiger ungläubiger Thomas! Aber jetzt habe ihm die Not den Star gestochen. Ein wahres Glück sei der Verlust des Vermögens und die Kriegsplage für ihn geworden. Eine solche Freud' am Leben wie jetzt, habe er noch nie gehabt.
»Und wenn nun auch noch die Franzosen zum Teufel gejagt werden und das Geschäft wieder zu gehen anfängt, so bleibt mir überhaupt nichts mehr zu wünschen übrig. Ich mein' immer,« sagte er, »dir wird auch noch alles zum Guten geraten, Wettl!«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie nahm sich zusammen und fragte, ob er denn von Schackerl noch etwas vernommen habe? Thomas wußte nicht viel von ihm. Seit jenem Abend, wo Fany vor ihm geflohen, habe Schackerl nichts mehr von sich hören lassen. Er würde sich wohl ein anderes Quartier gesucht haben, meinte er lächelnd. Inzwischen habe Schackerl die Stadt vermutlich wieder verlassen, da das württembergische Kontingent, so viel er in Erfahrung gebracht, gegen Ungarn oder Innerösterreich vorgeschoben worden sei.
»Für uns wird dieser interessante und vorurteilslose Held,« sagte Thomas sehr behaglich, »wahrscheinlich für alle Zukunft ebenso verschollen bleiben, wie er es die letzten Jahre gewesen.«
»Und niemand wird es bedauern,« sagte Wettl. »Nicht einmal der alte Herr Tollrian.« Sie seufzte. »Mir tut's weh, daß aus einem Menschen, der halb und halb ein Kind vom Guguckshaus war, ein solcher Windbeutel geworden ist.«
Nebenan wurde es jetzt sehr lärmend. Sie hörten, daß eine patriotische Tischrede gehalten wurde, die mit einem dröhnenden »Evviva!« endete. Der Mestrozzi hatte es übernommen, den gebührenden Siegesjubel in Szene zu setzen. Der fröhliche Festlärm tat Wettl im Herzen weh. Thomas fühlte es, obgleich sie nichts sagte. Er kehrte in die Stube zurück und ließ es sich angelegen sein, zum Aufbruch zu mahnen. Freilich dauerte es eine Weile, bis seine Bemühungen von Erfolg gekrönt wurden. Aber schließlich drang er durch. Wettl war ihm dankbar und froh, als das aus dem Stegreif veranstaltete kleine Siegesgelage abgebrochen wurde und die Herren sich endlich entfernten, die meisten ein wenig angeheitert und fast überzeugt, sie selbst hätten den Napoleon geschlagen.
Am andern Morgen wog die Wettl eben auf der großen kupfernen Wage die schönen roten, blauen und grünen Seidensträhne nach, die der Färber Kitzinger geliefert hatte, da fegte die Nähterin Lois ins Magazin und rief schon an der Tür: »Die Nadel ist heraus!«
Die Wettl ist ordentlich zusammengefahren bei dem unerwarteten Anruf und kennt sich erst gar nicht aus, aber die Lois läßt sich nicht lange fragen. Der Lebold wär' zurückgekommen, verwundet zwar, aber nicht lebensgefährlich!
Die Hand auf dem Herzen starrt die Wettl sie an und nimmt ihr mit den Augen jedes Wort von den Lippen. Wo er denn läge?
Zu Hause, in der Kaiserstraße, im groben Schrollhaus! Wegen Überfüllung der Spitäler hab' man ihn gern in die häusliche Pflege übergeben, zumal die Franzosen behaupteten, es gäb' keine Landwehr mehr, der Napoleon hätt' sie aufgelöst.
»Und denk sie sich, Jungfer Wettl, in einem Kreinzenwagen hat er gelegen, mit einem wächsernen Gesicht wie ein Toter, unter einem ganzen Haufen von blessierten Franzosen, wie man halt so auf dem Schlachtfeld alles, was sich noch ein bissel gerührt hat, aufgeklaubt und drunter und drüber auf die Fuhrwerke verladen hat. So haben sie ihn bei der St. Marcuslinie hereingefahren, und der alte Schroll geht wie viele andere auf den Rennweg hinaus, den Zug anschauen, und sieht auf einmal auf dem blutigen Stroh seinen Lebold! Der war aber gerade bewußtlos geworden.«
Wettl fühlte noch nicht genau so, als ob die Nadel wirklich schon ganz heraus wär'. Ob er denn schwer blessiert sei? fragte sie bebend.
»In die Schulter hat er eine blaue Bohne gekriegt, eine französische. Noch diese Nacht hat der Chirurgus sie herausgezogen. Und das erste war, wie er wieder zu sich kommt, daß er den Wundarzt fragt, ob er denn die Triebstange noch werde regieren können? Der aber lacht und sagt, um ein bissel geschickter hätte der Franzos schießen müssen, wenn er den Lyoner Seidenwebern hätt' einen Konkurrenten vom Leib schaffen wollen.«
Der Guguck trat ins Magazin, der spannte gleich, daß etwas los war, und ließ sich berichten.
»Na alsdann,« rief er behaglich, »was hab' ich denn gesagt? Das hab' ich mir doch gleich gedacht: einen so Wackeren läßt unser Herrgott doch nicht umkommen!«
Was denn der alte Schroll dazu sage? wollte er wissen.
Ja, der! Hinter dem Blessiertenwagen sei er hergegangen bis zum großen Militärkrankenhaus, wo sie den Lebold abluden. Dort hab' er mit den Behörden alles ins Reine gebracht und dann in die Kaiserstraße Botschaft an die Schrollin gesendet, daß sie eine Gelegenheit nehmen und den Lebold abholen sollt'. Sie hab' es auch gleich getan, und wie sie mit sieben Schwertern in der Brust in den Hof des Spitalgebäudes tritt ...
»Was glauben Sie, Herr von Kebach,« rief die Lois begeistert, »was da gewesen ist? Den groben Schroll sieht sie neben seinem Sohne an der Erde knien, wo man ihn mit vielen anderen Blessierten einstweilen gebettet hatte! Der Lebold war noch immer nicht zu sich gekommen, und die Mutter hat keinen Gedanken gehabt, als wie sie ihn laben könnt'. Erst nachträglich, wie sie ihn endlich zu Haus in seinem Bett und geborgen weiß, da fällt es ihr ein, daß der Alte wirklich vor seinem Buben gekniet war, wie sie einst vorhergesagt, daß Gott es lenken könnt'. Und jetzt hat sie sich daran erinnert, wie der Schroll damals gesagt hat: ja, wenn es wirklich so käme, dann könnt' von ihm aus alles wieder gut sein.«
Also erzählte es die Lois, und also hatte es sich auch zugetragen. In Wettls Herzen war die Sonne aufgegangen und auf ihrem Antlitz auch. Als die Lois sich entfernt hatte, da fiel sie ihrem Vater um den Hals, und der ließ sich recht gern liebkosen und meinte nur, eigentlich käm' er unverdienterweis zu diesen guten Busseln, aber er wolle sich einmal einbilden, er stehe hier an Stelle des lieben Gottes, der das Schicksal mache, und streiche an seinerstatt den Dank eines glückseligen Menschenkindes ein.
»Aber wenn du vielleicht glaubst, Wettl,« sagte er schließlich, »daß jetzt auf einmal alles gut sein wird zwischen dem Lebold und seinem Vater, so bist du auf dem Holzweg. Denn was ein Schroll ist, bleibt sein Lebtag ein Schroll, und was ein richtiger Bandmacher ist, sein Lebtag ein Bandmacher. Und der aus der Kaiserstraße, der schaut mir schon gar nicht danach aus, als ob er leicht anders werden könnt', als er einmal ist.«
Der Guguck hatte keinen schlechten Blick bewiesen. Zwar verzieh der Schroll seinem Sohne und zürnte ihm nicht länger; aber als Lebold sich auf dem Wege der Besserung befand und das Gespräch einmal darauf kam, erklärte er ihm, in sein Geschäft könne er ihn nicht mehr nehmen, das habe er schon vorher gesagt. Wer sich einmal beim Soldatengesindel herumgetrieben, der tauge nichts mehr zu einem bürgerlichen Gewerbe, der Lebold mög' sich etwas andres suchen, es gebe Berufe genug. Die Mutter erhob Vorstellungen und erinnerte daran, wie sie ihren Mann im Hofe des Militärkrankenhauses gefunden habe, vor dem Lebold kniend. Aber er gab es nicht zu, vor dem Lebold gekniet zu haben, nur neben ihm sei er gekniet, um ihm behilflich zu sein, da er verwundet gewesen. Und als sie noch einen Einwand machen wollte, da schnitt er ihr das Wort ab: Er sei der »Vatter« und habe seine Entscheidung getroffen, und jeder im Haus habe zu schweigen, wenn er einmal entschieden habe. Und kurz und gut, es bleibe dabei, und er habe noch andere Buben, die könne er nicht benachteiligen zugunsten eines solchen, der an seiner Bandmühl' nur so lang ausharre, als es ihn gerade freue, und dann auf einmal wieder mit Säbel und Schießprügel umherlaufe.
»Ganz im Guten übrigens, und nicht als ob ich bös auf ihn wär'!« setzte er hinzu, indem er sich heftig mit allen fünf Fingern durch das silberweiße Haar fuhr. »Schlecht ist der Lebold nicht geworden unter dem Soldatenvolk, so viel seh' ich schon. Mein Bub bleibt er, und ich hab' ihn gern. Aber mein Geschäft hab' ich auch gern. Es ist mindestens so viel wert als die ganze Soldatenspielerei, und beim Militär nehmen sie auch keinen, der ihnen einmal davongelaufen ist.«
Mit dieser Entscheidung mußte es sein Bewenden haben.