Emil Ertl
Die Leute vom Blauen Guguckshaus
Emil Ertl

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»Was ist denn das für ein großes Schloß, aus dem sie so wütend herauspfeffern? Dort drüben, neben dem Park, mein' ich.«

Melcher, der eben wieder zu seiner Schwadron gestoßen war, beugte sich in seinem Sattel zur Seite, um an seinen Vormännern vorbeizusehen, und zeigte mit dem Pallasch in der Richtung des Schlosses, das er meinte.

»Das ist kein Schloß,« sagte der Kamerad, den er gefragt hatte. »Das Schloß liegt viel weiter dahinten. Das, was du meinst, das ist der Herrschaftliche Getreideschüttkasten von Eßling. Ich kenn' ihn gut, bin ja in Groß-Enzersdorf zu Haus.«

»Ein Schüttkasten also? Und schaut beinah' wie eine Festung aus! Das wird eine harte Nuß sein für die Unsrigen!« meinte Melcher. »Aber warum nehmen sie denn nicht zuerst den Park daneben? In dem sieht man kein einziges Bajonett! Oder sind auch Franzosen darin?«

»Man sieht sie nur nicht,« sagte der Kürassier, »weil sie hinter der Mauer und hinter den Bäumen stecken. Viermal schon, seit wir da stehen, sind unsere Grenadiere gegen den Park Sturm geloffen. Und jedesmal sind sie wieder zurückgeworfen worden.«

»Und ihr habt nur alleweil zuschauen müssen?«

»Seit ein Paar Stunden stehen wir wie die angemalten Türken in der Sonn' und dürfen nicht mittun.«

»Also, dann wird es halt doch jetzt endlich einmal zur Attack' kommen müssen!« tröstete sich Melcher.

Er war froh, seinem abgehetzten Pferd zulieb vom Dienst des Ordonnanzreiters abkommandiert und wieder in seinen Zug eingereiht zu sein. Von Viertelstunde zu Viertelstunde hoffte er, daß die Trompete »Marsch–marsch!« blasen würde. Der Zwischenraum zwischen den Dörfern Eßling und Aspern, meinte er, wär' ein prächtiges Terrain für einen flotten Reitervorstoß. Es paßte ihm wenig, auf seinem Pferde ruhig in Reih' und Glied zu stehen und aus der Ferne zuzuschauen. Wie zu einer Parade aufgestellt, hielt das Kronprinzen-Kürassierregiment mehr als tausend Schritte dem Dorfe Eßling gegenüber. Es war ihm die Aufgabe zugefallen, den österreichischen Grenadier-Bataillonen des Feldmarschall-Leutnants d'Aspre zur Bedeckung zu dienen, die den herrschaftlichen Garten und Schüttlasten von Eßling nehmen sollten. Unruhig in ihren Sätteln wetzend, sahen die Reiter den Kampf der Geschütze und des Fußvolkes sich abspielen, der den ganzen Nordrand des Dorfes entlang und von Osten her gegen den sogenannten langen Garten wütete.

Plötzlich flog eine Granate hoch über den Köpfen der Kürassiere hinweg. Melcher vernahm deutlich das eigentümliche Pfeifen und Schnurren des Geschosses in der Luft, er sah es, scheinbar nicht größer als eine Schwalbe, durch den klaren blauen Himmel sausen, und dann hörte er es krepieren, weit hinter der letzten Reiterreihe. Er lachte und spottete. Eine wahre Schande sei es, nichts zu treffen, wenn man auf ein ganzes stillstehendes Kürassierregiment ziele!

»Sie schießen schon die ganze Zeit her viel zu lang,« sagte sein Nebenmann. »Aber ich fürcht', zuletzt werden sie sich doch auf uns einschießen!«

»Ewig werden wir doch nicht da stehen bleiben, sakrament noch einmal! Wenn ich nicht bald einem französischen Lumpenhund meinen Pallasch um die Ohren hauen kann, so reit' ich, weiß Gott, noch allein hinüber!«

Unablässig, Schlag auf Schlag, brüllten die französischen Haubitzen, die man in einer unendlichen Kette, vom äußersten Ende von Eßling bis hinüber gegen die Gemeinde-Au von Aspern aneinandergereiht sah. Aber die nicht minder ausgedehnten Zeilen der österreichischen Batterien und die stürmenden Kolonnen machten ihnen heiß zu schaffen. Um das Kronprinzen-Kürassierregiment konnten sie sich wenig kümmern. Es wurde ihnen vorderhand nicht gefährlich, darum hatten sie nur ab und zu einmal einen Schuß für die stillhaltende Reitermasse übrig. Und jedesmal, wenn sie auf die Kürassiere schossen, überschätzten sie die Entfernung und warfen ihre Granaten hoch über das Regiment hinweg, so daß noch keinem Roß und keinem Reiter ein Haar gekrümmt worden war.

Linker Hand hörte Melcher jetzt ein tausendstimmiges »Hurra!« Zum fünftenmale rannten die österreichischen Grenadiere gegen die Mauer des herrschaftlichen Gartens von Eßling an. Eine ungeheure Ungeduld bemächtigte sich der zu Untätigkeit verurteilten Reiter. Unwillkürlich hatte mancher seinem Pferde die Schenkel gegeben und mußte es jetzt an der Trense zurückhalten. Zitternd vor Kampfbegier blickten alle nach ihren Offizieren, enttäuscht und mißmutig fügten sie sich, als diese durch ein stummes Emporheben der Hand sie zur Ruhe mahnten. Die Glut der Nachmittagssonne brannte auf den stählernen Rüstungen, die Pferde, von Bremsen belästigt, scharrten unwillig mit den Hufen, ein ununterbrochenes Klirren und Trampeln ging durch den riesigen, eng aneinandergedrängten Klumpen von Menschen- und Tierleibern. Plötzlich krachte eine feindliche Granate mitten in das Regiment hinein und riß eine große, blutige Lücke. Melcher wendete sich um, er sah Kürassiere und Pferde sich am Boden wälzen. Rasend fast vor Ungeduld hob er sich in den Steigbügeln, um nach seinem Obersten zu sehen. Jetzt würde der doch endlich die Attacke kommandieren? Aber nein! Unbeweglich wie ein ehernes Reiterstandbild saß der alte Graubart vor der Front in seinem Sattel.

Diesmal schien es den stürmenden Grenadieren zu glücken. Melcher sah sie über die Mauer des Herrschaftsgartens eindringen und von Baum zu Baum kämpfend an Boden gewinnen. Dagegen prallten alle Angriffe, die gegen den Getreidespeicher gerichtet waren, wirkungslos ab. Fast konnte man das große, viereckige Gebäude, das Melcher für eine Festung oder ein Schloß gehalten hatte, nicht mehr wahrnehmen; von oben bis unten stand es in bläulichen Pulverdampf gehüllt, aus allen Fenstern und Luken flammten die Feuergarben der französischen Musketen. Wenn man nicht über schweres Belagerungsgeschütz verfügte, so waren die starken, dicken Mauern des Schüttkastens sturmsicher. Und von ihm aus bestrichen und beherrschten die Franzosen die ganze Nordkante des Dorfes. So konnte den in den Garten vorgedrungenen Grenadierbataillonen nicht, wie sie es wohl erwartet hatten, von der andern Seite her in die Hände gearbeitet werden. Es blieb ihnen nichts übrig, als vor den neu herangezogenen Verstärkungen der Franzosen abermals zurückzuweichen.

Bekümmert sah Melcher sie den herrschaftlichen Garten, den sie unter schweren Opfern erobert hatten, wieder aufgeben. Jetzt, meinte er, müsse doch endlich die Reiterei an die Reihe kommen! Abermals richtete er sich in den Steigbügeln auf, um nach seinem Obersten zu spähen – da scholl ein fürchterliches Getöse zu seinen Füßen, und er stand auf der Erde, das zusammengebrochene Pferd zwischen den Beinen. Eine zerspringende Granate, die knapp vor ihm eingeschlagen war, hatte es zerschmettert; er selbst aber, gedeckt durch den Leib des Rosses, war unversehrt geblieben. Entsetzt über den Anblick seines Tieres und erschüttert durch die Gefahr, der er eben entronnen, löste Melcher die Füße aus den Bügeln und schickte sich an, Sattel und Riemenzeug abzuschnallen und in Sicherheit zu bringen, wie es die Vorschrift gebot. Seine Hände zitterten, und während er an der Arbeit war, hörte er noch mehrere Granaten hintereinander über sich durch die Luft sausen. Den Sattel und das Zaumzeug auf dem Arm, lief er nach hinten und wendete sich im Rücken seines Regiments gegen den rechten Flügel der Division, um von dieser Seite, die ihm weniger gefährdet schien, den Fuhrpark zu erreichen. Jetzt ging schon ein fortgesetztes Sausen und Schwirren durch die Luft, und Granate um Granate hörte man krepieren. Aber noch immer wurde zu lang geschossen, und es war weitaus gefährlicher, die Felder im Rücken des Regiments zu betreten, wo keine Soldaten sich befanden, als vorne in Reih' und Glied zu stehen. Gerade hinter dem rechten Flügel, ganz nahe vor sich, sah Melcher in kurzen Zwischenräumen mehrere Bomben nacheinander in den Boden schlagen.

»Nach links geh zurück!« riefen ihm Kameraden zu. »Lauf, was du laufen kannst!«

Fast besinnungslos vor Angst tat er, wie sie ihn hießen, wendete um und rannte mit seinem schweren Sattel wieder nach der andern Seite, immer den Rücken des Regiments und knapp an der letzten Reiterreihe entlang. Wenn er nur schon über den freien Raum hinweg wäre, auf den so viele Geschosse niederhielten! Wenn er nur erst wieder einmal ein Pferd hätte, und wenn er nur nicht zu spät kam, um die Reiterattacke mitzumachen, von der er meinte, daß sie jetzt nicht mehr lange auf sich warten lassen könne. Sein heißer Atem keuchte, und seine klirrenden Reiterstiefeln begleiteten trappend das verzweifelte Lied, das ununterbrochen wie von selbst in ihm sang: »Nur so nicht enden! Nur so nicht enden!«

Jetzt mußte er endlich doch die deckende Reitermasse verlassen. Entschlossen machte er linksum und lief, so schnell er laufen konnte, querfeldein über die freie Ebene. Aber noch hatte er keine fünfzig Schritt zurückgelegt, so stürzte er hin, von den Splittern einer platzenden Granate zu Tode getroffen.

»Und richtig kein Reitertod! ...« das war der letzte Gedanke, der ihm durch den Sinn ging.

Und dann befand er sich auf einmal im Garten des lieben, treuen Guguckshauses und hörte die Webstühle klappern und die Sperlinge im wilden Weine zwitschern ... und dann war er hinüber.


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