Emil Ertl
Die Leute vom Blauen Guguckshaus
Emil Ertl

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Indessen hatte der Webstuhldoktor in Begleitung des Salzküfels und des Gugucks sich in das Stockwerk hinauf begeben, um dem kranken Scherrahmen den Puls zu fühlen. Sie waren nicht durch die Wohnung gegangen, sondern hatten die Gesellentreppe benutzt und traten zuerst in einen der Säle, wo gewebt wurde. Da standen die Webstühle in zwei Reihen hintereinander, brave, gutwillige Ungetüme aus Pfosten und festgefügten hölzernen Gestellteilen, mit Eingeweiden und Nerven von schlankerem Lattenwerk und ungezählten gleichlaufenden, zwischen einander durchgreifenden Bindfäden, daß man in die offenen Mäuler riesiger Walfische hineinzublicken glaubte. Langsam und bedächtig bewegten sie ihre großen, ungefügen Glieder, nicht mit dem schnell verpuffenden Eifer der flotten Draufgänger, aber mit der zähen Stetigkeit der Ausdauernden und Zuverlässigen. Wie kluge Ackergäule etwa, die einen gewaltig schweren Anger umzubrechen haben und wohl wissen, daß sie ihre Muskelkraft zu Rate halten müssen, wollen sie die ganze Arbeit ehrlich leisten und nicht im halben Werk erlahmen. Aber was es hier zu bepflügen gab, war nicht die feuchte, klobige Erde. Es waren breite, in allen Farben schimmernde Ströme, aus tausend und abertausend zarten Fäden des Seidenspinners zusammengesetzt. Glatt gespannt liefen sie in wagrechter Richtung bis unter das Rietblatt und die Schäfte, wo sie durch das Treten der Weber und das Auf- und Niederziehen der Litzen in ein Fach gespalten wurden. Und durch dieses flog, mit der Hand oder mit einer an der Weberlade angebrachten Schnellvorrichtung geschleudert, wie ein Pfeil die Schütze, her und hin, hin und her.

Unwillkürlich blieb Schweibenroider stehen. Wie der Arzt, der immer nur Krankheitserscheinungen festzustellen oder den toten Körper zu sezieren hat, freute er sich, einmal das gesunde Leben vor sich zu sehen und seinen Patienten, die er alle einmal wegen schwererer oder leichterer Gebrechen in der Behandlung gehabt hatte, bei ihrer normalen, regelrechten Tätigkeit zuzuschauen.

Aber wenn Kebach einmal den Doktor im Haus hatte, wollte er ihn auch ausnutzen. Zum Herumstehen und Schauen brauchte er keinen. Und da bei einem der Stühle am Sperrad oder am Sperrkegel, die dazu dienten, das fertiggewebte Zeug ohne Verlust der Kettenspannung auf den Zeugbaum aufzuwinden, sich neulich eine kleine Unregelmäßigkeit gezeigt hatte, so konsultierte er ihn.

»Du, sei so gut, da könntest auch gleich nachschauen, weil du schon da bist, gelt? Unlängst erst war Porziunkula, da geht das Beichten und Schnürriemenkaufen schon in einem hin, sagt man.«

»Porziunkula ist schon lange vorüber,« brummt der Mechaniker verdrossen, machte sich aber doch an dem Rade zu schaffen. Es sei nichts weiter, sagte er, nachdem er es untersucht und die Diagnose gestellt hatte. Er werde einen Gehilfen mit einer Feile schicken, dann würde alles wieder in Ordnung sein.

Eine hellgrün schillernde Seidenkette zog seinen Blick auf sich. Es war, als ob der Mondschein über einer taufeuchten Frühlingswiese läge. Er bewunderte die Farbe und das herrliche Material.

Kebach freute sich. Er vergaß jetzt, daß es der Webstuhldoktor war, mit dem er redete. Wenn einer es zu würdigen wußte, was da bei ihm Schönes gemacht wurde, so ging ihm das Herz auf. War doch jedes Stück auf jedem Stuhl sein Werk, über das er ernst nachgedacht, für das er nach langem Wählen die Organsinseide zur Kette und die Tramseide zum Einschlag ausgesucht, unter hundert Zweifeln die Farben angegeben, nach sorgfältiger Berechnung die Fadenzahl, die Dichte des Rietes und die ganze Struktur bestimmt hatte. Er hatte eine Freude an seiner Arbeit und an seinen Stoffen, weil seine Kenntnisse und Erfahrungen, seine Gedanken, seine Sorgen, seine Liebe darin steckten. Es ging ihm nicht bloß um den Gewinn. Wenn er auf einmal ein ganzes Vermögen geerbt hätte, so hätte er deswegen nicht aufgehört Zeugmacher zu sein.

»Aber den Stoff mußt du dir erst ansehen!« sagte er mit blitzenden Augen. »Du, da wirst schauen!«

Er hieß den Arbeiter aufstehen und öffnete den unten angebrachten Schrank, wo das eben erst aus der Hand des Webers hervorgegangene fertige Stück des Stoffes, vom Brustbaum bis zum Stoffbaum hinunter ausgespannt, in mildem Glanze schimmerte.

»Das ist ein Flandrischer,« sagte er. »Vor dem muß man den Hut herunternehmen. So einen sieht man nicht alle Tag'!«

Auch der Salzküfel, der sonst nicht leicht etwas gelten ließ, lobte den Stoff. Er faßte den Schweibenroider am Arm und strengte seine Stimme an, weil er sich mit seinen faltigen, eingesunkenen Wangen und zahnlosen Kiefern nicht leicht verständlich machen konnte, in dem Klappern und Pochen und Lärmen, mit dem die braven Webstühle die Luft erfüllten.

»So einen Flandrischen, genau einen solchen, hab' ich gewebt vor fünfundvierzig Jahren! Da hat die gütige Landesmutter, die Kaiserin Marie Therese, den kaiserlichen Prinzessinnen Kleider davon machen lassen. Und nachfragen hat sie sogar lassen, wer den Stoff gemacht hätt'? No, und da ist ihr halt gesagt worden: Der Salzküfel.«

Er lachte mit kindischer Freude und streichelte mit seiner dürren Knochenhand das Haupt Diwrisls, der auch mitgekommen war und sich immer vertraulich an die mageren Waden seines Herrn drückte.

Schweibenroider war gutmütig genug zu staunen und sich gehörig zu verwundern, obwohl er meinte, diese Geschichte von der Maria Theresia schon öfters gehört zu haben.

»Vor fünfundvierzig Jahren?« sagte er, als ob er es gar nicht glauben könnte, daß man damals schon einen solchen Stoff gemacht habe.

»Aber es sind nicht mehr viele,« sagte der Salzküfel mit einer verächtlichen Grimasse, daß sein Gesicht fast einer gedörrten Birne glich, »es sind nicht mehr viele, heutzutag', die so einen Stoff noch machen können!«

Der Guguck schloß den Stoffbaum wieder ein.

»Das ist ein Saftgrün, das aus unreifen Kreuzdornbeeren bereitet wird,« sagte er. »Essen möcht' ich sie nicht; wenn man ein Loch im Strumpf hätt', tät's es einem zusammenziehen. Aber wie manches, was es gibt, ist doch von Nutzen an seinem richtigen Platz, wenn man es nicht falsch verwendet.«

Sie traten an den nächsten Stuhl, da wollte Kebach wieder das schon fertige Gewebe zeigen. Aber der Geselle Schnaus, der da arbeitete, brummte und sagte, er könne jetzt nicht aufstehn, er sei gerade im richtigen Zuge. Da ärgerte sich der Guguck, ließ ihn aber sitzen und ging weiter. Der Schnaus wollte zeigen, daß er auch sein Recht habe, und trat so heftig auf den Schemel, daß ein ganzer Gang Fäden abriß. Nun konnte er eine Stunde knüpfen und andrehen. Kebach freute sich im stillen und stieß den Großvater mit dem Ellbogen an, und der verstand ihn sogleich und zwinkerte mit den Augen und hatte auch seine kleine Schadenfreude.

»Wenn er nicht ein so tüchtiger Arbeiter wär',« brummte der Guguck, »so hätt' er längst seine sieben Zwetschen zusammenpacken können.«

Er führte den Mechaniker jetzt auf der anderen Seite des Saales umher und machte ihn immer auf die Art und den Charakter des Gewebes und die Schönheit der Farben aufmerksam. Von Stuhl zu Stuhl ließ er überall den Schrank auftun, in den die schöne Seide, nachdem sie erst als gespannte Kette glatt und sanft herangeflossen war, nach dem Verweben wie ein majestätischer Wasserfall hinunterrauschte. Da waren schwere geköperte Zeuge und leichtere, leinwandartige Gewebe und duftiges Dünntuch und spröde Tafte und mollige Levantines und Foulards und sammetweiche Atlasse mit glattem, leuchtendem Spiegel. Und die verschiedenen Farben in Verbindung mit der Verschiedenartigkeit des Seidenmaterials und seiner Zwirnung und der ebenso abwechslungsreichen Art der Verwebung ermöglichten den Stoffen eine solche Mannigfaltigkeit der Wirkungen, daß der Beschauer sich an den Reichtum und die Fülle gemahnt sehen mußte, mit denen die Eindrücke der Natur uns umgeben. Bald glaubte man in den sanften, tiefdunklen Nachthimmel hineinzublicken, bald auf das weiche, sonnbeglänzte Meer, bald auf frisch umgebrochene saftigbraune Ackererde, bald in die Glut der Abendröte, oder in die zarten Laubschleier des Ölbaumes, oder in das freudige Gelb des strahlenden Morgens, oder auf goldige Herbstwälder, oder auf kühle Alpmatten, oder auf Schnee, oder in milde blaue Augen.

Im zweiten Saale, da kamen erst die Stühle für die gemusterten Zeuge. Für die einfacheren Muster genügten noch die Tritte und Schemel, die sich jetzt verdoppelten, verdreifachten, verzehnfachten, so daß der Weber wie auf einem Spinett spielte, aber mit den Füßen. Für die schwierigsten Musterungen jedoch waren ein paar riesige Handzugstühle da, die reckten gar Fangarme aus wie Seepolypen und sogen sich mit Strängen und Korden an der Wand fest, und von diesen Korden hing wieder ein ganzes Heer von Schnüren herab, an denen Handhaben befestigt waren. Und an diesen Schnüren standen Lehrbuben und zogen daran, so als ob sie Kirchenglocken läuteten oder am Brunnen pumpten, aber nicht willkürlich, sondern unter Einhaltung einer genauen Reihenfolge. Und jeder Zug pflanzte sich durch ein Übertragungswerk von Stricken und Rollen bis in die innersten Eingeweide der Webstühle fort und hob dort, genau so wie es die Musterung forderte, die entsprechenden Schäfte oder Litzen empor, an denen die Kettfäden befestigt waren, und jedesmal, wenn das Fach in der Kette sich auftat, schoß der Weber seine Schütze durch und schlug die eingetragenen Fäden mit der Weberlade fest.

Da waren also jetzt die ganz besonders herrlichen Sachen zu sehen, die damastähnlichen Seidenzeuge, die in Muster und Grund verschiedenartig geköpert waren, die ein- oder mehrfarbig gemusterten Gewebe auf gleichfarbigem oder verschiedenfarbigem Grund, solche mit durchlaufenden Figurschußfäden und broschierte, wo jede Figur ihre eigene Schütze und mehrfarbige Figuren sogar deren mehrere hatten. Wie ein Kind sich freuend, zeigte der Guguck dem Mechaniker diese ganze Welt von Pracht und Glanz und Schönheit, die er hier wie ein Schöpfer aus dem unscheinbaren Gespinste eines Wurmes erstehen ließ. Er zeigte ihm die zarten Tüpfelchen und Streifchen in beuteltuchartigen oder dichten, butterlinden Geweben, die ganz aus weicher, sorgfältig entschälter Seide hergestellt wurden, er zeigte ihm die blumigen Sommerwiesen und die wie mit Flügelstaub von Schmetterlingen überstreuten Wasserspiegel, die Gärten, in denen Lilien und Rosen blüten, die dunklen Haine, in denen Blutorangen glühten, die sternübersäten Himmel, den Frühling, der Kirschbaumblüten schneit, und den Herbst, der unermüdlich ist, die zartesten Übergänge vom jubelnden Gelb bis zum klangreichen Braun ausfindig zu machen.

Dazwischen warf Kebach dem Werksgesellen Vincenz, der am großen Kegelzugstuhl saß, von Zeit zu Zeit einen ernsten Blick zu, weil er ihn vorhin im Hofe gefunden hatte, mitten während der Arbeitszeit. Sagen wollte er gerade nichts, weil das Herzeigen der Stoffe ihn in gute Stimmung versetzt hatte; aber einen schmunzelnden Mund gab's heute für den Vincenz nicht – wo käme man hin, wollte man nicht auf Ordnung sehen! Und der Vincenz war schon mit dem kalten Blick allein auch zufrieden, mehr brauchte er gar nicht, um die Meinung des Meisters zu verstehen. Er wob mit verdoppeltem Eifer darauf los und seufzte hie und da ein wenig dazwischen, und wenn der Kegelzieherbub einen Fehler machte und seine Branchen in falscher Reihenfolge zog, so herrschte er ihn nicht an wie gewöhnlich, sondern verwies es ihm milde und in einem mehr traurigen als zornigen Tone, weil nichts uns gegen unsere Mitmenschen so nachsichtig macht als das Bewußtsein der eigenen Sündhaftigkeit. Und als der Meister sich mit dem Salzküfel und dem Mechaniker aus dem Saale wieder entfernt hatte, da ergriff er das Seidenzänglein das dazu diente, Knoten und kleine Unreinheiten aus der Webe zu entfernen, und ritzte in den Pfosten seines Stuhlgestells, wo der Name Vincenz Einberger in Kurrentschrift und darunter abermals der Name Vincenz Einberger in Lateinschrift eingegraben stand, noch das Datum des Tages dazu, an dem der Meister keinen freundlichen Blick für ihn gehabt hatte, als dauerndes Memento für alle Zukunft und eindringliches Warnungszeichen vor dem Sprüngemachen.

Dem Schweibenroider fiel es ein, als sie in den dritten Saal kamen, warum er eigentlich da war. Denn gleich beim Eintreten sah er am unteren Ende ein paar Zettelrahmen mit ihren weiten Lattenbäuchen langsam und mit der Besonnenheit, die dem Geschlechte der Zettelrahmen eigen ist, sich um ihre Achse drehen; einer aber stand still. In traurige Gedanken verloren stand er da, leer und nackt wie der ärmste Bettler, während seine Genossen alle wunderschöne Kleider aus farbiger Seide trugen, die in großen Schraubenwindungen um ihre Leiber gewickelt wurde. Und der arme, über die Achsel angesehene Zettelrahmen, um den sich niemand kümmerte, und den keiner für würdig hielt, ein seidenes Gewand zu tragen wie die andern, schien zu frieren, mit seinen unbekleideten dürren Rippen, wie ein winterlich kahler Baum, und man sah, es tat ihm in der Seele weh, daß er an dem gewohnten Menuett der Zettelrahmen nicht teilnehmen durfte, und daß man im ganzen Hause über ihn munkelte, und daß alle meinten, es sei nicht viel an ihm, und er könne nicht schön tanzen. Aber er wußte, daß er besser tanzen konnte als mancher andere, und wartete ernst und still seine Zeit ab, bis die Leute endlich darauf kommen würden, wie gut er tanzen könne, und was sie an ihm hätten.

»Dort seh' ich ihn schon, meinen Schweifrahmen, der angeblich nichts taugen tut!« sagte Schweibenroider. »Schlecht habt ihr ihn behandelt, den armen Kerl! Aber wartet, der wird noch zu Ehren kommen!«

Die Haspeln warfen ihre spinnendünnen Arme im Kreise herum, als wollten sie ihn festhalten, weil sie einen gewissen Groll hegten gegen ihre größeren und angeseheneren Vettern, die Schweifrahmen, und weil sie eifersüchtig waren, daß ihrem Dasein gar keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die schweren und behäbigen hölzernen Spulmaschinen aber kümmerten sich um nichts und ließen ihn ruhig an sich vorübergehen und schnurrten behaglich weiter wie Kater, wenn man sie hinter den Ohren kraut. Denn sie waren zufrieden mit sich selbst und wußten, daß sie mindestens ebenso geschickt und klug waren wie die Schweifrahmen. Und es war ihr Stolz, ihre Arbeit immer mit derselben Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit zu verrichten, ob ihnen nun jemand zusehen wollte oder nicht. Darum blickten sie nicht rechts noch links, sondern fuhren gemächlich aber stetig und ausdauernd fort, die Weiserstange mit den vielen metallenen Fadenführern vor den rollenden Spulen hin und her zu bewegen, und paßten genau auf, daß keine Spule in der Mitte dick würde, an den Enden aber mager bleibe, sondern die Seide in gleichmäßiger Stärke sich glatt über die ganze Spulenbreite verteile.

Der Guguck holte den Mechaniker ein. Nein, jetzt müsse er auch noch das Gewebe anschauen, das er selbst in der Arbeit habe. Einen Blick wenigstens darauf tun, weiter nichts; viel Zeit nehme es nicht in Anspruch, aber die Freude müsse er ihm schon noch machen!

Es wäre eine Unhöflichkeit gewesen, eine solche Einladung abzulehnen. Schweibenroider versicherte, daß es die ganze Zeit her schon sein Wunsch gewesen sei, auch die eigene Arbeit Kebachs zu sehen.

»Ein paar Minuten soll der Scherrahmen halt noch warten,« sagte er scherzend. »Wem Unrecht geschieht, der kann leicht Geduld haben, denn er weiß, daß er in Wahrheit längst gerechtfertigt ist; nur wem recht geschieht, der hat ein Recht, recht ungeduldig zu sein und mit dem Schicksal zu rechten.«

»Eine schöne Red', aber vor lauter recht und Recht kennt man sich schon bald nicht mehr aus,« sagte der Guguck etwas ärgerlich.

Sie gingen jetzt durch das sogenannte Magazin, wo sich in hohen Schränken das Warenlager befand und auf einer großen kupfernen Wage die Seidensträhne abgewogen wurden, bevor sie zum Färber, und wenn sie vom Färber zurückkamen. Der Raum hatte einen eigenen Eingang für die Kunden, über dem eine selbsttätige Glocke, wenn jemand eintrat, ein lautes »Tschinn« machte, was ins Deutsche übersetzt bedeutete: es ist jemand da. Anschließend an das Magazin befand sich die Wohnung, wo Kebach mit seiner Tochter hauste. Sie bestand, von den Wirtschaftsräumen abgesehen, nur in dem sogenannten Speisezimmer, einer Schlafkammer für den Vater, wo unter einem goldenen Rähmchen eine dunkle Trauerweide ihre Zweige über einen Grabstein mit den Initialen A. K. niederhängen ließ, ein kleines Meisterwerk der Perückenmacherkunst, das aus dem Haar von Wettls verstorbener Mutter, der Frau Anna Kebach hergestellt war; endlich aus dem ans Magazin anstoßenden Zimmer, in dem Wettl schlief. Dieses war sehr geräumig und wurde zumteil auch noch für das Geschäft benutzt. Denn vor einem der drei Fenster stand der Kavilierstock, auf dem Wettl Seidensträhne kavilierte, wenn sie nicht im Magazin oder in der Wirtschaft zu tun hatte. Vor dem zweiten Fenster aber stand wieder eines dieser aus Pfosten und Latten aufgebauten Ungetüme, wie es deren im zweiten Webesaal gab, mit einem schier märchenhaften Gewirr von durcheinanderlaufenden Schnüren und Korden, Zügen und Fäden, so daß keiner, der nicht vom Handwerk war, begriffen hätte, wie es möglich sei, sich dabei auszukennen. Es war der große Zampelstuhl, auf dem der Meister eigenhändig die gemusterten Gewebe herstellte, die am meisten Kunstfertigkeit und Genauigkeit erforderten, und er kannte sich in dem Gestricke und Gewirre ebensogut aus, wo nicht besser, wie der alte Herr Tollrian in seinen Philosophen.

Nachdem der Guguck seine Arbeit mit schweigsamer Bescheidenheit dargezeigt und Schweibenroider und besonders der Großvater, der doch etwas verstand, die Sorgfalt und Gleichmäßigkeit der Ausführung gebührend anerkannt hatten, kehrten sie endlich zu dem kranken Scherrahmen zurück. Der Schweibenroider zog seinen Frack aus und ging die Sache gleich gründlich an, indem er auf einen Sessel stieg, um die Wellenschnüre zu untersuchen. Der Salzküfel aber, den es von dem vielen Zuschauen schon in den Fingern juckte, schleppte sich ein Spulengestell herbei, wie es verwendet wurde, um eine Anzahl Kettenfäden zugleich von den Spulen auf den Schweifrahmen zu bringen. Er steckte zwanzig Spulen, genau so viele als nötig waren, um einen halben Gang zu scheren, auf die Drahtstiften des Gestells, versuchte jede einzelne mit dem Finger, ob sie auch einen leichten Umlauf hätte, ließ dann von jeder Spule ein paar Ellen Faden ablaufen, vereinigte die Fäden in seiner Hand und wollte sie, wie es üblich war, durch einen Knoten verbinden.

Dem Mechaniker, dem der Sessel nicht ausreichte, hatte man inzwischen eine hohe Doppelleiter gebracht. Gerade noch rechtzeitig bemerkte er aus seinem Himmel, daß der Großvater sich an die Arbeit gemacht hatte.

»Was treiben Sie denn da unten, Salzküfel?« fragte er bestürzt.

»Ich will derweil den Knoten machen und das Kreuz einlesen,« sagte der Salzküfel eifrig.

»Einhalten! Einhalten!« riefen der Guguck und der Schweibenroider wie aus einem Munde.

»Ja, warum denn nicht, und warum denn nicht?« machte der Großvater gereizt. »Warum soll ich denn nicht auch was tun dürfen? Alleweil nur zuschauen und alleweil nur zuschauen – da wird einer ja ganz dumm davon!«

»Sie können ja nachher das Kreuz einlesen,« tönte die Stimme des Mechanikers fast von der Zimmerdecke herunter. »Aber jetzt ist es noch nicht an der Zeit, den Knoten zu machen. Das ist nämlich ein ganz neuartiger Schweifrahmen, wissen Sie? Da geht's ein bissel geschickter her als bei diesen anderen alten Krippelg'spielern da. Eh' daß der Knoten gemacht wird, eh' muß erst jeder Faden durch die Glasringeln gezogen werden, die man dort an der Katz' sieht.«

»Wo – sagen Sie? Wo sieht man Ringeln?« fragte der Salzküfel, und ein Ausdruck des Entsetzens malte sich auf seinem faltigen, braunen Gesicht.

»Dort an der Katz'!« wiederholte der Webstuhldoktor und arbeitete weiter, die Hornbrille mit den großen kreisrunden Linsen auf der Nase, die er nur zu besonders heiklen Operationen aufsetzte.

Der Guguck zeigte dem Salzküfel das kleine Holzkästchen, das Schweibenroider die Katz' genannt hatte, und erklärte es ihm. Wie man früher die Kettfäden mit der Kand auf den Schweifrahmen hinauf und hinunter geleitet habe, so leite sie jetzt dieses Kästchen auf und nieder. Darum stehe es durch eine Schnur mit dem Schweifrahmen in Verbindung. Und wenn sich also der Schweifrahmen drehe, so wickle die Schnur sich ab und das Kästchen gehe herunter. Und wenn der Schweifrahmen sich wieder nach der andern Seite drehe, so wickle die Schnur sich wieder auf und ziehe das Kästchen nach oben.

»Das ist ja sehr einfach, nicht wahr? – Wenn es nämlich gehn tut,« sagte er boshaft, indem er einen Blick zum Mechaniker emporsandte.

Der Salzküfel nahm seine braune Schirmkappe herunter und strich sich mit der Hand über den spärlich behaarten Kopf, auf dem ihm der Schweiß auszubrechen begann. Er fand das alles nicht gar so einfach und begriff vorderhand noch nicht, wie sich das Kästchen, von dem der Guguck redete, selbsttätig auf und nieder bewegen sollte.

»Früher ist es wohl noch einfacher gewesen,« meinte er. »Da hat man halt mit der rechten Hand oder mit dem Fuß den Latten einen Schupfer gegeben, daß sich der Schweifrahmen gedreht hat, no, und durch die linke Hand hat man die Fäden laufen lassen und ist halt schön langsam mit der Hand zuerst von oben nach unten und dann wieder von unten nach oben gefahren. Und wenn also jetzt das alles das Kasterl da machen soll – zu was hat man denn nachher eine linke Hand? Da kann ja jeder Einarmige Schweifer werden! Da nehmt euch nachher einen Veteranen aus dem Invalidenhaus zum Kettenscheren!«

Der Guguck lachte.

»Ja, eigentlich haben Sie recht, Herr Schwieger,« sagte er gutmütig. »Aber die Mechaniker, die wollen halt immer was Neues erfinden. Und gar so dumm war's nicht – wenn es nämlich wirklich gehn tät'. Denn sehen Sie, wenn das Kasterl zugleich mit dem Schweifrahmen bewegt wird, da geht es schon viel gleichmäßiger auf und nieder, als man es je mit der Hand zuwegen bringen könnt'. Und deswegen werden auch die Windungen von den Kettfäden auf dem Schweifrahmen gleichmäßiger, und man kriegt eine viel genauere Kette, als wenn man mit der Hand schweift.«

Er fühlte, daß er sich vielleicht zu lebhaft für die neue Einrichtung erwärmt hatte, die ja noch nicht erprobt war, und die er dem Mechaniker gegenüber sogar als unbrauchbar bezeichnet hatte.

»So denkt sich's nämlich der Schweibenroider,« sagte er wieder umsattelnd. »Aber vorderhand tut's halt nicht gehn.«

»Und was soll denn bei all dem Zeug eine Katz' zu tun haben?« fragte der Salzküfel noch immer vertattert.

»Das Kasterl mit den Glasringeln,« erklärte der Guguck, »das nennt man halt den Fadenführer oder die Katz' – warum, weiß ich nicht. Vielleicht, weil es so still und ohne, daß man es hört, an dem Pfosten hinaufkraxelt und dann ebenso still und lautlos wieder herunterschleicht. Aber wenn's Ihnen lieber ist, können wir auch Fadenführer sagen. Und während der Schweibenroider untersucht, könnten wir, damit wir auch was zu tun haben, vielleicht derweil die Fäden durch die Glasringeln einziehen, daß es nachher schneller geht.«

Aber der Salzküfel wollte mit der Katz', wenn man auch Fadenführer dafür sagen konnte, nichts zu tun haben.

»Ja, ziehen Sie's nur ein, die Fäden, Herr Sohn!« sagte er und gab ihm die vereinigten Seidenfäden in die Hand.

»Ich hab' gemeint, sie wollten mithelfen?« fragte Kebach lachend.

»Dank' schön! Dank' schön!« machte der Großvater. »Unheimlich sind diese neuen Sachen! Bei der Seidenbranche sind wir doch sonst ohne Katzen ausgekommen!«

Er trachtete unauffällig aus der Nähe des Holzkästchens mit den Glasringeln fortzukommen und ging um den Schweifrahmen herum, um sich auf die andere Seite zu stellen, wo es keine Katz' gab. Aber da tat sich ein neuer Schrecken vor ihm auf. Denn er erblickte die Kurbel mit ihrem Scheiben- und übertragungswerk, durch die der neue Schweifrahmen in Bewegung gesetzt werden sollte.

»Und was ist denn das da für ein Werkel?« rief er ganz bestürzt.

Der Schweibenroider, der auf seiner wackligen Leiter ächzte und schwitzte, blickte herunter.

»Das ist die Kurbel, mit der man den Schweifrahmen um seine Achse tanzen läßt. So braucht man nicht mehr mit dem Fuß oder mit der Hand in die Latten zu greifen, wenn man ihn bewegen will, sondern setzt sich ganz gemütlich auf das Bankerl neben der Kurbel und tut einfach gar nichts anderes als drehen, und das ganze Ringelg'spiel geht wie von selbst.«

»Gar nichts als werkeln braucht man?« rief der Salzküfel.

»Nichts als werkeln!« sagte der Mechaniker, stolz auf seine Erfindung.

»Also, das ist ja sehr gemütlich!« rief der Salzküfel fast verzweifelt und ließ sich wie erschöpft auf der kleinen Bank neben der Kurbel nieder. »Eine wunderschöne Erfindung für die faulen Leut', die nichts arbeiten wollen! Also, so kann man dann von jetzt ab beim Kettenscheren schlafen!«

»No, ein bissel aufpassen muß man schon noch außerdem,« meinte der Guguck, der auf der anderen Seite beschäftigt war, die Fäden einzuziehen.

Der Salzküfel saß gebückt da und starrte zwischen seinen beiden Füßen auf den Boden und sinnierte vor sich hin und schüttelte ab und zu einmal seinen Kopf. Nein, er kannte sich nicht mehr aus auf dieser Welt! Jetzt brauchten sie zum Kettenscheren eine Katz' und ein Werkel! Als ob es früher nicht auch ohne das gegangen wär! Wie viele Ketten hatte er schon verwebt in seinem Leben! Und wenn sie schlecht geschert gewesen wären und die Fäden ungleiche Spannung gehabt hätten, so hätte er nicht ein so tadelloses Gewebe liefern können, wie das seinige von jeher war. Also wozu diese Neuerungen? Nur zur Unterstützung der Faulheit! Und je bequemer die Arbeit wird, je fauler und unzufriedener werden die Arbeiter und umso schlechter die Stoffe. Denn weben, wie er weben konnte, das konnten heute nicht mehr viele, davon war er überzeugt.

Von Haus aus und in seinen jüngeren Jahren war er eigentlich Leinenweber gewesen, darum hatte es eine Zeit gegeben, wo er ein wenig über die Achsel angesehen wurde auf dem Schottenfeld. Er machte sich aber nichts daraus, vielleicht hat er es gar nicht einmal bemerkt. Denn er war einer von denen, die mehr still für sich bleiben und gemächlich immerzu fortbasteln und darüber hinaus nicht gar weit mehr denken: ein Friedfertiger und in sich Zufriedener. Zornig konnte er freilich schon auch manchmal werden. So ungefähr jedes Vierteljahr einmal, da kam es leicht über ihn, wenn etwa die Litzen und Züge an seinem Webstuhl sich gegen ihn verschworen hatten. Oder wenn beim Einziehen die Fäden durchaus nicht durchs Rietblatt hindurchwollten. Da konnte es geschehen, daß auf einmal, mitten aus dem blauen Himmel seiner Sanftmut heraus, sich ein Gewitter entlud. Es war dann, wie wenn die kleinen Tropfen des Mißmuts, die ein anderer Tag für Tag verzettelt, sich unbemerkt in ihm angesammelt hätten wie in einem Bottich und mit dem letzten Tropfen, der noch dazu kam, plötzlich überflössen. Fast hätte man ihn einen Quartal-Zornpünkel nennen können, wie es etwa Quartal-Säufer gibt. Denn für gewöhnlich war er der langmütigste und geduldigste Mensch, den es geben konnte. Und wenn seine Schütze glatt durch den Sprung flog und bei der Arbeit alles in guter Ordnung vor sich ging, so waren auch schon alle seine Wünsche erfüllt. Mehr verlangte er sich nicht. Und so zufrieden und wunschlos war er auch schon als junger Mensch und Leinenweber gewesen. Damals war es geschehen, daß ein Ereignis eintrat, welches ihn für eine zeitlang ganz aus seiner Natur herauswarf. Überhaupt war ein sonderbares und ereignisreiches Jahr damals gewesen, in dem die Begebenheiten miteinander abwechselten wie die geraden und ungeraden Fäden in der Kette, von denen die einen immer unter den Schuß und die andern wieder ober den Schuß zu liegen kommen. Geradeso hatten in jenem Jahre die guten und die schlimmen Begebenheiten miteinander abgewechselt, und auf eine schlimme war immer eine gute und auf eine gute wieder eine schlimme gefolgt. Zuerst war in der Wendelstadt, wo das Salzküfelhaus stand, Feuer ausgebrochen und hatte vier schöne Häuser, die »Güldene Glocke«, den »Großen« und den »Kleinen Acker« und das Haus »Zum Salzküfel« in Asche gelegt. Das war also etwas sehr Schlimmes. Bald darauf hatte die Vermählung des Erb- und Kronprinzen Josef mit der Infantin Isabella von Parma stattgefunden – das war wieder etwas Gutes. Wiederum bald darauf brach der Eisstoß auf der Donau so jäh und mit solcher Gewalt los, daß die große Schlagbrücke weggerissen und das halbe Werd überschwemmt wurde. Das war wieder etwas Schlimmes. Und schließlich hatte der damals noch junge Salzküfel seine Zukünftige kennen gelernt. Das war also wieder etwas sehr Gutes; wenigstens hoffte er es.

Denn vorderhand hatte er's ja noch gar nicht schriftlich, daß sie wirklich seine Zukünftige sein würde, weil noch die Gegenwart war. Und in der Gegenwart war die spätere Zukünftige noch die Jungfrau Rosalia Hengstberger, Tochter des Seidenzeugmachers Josef Hengstberger vom »Ägyptischen Josef« auf dem Platzl hinter St. Ulrich. Aber allem Anschein nach blieb der Salzküfel ihr ebensowenig gleichgiltig wie sie dem Salzküfel. Nur irgend etwas, er wußte nicht was, fand sie nicht ganz in Ordnung an ihm, so viel konnte er wohl merken. Was mochte es sein? Nach und nach kam es heraus, wo der Schuh sie drückte: daß er nur ein Leinenweber war. Ja, das war freilich nicht viel und auf dem Schottenfeld jedenfalls weniger als ein Seidenweber! Sie hätte unter ihrem Stand geheiratet, wenn sie einen Leinenweber genommen hätte. Die ganze Familie hätt' es ihr nachgetragen. Eine Hengstberger konnte doch unmöglich einen Leinenweber heiraten! Es war einfach undenkbar, daß das Blut der Hengstberger sich mit einem anderen Blute als dem eines Seidenwebers vermischte. Das stand so fest, daß gar nichts weiter darüber zu reden war.

Was blieb dem Salzküfel übrig? Er entschloß sich umzusatteln und Seidenweber zu werden. Leicht war das nicht, er hatte keinen guten Kopf und war ein Gewohnheitsmensch. Und Seidenzeugweben ist nicht so einfach wie Brotessen, man muß eine Menge Dinge dabei merken und unzählige Handgriffe lernen und, was das schlimmste ist, viele andere Handgriffe wieder verlernen, wenn man früher am Leinen- oder Baumwollstuhl zu arbeiten gewohnt gewesen ist. Einmal soll es ihm passiert sein, daß er eine ganze wertvolle Kette gründlich verdarb, weil er sie schlichtete, wie er es nun schon einmal im Griff hatte. Die groben Leinenketten wurden nämlich vor dem Einschießen des Fadens mit einer Schlichte aus Stärkekleister glatt und steif gemacht, damit das Rauhe und Fasrige sich verlieren sollte. Das hatte der Satzküfel oft verrichtet. Und aus Gewohnheit tat er eben wieder, was er hundertmal getan hatte, vergaß völlig, daß Seide keine Leinwand ist, brachte seine Schlichtbürsten mit und behandelte die Seidenkette wie eine hänfene. Darob entstand ein unbändiges Gelächter in der Werkstatt, das den emsigen Umlerner noch lange verfolgte. Er schämte sich sehr und war von da ab doppelt auf seiner Hut. Nach und nach ging es besser; das Beharrende und Gewohnheitsmäßige, das in seiner Natur lag, fing an wieder Wurzeln zu schlagen. Es war eine gute Schule, die er genoß: die Schule Hengstberger. Und wenn es ihn auch viel Schweiß und manchen Seufzer gekostet hatte, in die neue Kunst einzudringen – schließlich erreichte er es doch, daß er freigesprochen wurde. Und als er dann auch noch sein Meisterstück zuwege gebracht hatte, da war er so zufrieden mit sich selbst, daß sein Ehrgeiz für sein ganzes späteres Leben erschöpft blieb.

Er hätte jetzt auch Meister werden können wie mancher andere, ganz mit demselben Recht. Aber daran dachte er gar nicht. Er war zufrieden, in die Gilde der Seidenzeug-, Samt- und Dünntuchmacher aufgenommen zu sein und sich die Ebenbürtigkeit mit der Familie seiner Braut mit der Seidenschütze in der Hand erkämpft zu haben, so daß es keine unstandesgemäße Heirat mehr war, die die Jungfer Hengstberger einging, als sie ihm die Hand zum Ehebunde reichte. Und nachdem er sie geheiratet hatte, war er erst recht zufrieden. Die zuwidere Umlernerei war überstanden, die Braut hatte er heimgeführt – was blieb ihm noch zu wünschen übrig? Warum sollte er, wenn er ohnedies zufrieden war, sein eigenes Geschäft begründen? – So hat er es sein Leben lang zu nichts Rechtem gebracht, vor lauter Zufriedenheit. Und als Greis war er noch dasselbe, was er als junger Ehemann gewesen war: Zeugmachergesell. Nur mit dem Unterschied, daß er früher bei seinem Schwiegervater in Arbeit stand und jetzt bei seinem Schwiegersohne.

Aber er hatte sich früher nichts anderes verlangt und verlangte sich jetzt nichts anderes.

»Es muß Meister geben,« dachte er, »und es muß Gesellen geben. Das hat unser Herrgott so eingerichtet unter den Seidenwebern, damit jeder sich aussuchen kann, was für ihn taugt. Vor unserm Herrgott sind sie alle gleich, Gesellen und Meister; aber einen Gesellen, der ein richtiger Geselle ist, den hat er lieber als einen Meister, der nicht zum Meister taugt ...«

So wollte er als ein ehrlicher Zeugmachergesell seine Tage im Guguckshaus beschließen, und jeden Abend vor dem Einschlafen betete er zu Gott, er möchte ihn nicht im Bette sterben lassen, wenn er nicht etwa anders über ihn beschlossen hätte, sondern womöglich an seinem Webstuhl. Er liebte seinen Webstuhl wie man einen Jugendfreund liebt, mit dem man alt und krumm geworden. Nächst Wettl und Diwrisl war er ihm das Liebste auf der Welt. Es war ein besonders schwerfälliges und plumpes Ungetüm, schon längst veraltet, aber für eine bescheidenere Musterweberei immerhin tauglich. Denn der Stuhl hatte seine dreißig Schäfte, wozu freilich nicht weniger als zwanzig Schemel erforderlich waren, auf denen der Salzküfel trotz seiner hohen Jahre noch recht rüstig mit seinen mageren Beinen umhertrampelte.

Die neueren Handzugstühle, die die Anbringung von hundert und mehr Schäften möglich machten, hatte er seinerzeit, als sie aufkamen, für eine Verfeinerung erklärt, die nur einer übertriebenen Prunksucht und Üppigkeit diene. Denn wozu brauche man gar so kunstvolle Dessins und reiche Musterungen? Er hatte es damals nicht eingesehen. Und jetzt gefiel es ihm doch, wenn er schön und reich gezeichnete Gewebe sah, wie der Guguck sie in seiner Werkstatt herstellen ließ und auf seinem großen Zampelstuhl selbst erzeugte. Daran erinnerte sich jetzt der Salzküfel.

Hatte er nicht vor ein paar Viertelstunden erst sich über die gediegenen und prächtigen Stoffe gefreut, die Kebach ihm und dem Mechaniker zeigte? Und dergleichen war doch nur durch die vervollkommneten Handzugstühle möglich geworden, mit denen er sich so lange nicht hatte befreunden können!

»Die Jüngeren und Jungen wollen halt auch wieder was Neues haben,« dachte er. »Und am Ende ist es das Richtige, daß sie nicht alleweil nur dasselbe machen, was wir Alten gemacht haben? Wenn unser Herrgott es nicht wollte, so tät' er es ja nicht erlauben. Also was willst denn du, alter Salzküfel, grantig sein, wo unser Herrgott freundlich zuschaut? Laß sie machen, die Jungen, laß sie machen! Bleib du bei deinem Alten und Gewohnten und laß die Jungen machen! Solang' wir ein jeder zufrieden sind bei dem Unsrigen, so lang' ist es eh' gut!«

Und er fing an sich mit dem neuartigen Zettelrahmen zu versöhnen und blickte auf und machte wieder gutmütige Augen und hatte wieder sein altes treues Lederreinettengesicht. Nur daß gerade eine Katz' dabei sein mußte, ärgerte ihn noch.

»No alsdann, kann man noch nicht werkeln?« rief er.

»Hab' ihn schon kuriert!« sagte der Schweibenroider sehr behaglich. »Es ist merkwürdig! Grad so wie beim Menschen: nur ein Schräuberl braucht zu fehlen, so geht der ganze Mechanism' nicht zusammen!«

Er hatte buchstäblich im Schweiße seines Angesichts gearbeitet und alles untersucht, an der Achse und am Umfang, an der Katz' und an der Kurbel, an den Seilen und an den Rollen, an den Scheiben und an den Riemen, von oben und unten, erst auf der Leiter, dann auf den Füßen, dann auf den Knien, dann war er gar ächzend und kreistend auf dem Bauche herumgerutscht und hatte die ganze Geschichte von unten nach oben studiert. Und richtig war es ihm schließlich gelungen, die Stelle ausfindig zu machen, wo das Schräuberl fehlte. Inzwischen hatte der Guguck die Kettfäden, die geschweift werden sollten, durch die Glasringeln des Fadenführers gezogen, den Knoten gemacht, den Gang auf den Kopfnagel gehängt, das Kreuz eingelesen und das Spulengestell zurechtgerückt.

»Also, jetzt kann's losgehen!« sagte Schweibenroider, in Hemdärmeln, die Brille abnehmend, sich den Schweiß von dem umfangreichen Gesicht trocknend. »Salzküfel, tun Sie einmal werkeln!«

Gespannt und fast mit pochendem Herzen standen der Guguck und der Mechaniker vor dem großen Zettelrahmen, einige Gehilfen und Jungbuben waren auch in die Nähe gekommen, und die Spulerinnen und Schweiferinnen ließen ihre Arbeit im Stich und drückten sich halb versteckt hinter den Geräten heran, um auch etwas zu sehen. Da schwiegen auf einmal alle Geräusche im Saal, und eine lautlose Stille trat ein, der Meister aber sagte gar nichts, es war ein großer Augenblick. Er konnte es begreifen, daß jeder begierig war zu sehen, wie es der neue Schweifrahmen anstellen würde, und er hatte selbst für nichts anderes ein Aug' und ein Ohr als für das Unbekannte, das da jetzt kommen sollte, wenn es überhaupt kam.

Und da begann der Großvater die Kurbel zu drehen, ein kleines Ächzen und Knirschen in den Scheiben und Übertragungsschnüren wurde hörbar, und auf einmal setzte sich wie von selbst der riesige Lattenbauch des Schweifrahmens in Bewegung und drehte sich langsam und bedächtig um seine Achse, und die Spulen auf dem Spulengestell fingen an zu kollern und wickelten ihre ersten Seidenfäden ab, auch wie von selbst, und die Katz' faßte die zwanzig Fäden zusammen wie eine menschliche Hand und legte sie mit Sorgfalt um die vorübergleitenden Latten und stieg dabei allmählich tiefer und tiefer, so daß die Schärpen aus roten Seidenfäden, die sich um den Leib des tanzenden Schweifrahmens schlangen, genaue, regelmäßige Schraubenlinien bildeten, die gleich schönen Kränzen und Festgewinden den lange verkannten und viel geschmähten Tänzer schmückten.

Als die Katz' am Fußende angelangt war, sprang der Guguck lebhaft hinzu und schlang rasch die zwanzig Fäden im Kreuz, wie es sich gehört, um die hölzernen Fußnägel, und der Salzküfel drehte nun die Kurbel in entgegengesetzter Richtung, und da kroch jetzt die Katz' wieder hinauf und sah fast aus wie eine wirkliche Katze, die auf einen Baum klettert. Und die rote Seidenschärpe legte sich jetzt von unten nach oben um die Latten, in freien, groß geschwungenen Linien, und bekränzte den tanzenden Schweifrahmen von neuem, daß er herrlich anzusehen war.

»Herr Großvater! Herr Großvater!« rief der Guguck ganz beseligt. »Da schauen Sie einmal die Katz' an!«

Und der Salzküfel war durch den hübschen Erfolg seines Kurbeldrehens so weit überwunden, daß er auch dieser Katze nicht mehr grollte; man konnte sie ja auch, wenn man es vorzog, Fadenführer nennen. Er machte sich also einen Spaß und sagte zu seinem geliebten Hunde:

»Dimrisl, schau! Wo ist das Katzerl?«

Man zeigte es ihm. Jugendlust und Jugendmut blitzten in den alten, trüben Augen des Tieres auf ... Das ging in der Tat nicht mit rechten Dingen zu, da bewegte sich ganz von selbst etwas hinauf, und man wies mit Fingern darauf und nannte es das Katzerl! Er sprang an dem Pfosten empor und kläffte und knurrte, und als es sich nicht beirren ließ und immer höher stieg, da wurde er ganz aufgebracht und rannte winselnd zu seinem Herrn und kehrte an den Fuß des Pfostens zurück und bellte und geberdete sich, sehr zur Erheiterung der Zuschauer, wie Hunde sich immer geberden, wenn sie ratlos an einem Baume stehen, an dessen Stamm eine ihrer unversöhnlichen Feindinnen hinaufklettert.

Der erste Gang war geschert, aber der Salzküfel wollte jetzt, nachdem er einmal gesehen hatte, wie lustig es beim neuen Schweifrahmen herging, immerzu drehen und immer nur weiter drehen. Und so fing er gleich den nächsten Gang an, und immer schneller drehte er und immer schneller, so daß Kebach alle Hände voll zu tun hatte, immer rasch die Fäden um die Nägel zu kreuzen, sobald sie oben oder unten ankamen. Der Scherrahmen aber tanzte sich immer besser ein und wurde schöner nach jeder Umdrehung und stand schon im schimmernden roten Seidengewande da, prächtig anzuschauen. Und seine Brüder, die es hätten besser wissen können und wahrscheinlich sogar wußten, was an ihm war, ihn aber trotzdem auch gering geachtet hatten, weil er vor den Leuten nichts galt, die blickten jetzt mit verhaltenem Neid auf ihn herüber, daß er auf einmal zu größerem Ansehen gekommen war als sie selbst. Er aber kümmerte sich nicht um sie; es war ihm genug, daß er tanzen durfte.

Vielleicht hätte der Großvater die ganze Kette auf einen Sitz geschert; aber der Guguck legte sich ins Mittel.

»Jetzt lassen wir's aber für heut' gut sein, mein' ich, Herr Schwieger, und machen Feierabend!«

Der Schweibenroider zog seinen Frack an.

»Also, was meinst, blauer Guguck – taugt er was, oder taugt er nichts?«

»No, siehst es!« rief der Guguck. »Was hab' ich denn immer gesagt? Wunderschön ausgedacht ist er, eine sehr gescheite Erfindung und besser, weitaus besser als die alten Schweifrahmen – wenn er gehen tut!«

»Er geht aber jetzt doch!« sagte der Mechaniker.

»Na alsdann, was willst denn nachher? Seien wir froh, daß er gehn tut, sonst wär' er eh' zu nichts zu brauchen! – Aber jetzt komm',« sagte er, den Mechaniker unter dem Arm fassend, »jetzt schau'n wir, daß wir etwas Trinkbares kriegen – für die rote Latern'.«

Was er mit der roten Latern' meinte, war nicht genau festzustellen. Vielleicht ging ihm zufällig jenes Scherzwort durch den Kopf, das Melcher, als er noch Latzenzieherbub war, einmal über den Schweibenroider ausgesprengt hätte: Das Haus »Zur roten Latern« in der Kandelgasse führe seinen Namen nach der roten Latern', die sein Besitzer mitten im Gesicht trage.


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