Emil Ertl
Die Leute vom Blauen Guguckshaus
Emil Ertl

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»Ob er freundlich zu mir sein und nicht am Ende fremd tun wird?« dachte Melcher, als er mit den Sporen klirrend und mit dem Pallasch rasselnd sich dem Haus »Zum groben Schroll« in der Kaiserstraße näherte.

Es war ihm ein wenig bange ums Herz. Wegen des Lebold, aber auch wegen des alten Schroll. Der Lebold, der war früher ein Bub und dann ein junger Mensch gewesen wie er selbst. Inzwischen aber war er ein Fabrikantenssohn geworden, als Ältester vielleicht sogar schon Geschäftsteilhaber. Kinder und junge Leute nehmen sich noch gegenseitig als junge Menschen, als Altersgenossen. Die ins tätige Leben Eingetretenen aber sehen dann leicht die Scheidemauern zwischen den Ständen, die sie früher nicht gesehen haben. Würde der junge Fabrikant sich des einstigen Latzenzieherbuben und jetzigen Gemeinen vom Kronprinzen-Kürassierregiment, der sich darauf berufen wollte, einmal sein Schul- und Spielkamerad gewesen zu sein, noch gerne erinnern? – Er klirrte noch ein wenig stärker mit Sporen und Schwert, um sich Mut zu machen. Es fiel ihm ein, wie lebhaft damals, als er sich vor dritthalb Jahren von ihm verabschiedete, Lebold ihm aufs Herz gebunden hatte, ihn ja sicher zu besuchen, wenn er wieder einmal nach Wien käme. Und dann vergegenwärtigte er sich die ganze Art des Freundes.

»Man kann sich ja gar nicht so stark verändern,« dachte er. »Der Lebold hat immer etwas gehabt, etwas ...«

Er konnte es nicht in Worten denken. Er hatte mehr so ein allgemeines Gefühl für die Sache, die er meinte. Und da erinnerte er sich wieder, wie der Lebold den viel stärkeren Schackerl geprügelt hatte, weil dieser Gott und Kaiser lästerte. Jetzt wurde es ihm etwas greifbarer, wie er meinte, daß der Lebold sei.

»So wie unser Herr Rittmeister immer sagt, daß der rechte Soldat sein soll, so etwas ähnliches hat der Lebold immer an sich gehabt,« dachte er.

Nein, es bangte ihm gar nicht vor dem Lebold; jetzt kam er darauf: nur vor dem Schroll hatte er eine gewisse Scheu. Er kannte ihn ja gar nicht, hatte ihn nie gesehen. Aber daß das Haus »Zum groben Schroll« hieß und der Alte auch so genannt wurde, das hatte schon von Jugend auf seiner Vorstellung von diesem Manne gleichsam etwas Drohendes beigemischt. Und die Leute redeten auch so eigentümlich von ihm. So als ob sie sagten: der Napoleon; oder als ob sie sagten: ein Gewitter; so ungefähr sagten sie auch: der Schroll. Eigentlich Grobes wurde nichts von ihm berichtet, obgleich er jähzornig und streng sein mochte; aber ein ganz Eigener mußte er sein. Einer, der sich abseits hielt, der selten zu sehen war, von dem man immer nur hörte, um den sich gewisse Gerüchte spannen, als ob er besonders gescheit sei und die Menschen durch und durch schaue, oder, wie andere behaupteten, stolz, weshalb er den Umgang mit den übrigen Schottenfelder Fabrikanten meide, weil er meine, daß ihm doch keiner das Wasser reiche, und daß er sich in der besten Gesellschaft befinde, wenn er mit sich allein sei. Nein, da war dem Melcher sein Meister, der blaue Guguck, schon ein ganz anderer!

Aber Melchers Art war es nicht, lange zaghaft zu sein.

»Den Kopf wird er mir nicht gleich abreißen,« dachte er. »Und schlimmer als mein Oberster kann er auch nicht sein. Und meinen Obersten hab' ich doch auch gebändigt! Man muß nur still sein und immer ein recht albernes Gesicht machen, wenn man es mit einem gar Strengen zu tun hat. Dann wird dem andern unheimlich, und er weiß nicht recht, wie er dran ist, und so verliert er die Kontenanx.« –

Es gab noch viele unverbaute Felder und Wiesen in der Kaiserstraße. Das schmucklose, einstöckige Schrollhaus stand nach der einen Seite frei, so daß man den Hofflügel sehen konnte und den Garten, der sich gegen den Linienwall erstreckte. Auf der anderen Seite lehnte es sich an das viel größere und mit einem gewissen Aufwand ausgestattete Haus »Zum roten Igel«, das dem Appreteur Woitech gehörte. Melcher trat in die Torfahrt und stieg die Treppe hinauf. Durch das nach dem Hof geöffnete Flurfenster drang das Klappern und Schnurren der Webstühle und Spulen. Jetzt rasselte Welcher nicht mehr mit dem Säbel und trat leise auf, damit die Sporen nicht klirren sollten. Er hatte das Gefühl, daß seine militärischen Geräusche sich in diesem Lärm der Arbeit nicht schickten.

Melcher klopfte an die Tür und trat ins Magazin. Er atmete ordentlich auf, der Schroll war nicht da. An einem Schreibpult stand ein angenehmer junger Mensch und blickte auf, als er jemand eintreten hörte. Melcher erkannte ihn sogleich, es war der Franzl, der jüngere Bruder Lebolds, der noch ein Knabe gewesen war, als Melcher zu den Soldaten einrückte.

»Mir scheint, das ist ja der Melcher aus dem ›Blauen Guguck‹?« sagte der junge Mann, der ihn auch erkannte.

»Guten Abend, Herr Franzl,« sagte Melcher. »Wie geht's denn immer, wenn's erlaubt ist zu fragen? Ich hab' wollen den Lebold heimsuchen.«

Franzl reichte ihm die Hand und erkundigte sich, wie es ihm bei den Soldaten gefalle.

»Es heißt ja, daß es bald Krieg geben wird,« sagte er. »Am liebsten möcht' ich auch mittun, weil dieser Napoleon schon über die Sträng' schlagt wie ein Bierwagengaul, der mit Braumeisterfutter gefüttert wird. Aber nehmen tun sie mich halt nicht, weil ich noch zu jung bin. Der Lebold aber, der tut sicher mit, der setzt es schon durch, wiewohl daß es der Herr Vater nicht erlauben will und bös auf ihn ist.«

Melcher war ganz erstaunt.

»Zum Militari will der Lebold gehn?«

»Zu der Landwehr halt,« sagte Franzl; »weil wir ja bald ein ganzes Bataillon von lauter schottischen Stiftsuntertanen kriegen. Gehn Sie nur hinein zu ihm, Melcher, es wird ihn g'freuen, daß Sie gekommen sind. Drinnen an seiner Bandmühl' steht er.«

Melcher trat durch ein dunkleres Zimmer, das als Packraum für Waren zu dienen schien, in einen lärmenden Webesaal ein; gleich am ersten Bandmacherstuhl sah er den Lebold beschäftigt. Er hörte sofort zu weben auf und streckte ihm beide Hände entgegen.

»Grüß dich Gott, Melcher! Das ist aber schön, wenn einen ein alter Freund nicht vergessen tut! Und wie geht's dir denn immer? Gut schaust aus, gesund und kriegerisch!«

Er fuhr sich noch immer mit der rechten Hand, wie er es sonst getan hatte, durch sein dichtes, dunkles Haar, das leicht gewellt war. Überhaupt schien er noch ganz derselbe. Am liebsten wäre der Melcher ihm um den Hals gefallen; er hatte ihn immer gern gehabt. Aber Lebolds zugleich gewinnendes und doch bei aller Herzlichkeit auch wieder ernstes und gleichsam etwas weltfernes Wesen, das ihn schon als Knaben in des Freundes Bann gezwungen und ihn gewissermaßen zu seinem freiwilligen Untergebenen gemacht hatte, legte ihm auch jetzt Zurückhaltung auf.

Lebold entschuldigte sich, daß er ihm keinen Sessel anbieten könne. Sie standen nebeneinander vor dem Webstuhl.

»Es ist bald Feierabend,« sagte Lebold, »dann wollen wir miteinander in den Garten hinunter gehen. Aber früher als die andern kann ich halt auch nicht Feierabend machen. Der Herr Vater tät's nicht gern sehen, und ich mag auch selbst keine Ausnahm' haben. Es soll niemand in der Werkstatt sagen können, daß ich komm' und geh', wann's mich g'freut.«

Er ergriff die Triebstange und webte ruhig weiter.

»Ich schau' gern zu,« sagte Melcher, »das ist mir eh' neu, was ich da seh'. Ich hab' noch nie keinen Bandstuhl nicht gesehen.«

»Das ist eine Bandmühl',« sagte Lebold. »Da werden die Ketten nicht durch Treten aufgemacht wie bei euren Stühlen, sondern alles geschieht mit der Triebstange. Damit heb' ich die Schäfte und beweg' gleichzeitig die Lad' samt den Schützen – siehst?«

Er zeigte es ihm langsam.

»Ja, und da seh' ich ja eine ganze Menge Schützen!« rief Melcher.

»Freilich! Dreißig Schützen hab' ich. Weil ich nämlich dreißig Bänder zugleich webe. Sieh, da laufen mir alle dreißig Ketten nebeneinander in den Schuß. Und wie die Schäfte und Litzen den Sprung aufmachen, schießen die dreißig Schützen durch.«

Er bewegte wieder langsam die Triebstange, daß jede der dreißig Ketten sich spaltete und die Schützen hindurchfuhren.

»Dreißig Bänder zugleich!« rief Melcher, der aus dem Staunen gar nicht herauskam. »Und da brauchst du nur diese Querstange immer an die Brust zu ziehen und wieder wegzustoßen, so macht der Stuhl alles andere von selbst?«

»Aufpassen muß man halt außerdem noch gehörig dabei,« sagte Lebold; »alle Knoten entfernen, gebrochene Kettfäden anknüpfen, abgerissene Litzen ersetzen, leer gewordene Schützenspulen erneuen – wenn du das bei dreißig Bändern zugleich machen und nichts versäumen willst, so hast du schon zu tun. Denn wie du was übersiehst, ist halt das Bandel verboselt.«

»Dreißig Bänder zugleich!« wiederholte Melcher, noch immer ganz benommen von dieser ihm unglaublich klingenden Tatsache. »Wenn wir dreißig Stück Stoff zugleich machen könnten! Jetzt begreif' ich, warum die Bandmacher so viel verdienen!«

»Ei, verdienen sie viel?« fragte Lebold.

»Ja, ich weiß es nicht,« sagte Melcher; »aber den Meister hab' ich es immer sagen hören, daß die Bandmacher sich gar so leicht tun.«

»Na, wenn er es sagt, so wird er es auch wissen,« meinte Lebold lächelnd.

»Aber du mußt es doch noch viel besser wissen?«

»Ich? Ich weiß gar nichts. Woher soll ich denn wissen, was der Herr Vater verdient? Er hat mir's nie gesagt, und ich hab' ihn nie danach gefragt.«

»Du hast also noch keinen Anteil am Geschäft?«

»Da kennst meinen Herrn Vater schlecht! Nicht einmal freigesprochen bin ich noch!«

Er webte jetzt wieder emsig weiter, indem er die Triebstange bewegte und aufmerksam an dem wohl mehrere Ellen breiten Stuhl hin und her ging und ab und zu mit einem kleinen stählernen Zängelchen einen Knoten oder ein Fäserchen aus einer der dreißig Ketten zupfte.

»Und wo kommen denn eigentlich die fertigen Bandeln hin?« fragte Melcher.

»Die dreißig fertigen Bänder laufen hier nebeneinander, wie du siehst, in den Spalt der Liegbank hinein. Und ganz hinten ist die Bandrolle, auf die wickeln sie sich auf. So ist es fast wie ein Kreislauf durch das ganze Schnur- und Lattenwerk des Stuhles; denn die Zettelspule, von der die Kette sich herunterwickelt, und die Bandrolle, auf die die fertigen Bänder sich aufwickeln, liegen alle zwei hinten am Stuhl ziemlich nah' beieinander. Gescheit ausgedacht ist die ganze Geschichte – nicht? Jeden Tag freu' ich mich darüber, wie klug das alles ist.«

Melcher stimmte zu.

»Ich denk' mir's öfters, wenn ich so web',« sagte Lebold, »wie dankbar man eigentlich sein muß. Ich stell' mich dazu und hab den Nutzen von all den guten Einfällen und Erfahrungen. Und hundert und hundert Jahre waren notwendig, und tausend und tausend Menschen haben das Weben probiert, eh' daß alles so vernünftig und zweckmäßig hat gemacht werden können, wie es an meiner Bandmühl' da ist. Und doch ist es wieder nicht genug, daß man sich einfach dazu stellt. Ja, wenn der Stuhl einmal eingerichtet ist! Aber einen Stuhl einrichten, schon für gewöhnliche Bandeln, und gar erst für schwerere, gemusterte – da lernt einer nicht aus! Und der Herr Vater hat ganz recht, daß er mich noch nicht freispricht, und daß er überhaupt mehr von mir verlangt als von den anderen Gesellen; weil ich ja auch einmal den anderen Gesellen soll zeigen können, was sie nicht wissen, so wie er uns jetzt alles zeigt.«

Er webte weiter, und von seinen dreißig Ketten glitt ein gut Stück verwebt unter die Liegbank. Nach einer Weile hielt er wieder ein.

»Es ist nur ein Menschenwerk, so eine Bandmühl',« sagte er; »aber gerade weil der Mensch mit seiner Vernunft es ausgedacht hat, ist es auch ein Teil der Schöpfung. Ehrfurcht muß man vor so einem Ding haben wie vor einem Pflug. Denn beim Brotbauen allein können die Menschen doch nicht stehen bleiben. Es kann der Wille nicht sein, daß sie ihren Verstand nicht gebrauchen und nichts anderes sonst ausdenken sollen. So muß doch das Vorwärtsgehen und nicht das Stehenbleiben das Richtige sein, das ihnen natürlich ist. Nur üppig sollen sie freilich nicht werden dabei, und darum hat der Herr Vater wiederum recht, daß er streng ist und uns knapp halten tut. Wer mit dem Zeiselwagen zu fahren gewohnt ist, sagt er, der lernt das Fiakerfahren leicht. Aber umgekehrt nicht.«

Ein tiefes Schwingen und Brummen lag plötzlich in der Luft. Es war die große Glocke von St. Laurenz, die geläutet wurde. Das bedeutete Feierabend. Die Weber im Saale stellten das Weben ein, aber nicht sofort, sondern mehr nach und nach, es wollte keiner der erste sein, und keiner den Maurern gleichen, denen man nachsagte, es falle ihnen die Kelle aus der Hand, sobald die Glocke schlage. Ein jeder bastelte noch eine Weile herum, bevor er ganz aufhörte, und mancher webte noch schnell das Stück zu Ende, das er sich vorgesetzt hatte, und andere suchten ihr rascheres Aufbrechen zu bemänteln, indem sie ihren Kameraden gegenüber fallen ließen, die Schere sei stumpf, sie müßten doch geschwind schauen, ob sie nicht noch den Schleifer fänden, oder am Stiefel fehle etwas, vielleicht hätte doch der Schuhflicker noch offen, wenn sie sich recht beeilten.

Jetzt legte auch Lebold seine kleinen Geräte in Ordnung, breitete ein Tuch über die Ketten, um sie vor Staub zu schützen, und forderte den Freund auf, mit ihm hinunterzukommen.

Der Garten des Schrollhauses, der hinter den Hofflügeln des Fabriksgebäudes anfing, hatte eine bedeutende Ausdehnung und erstreckte sich in der Breite des Hauses bis knapp an den Linienwall. Blumen wurden darin nicht gezogen, aber die umfangreichen Rasenflächen, die breiten Kieswege und die mächtigen Bäume gaben ihm das Gepräge eines Parkes. Bevor die Benediktinerabtei zu den Schotten, durch mißliche Geldverhältnisse genötigt, sich entschlossen hatte, ihre ausgedehnten Felder und Weinberge zwischen St. Ulrich und dem Linienwall zu Baugründen zu widmen, hatte sich hier ein Stiftspark befunden, den die geistlichen Herren im Sommer benützen konnten. Aber das Schottenstift war zu weit entfernt, als daß sie viel davon Gebrauch gemacht hätten. Darum wurde, als sich ein Käufer dafür fand, der Park ebenso wie jedes andere Flurstück dieser Gegend als Bauplatz veräußert. Aber ein paar verwitterte Sandstein-Engel und -Heilige, die zwischen den Büschen träumten, zeugten noch von seiner früheren Zugehörigkeit zu einem geistlichen Besitze.

Langsam gingen sie selbander unter den hohen Bäumen hin, von denen schon ab und zu ein gelbes Blatt wie ein winziger, auf Wellen schaukelnder Kahn herniederschwebte.

»Vielleicht ist es so bestimmt,« sagte Lebold, »daß wir zwei alte Kriegskameraden aus dem ›Blauen Guguck‹ bald wieder einmal Krieg spielen werden wie damals. Tät' mich freuen, wenn es so käme, daß wir auf demselben Schlachtfeld miteinander stünden, und wenn wir gemeinsam mittun könnten, dem Napoleon einmal die Faust zu zeigen! Aber dasmal wird nicht mit Kieselsteinen bombardiert werden, dasmal wird es ein bissel ernster zugehen. Wenigstens wird man wissen, für was man es tut!«

»Du willst dich also wirklich zum schottischen Freibataillon melden?« fragte Melcher.

»Und da kannst noch fragen?« rief Lebold. »Wir werden doch nicht warten, bis die Franzosen wieder nach Wien herein marschieren! Wir werden doch nicht ruhig zuschauen, wie der welsche Taschenspieler die Könige allez passez machen läßt und diesmal vielleicht zur Abwechslung den König von Spanien nach Neapel und den König von Neapel nach Westfalen und den König von Westfalen etwa nach – Österreich setzt? Nein, in der Zeit jetzt, in der wir leben, kann ein Österreicher und ein Wiener seinen Kaiser nicht im Stich lassen!«

Melcher erinnerte sich der schönen Ansprachen, die sein Rittmeister und sein Oberster schon an die Schwadronen gehalten, und an die Knüffe und Püffe und Flüche, in die dann der Wachtmeister die schwungvollen Reden übersetzt hatte.

»Wahr ist es schon,« sagte er; »und schön von dir, daß du so denkst. Aber überleg' dir's noch einmal! Schinden tun sie einen schon ordentlich beim Militari.«

»Wird auch noch auszuhalten sein,« sagte Lebold. »Ich hab' mir's schon genug überlegt: ich tu' mit. Und ich bin froh, daß ich ein großes Ziel vor Augen haben kann. Denn so oder so – heraus muß ich jetzt da einmal.«

Er machte eine Bewegung, als ob die schweren Laubkronen der Bäume, unter denen sie standen, auf ihn drückten. Vom Laurenziturm schollen die letzten Schwingungen des ausklingenden Abendgeläuts und rollten wie in breiten, ehernen Wogen über den Garten hin, sich an den Mauern des Hauses gleich einer Brandung brechend.

»Ich kann diese Glocke nicht mehr hören,« sagte er, »und ich kann den Turm nicht mehr anschauen, den ich, seit ich denken kann, von meinem Fenster aus sehe, und das Haus ist mir zu eng und der Hof zu dumpf und der Garten nicht weit genug. Ich muß heraus aus dieser ganzen Umgebung, sie erstickt mich, ich hab' keine Freud' mehr an nichts, meine Bandmühl' sogar ist mir fast verleidet.«

»Ja schau, Lebold, was hast denn eigentlich?« fragte Melcher gutmütig und besorgt. »Verträgst dich nicht mit deinem Alten? Oder ist dir sonst was übers Leberl geloffen? Schau, es könnt' dir doch sonst so gut gehn! Ich wär' froh, wenn ich an deiner Stell' wär'!«

Sie hatten sich auf einer altersgrauen Steinbank niedergelassen, zu Füßen eines geflügelten Engels, der einem Kind, das vor ihm stand, die Hand aufs Haar legte und mit der andern Hand gegen Himmel wies. Lebold stützte das Gesicht in die Hand und schwieg. Melcher kam sich auf einmal so mannhaft vor in seiner schönen Uniform, dieser unversehens hervorgebrochenen Jünglingssehnsucht gegenüber. Es gefiel ihm, den Erfahrenen und Reifen zu spielen und den flotten Soldaten obendrein.

»Kann mir's schon denken,« sagte er lächelnd. »Werden halt Weibersachen sein!«

»Ich kann es dir nicht ganz erklären,« sagte Lebold ernst und wieder aufschauend. »Weil ich es selbst nicht ganz versteh'! Weibersachen sind es nicht. Dazu hab' ich noch nie Zeit gehabt. Der Herr Vater sorgt schon dafür, daß ich Abends müd' bin und froh, wenn ich schlafen kann, und da hat er auch ganz recht. Auskommen tu' ich auch mit ihm soweit, weil ich weiß, daß er mir's gut will, und weil ich ihm deswegen immer in allem gefolgt hab'; dasmal ist das erstemal, daß ich meinen eigenen Kopf aufsetz': wegen der Landwehr. Also, das wär' es nicht. Es ist etwas anderes. Aber ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich bin nicht recht fertig mit mir. Noch wie in einem Übergang bin ich drin. Noch gar kein rechter Mann bin ich, der weiß, was er sich von der Welt denken soll. Mir ist immer, ich müßt' mich erst suchen und erst selber finden. Und an meiner Bandmühl' find' ich mich nicht, da bleibt es immer das Nämliche. Und freilich führt das ewige Folgen und Folgen, was im Haus das A und Z ist, auch nicht zur Befreiung. – Ich muß fort!« wiederholte er. »Ich muß mir ein bissel frischen Wind um die Ohren sausen lassen, und wenn es gar Kartätschen sind – um so besser!«

»No ja, dann wird es schon das Richtige sein,« meinte Melcher halb überzeugt. Er zeichnete mit dem Ortband seines Schwertes Figuren in den Sand. Nach einer Weile sagte er: »Du, richtig, die Wettl aus dem ›Blauen Guguck‹ läßt dich schön grüßen.«

Lebolds Züge hellten sich auf.

»Wirklich? Läßt sie mich grüßen? Hat sie dir's aufgetragen?«

Jetzt machte sich's Melcher erst klar, daß sie ihm eigentlich gar nichts aufgetragen hatte. Er wollte nicht gerade lügen, und er wollte auch nicht ganz widerrufen. Er machte es wie ein richtiger Kronprinzen-Kürassier, der nicht rechts und nicht links schaut und seinem Pferd die Sporen gibt und über die Hindernisse hinwegsetzt.

»Und von der Fany soll ich dir einen recht schönen Gruß bringen! Und du möchtest morgen nachmittag zu ihr kommen. Wir kommen alle hin, die Wettl und ich und du und noch mehrere alte Freund' aus dem Gugucksgarten. Damit wir wieder einmal alle beisammen sind. Gelt, du kommst sicher?«

Er meinte das Hindernis glücklich genommen zu haben. Aber da lag er schon im Graben.

»Und hat dir die Wettl wirklich einen Gruß aufgetragen?« fragte Lebold wieder.

»Wir haben halt miteinander geredet, alle drei,« sagte er, die Dinge möglichst durcheinandermengend und verschleiernd; »und wie ich weggegangen bin, sind mir dann Grüße aufgetragen worden. Die Einladung hat mir die Fany besonders eingeschärft, und die hab' ich jetzt auch ausgerichtet. Und gesehn hab' ich dich auch, und morgen sehn wir uns wieder, und jetzt werd' ich halt nachher wieder schön langsam gehn ...«

Sie plauderten noch über dies und das, und dann schickte er sich wirklich an zu gehen, und Lebold begleitete ihn noch durch den Garten und durch den Hof, bis zum Haustor. Nachdem er sich verabschiedet hatte, kehrte Lebold in den Garten zurück und durchmaß ihn der ganzen Länge nach und ging bis ans äußerste Ende hinunter, wo ein kleiner Hügel sich erhob, der eben hoch genug war, daß man über den Linienwall hinwegsehen konnte. Auf dieser Erhebung stand, noch aus der Zeit, wo der Park angelegt worden war, ein gemauertes Gartenhaus in verzopftem und verschnörkeltem Stil, mit einigen gleichsam sich krümmenden Urnen auf jeder Seite des Daches, aus denen wilde, steinerne Flammen schlugen. Dieser Pavillon, der einst den geistlichen Herrn Benediktinern zum Auslug gedient hatte, war von ihnen die Gloriette genannt worden, und der Name hatte sich erhalten. Über den kleinen flachen Sandplatz vor der Gloriette breitete ein alter mächtiger Kastanienbaum seine Äste, dessen Blätter jetzt schon anfingen gelb zu werden, und an seinen Stamm gelehnt befand sich eine Bank.

Lebold liebte diesen Platz, weil er der freieste im Garten war und einen weiten Ausblick gewährte. Er ließ sich nieder und verlor sich in Sinnen und schaute dabei über die gewellten Felder und Wiesen und das kleine Dorf Ottakrin hinweg auf die sanft geschwungenen Hügel des Wienerwaldes, die immer ferner und immer höher wurden und schon im herbstlichen Kleide prangten. Und er flog mit seinen Gedanken in den unergründlichen Abendhimmel hinein, der noch licht und goldig war, obgleich zur Rechten, hoch über dem Schmelzer Friedhof, der mit seinen schwarzen, zypressenartigen Bäumen wie eine Märcheninsel auf der grauen Heide schwamm, schon der erste blasse und kaum sichtbare Stern zitterte.

So befand Lebold sich fast in einer anderen Welt, im Land der Träume und nicht im Land der Wirklichkeiten, als eine Stimme hinter ihm, die leise seinen Namen aussprach, ihn auf die Erde zurückrief. Eine sanfte, liebende Hand legte sich auf seine Schulter. Er wendete sich um und erblickte seine Mutter. Da ergriff er diese einzig gute, treue Hand und bedeckte sie mit heißen Küssen.


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