Emil Ertl
Die Leute vom Blauen Guguckshaus
Emil Ertl

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Durch die stillen Gassen bin ich wieder einmal gegangen, in denen ich meine ersten Jugendträume träumte, und durch die ganze friedliche Vorstadtgegend, wo ich geboren und aufgewachsen bin, und die ich liebe, wie man nur seine Heimat lieben kann, so unscheinbar und wenig bemerkenswert sie auch sein mag. Es war ein holder Frühlingsabend, und die sinkende Sonne spiegelte sich und glühte in den Fenstern der alten, schmucklosen Häuser, die dort noch stehen, eingezwängt freilich zwischen vereinzelten hohen und stattlichen Neubauten, sonst aber unverändert und von demselben bescheidenen Aussehen wie zur Zeit, da die Seidenweber vom Schottenfeld ihre Schütze noch aus der Hand durch die Kette warfen. Goldene Fluten warmdurchsonnter Luft ergossen sich in breiten Strömen durch die einsamen Straßen, und in ihrem verklärenden Scheine grüßten mich aus den langen Zeilen städtischer Wohngebäude auch die altvertrauten stillen Häuser, in denen meine Großeltern und deren Väter und Großväter gelebt haben, und hinter deren wenig ansehnlichen Mauern sie aus den schimmernden Fäden des Seidenspinners auf großen hölzernen Handwebstühlen kunstvolle Gewebe verfertigten, Bänder und Zeuge, schwere und leichte, glatte und gemusterte. Denn alle meine Vorfahren, so weit ich von ihnen weiß, sind Seidenweber gewesen, und alle betrieben sie, ebenso wie viele andere ihrer Zunftgenossen, ihr bürgerliches Gewerbe in dieser westlichsten und höchstgelegenen Vorstadt von Alt-Wien, auf den ehemaligen schottischen Freigründen. Alle saßen sie hier, auf diesem gewerbfleißigen Boden, in ihren Werkstätten und kleinen Fabriken, emsig nach dem Rechten sehend und wacker selbst mit Hand anlegend, durchdrungen von dem Ernst ihrer Arbeit, auf der der Segen ruhte, stolz auf ihre Kunstfertigkeit und auf ihr Bürgertum, Freunde der Ordnung und der Gewissenhaftigkeit, bodenständig wie die Bauern, eigenwillige Herren über das Ihrige. Denn die Benediktiner-Abtei zu den Schotten, der sie als Grundholden zinsten, war ihnen keine harte Obrigkeit

Nun ruhen sie längst von ihrer Arbeit aus, draußen auf dem alten Friedhof, der in der Nähe des Schottenfeldes auf dem weiten Blachfeld der Schmelz liegt, und ihre Herzen, einst so voll von Hoffnungen und von Enttäuschungen wie die unsrigen, haben aufgehört zu sorgen und sich zu sehnen ...

Die Erinnerung, die die Tochter der Liebe und die Mutter der Treue ist, war in mir wach geworden an jenem goldnen Frühlingsabend, an dem ich nach so langer Zeit wieder die Stätte meiner Kindheit betrat, und es wurde der Wunsch in mir rege, die Hingeschiedenen zu besuchen. An ihren schlichten, ernsten Gräbern wollt' ich wieder einmal stehen, sie sollten nicht glauben, die stillen Toten, daß ich ihrer vergessen hätte. Und ich schlug die Richtung gegen die Schmelz ein.

Als ich aber an jenem alten, verträumten Hause vorüberkam, in dem zur Zeit, da ich ein ganz kleiner Junge war, meine Urgroßmutter noch gelebt, und das vor vielen, vielen Jahren den wunderlichen Namen »Zum blauen Guguck« geführt hat, da mußte ich unwillkürlich meine Schritte hemmen; denn aus einem der offenstehenden Fenster klang das eintönige Klappern eines alten Handwebstuhles an mein Ohr. Es war dieselbe Musik, die noch meine Jugend begleitet hatte, nur daß sie damals nicht aus einem Fenster, sondern aus all den vielen Fenstern der Hinterhäuser und Fabriksgebäude ertönte, die unsern Hof und Garten einschlossen. Es war die Musik, die seit den Tagen der großen Kaiserin Maria Theresia und ihres aufgeklärten Sohnes dieser fleißigen und tüchtigen Vorstadt ihr besonderes Gepräge aufgedrückt hatte, bis zu dem Zeitpunkt, wo der Großteil der Fabrikation mechanisch geworden war und allmählich in ferne Provinzorte hinaus verlegt wurde.

Und wie nun dieses einförmige und stete, unendlich schlichte und doch so kluge und freundliche Geräusch der ehrwürdigsten und vielleicht ältesten aller edleren Handarbeiten in meine Seele drang und mein Herz schwellen machte, da erwachte in meinem Innern ein leises Klingen und fröhliches Gedankenspinnen, wie die Saiten, wenn man in ein Instrument hineinruft, bedächtig widerhallen und einen langsam verschwebenden Akkord zurücktönen. Und es versanken vor meinen Augen wie mit einem Schlage die hohen, stattlichen Neubauten ringsum in den Boden, und nur die alten, treuen Häuser standen noch in den Gassen, und ich konnte in viele stille Höfe und in manchen schönen, träumenden Garten hineinsehen, zwischen dessen Gesträuchern ich ab und zu ein paar Gestalten in völlig veralteter Tracht zu erblicken glaubte, wie sie gleich nebelhaften Schemen über die Kieswege huschten und hinter blühenden Jasmin- und Fliederbüschen entschwanden.

Und als ich meinen Weg fortsetzte, da kamen mir auch die Leute, denen ich auf den Bürgersteigen begegnete, auf einmal so wunderlich altväterisch vor, und es war, als trügen manche von ihnen noch Fräcke und hohe weiße Halstücher und gemusterte Atlaswesten, und alle schritten so seltsam bedächtig und zufrieden an mir vorüber und sahen aus wie Menschen, denen alles wohlgerät, die sich nicht überstürzen, und die dabei doch etwas vom Fleck bringen.

Ich weiß nicht, wie es geschah, aber ich kam mir auf einmal wie verzaubert vor, und es muß wohl das alte Weberblut in mir in Wallung geraten sein, daß ich jetzt aus allen Häusern und aus allen Fenstern zugleich die alte, trauliche Musik der biederen Handwebstühle orgeln zu hören glaubte, wie sie vor hundert Jahren und teilweise noch in meiner Jugend diese emsigen, heute wie damals abseits von dem brausenden Verkehr der Weltstadt liegenden Gassen erfüllt hatte. Es war wie ein ganzes Konzert: dieses Klappern und Ächzen der Weberschemel und des Geschirrs, das mit den Schäften bedächtig auf- und niederrasselte, dieses Kollern des Gerölls und Klopfen des Bandmacherrechens, dieses Knarren der Korden und Klirren der Platinen, begleitet von dem leidenschaftlichen Schwirren der Winden und dem besonnenen Schnurren der Schweifrahmen, während die behaglichen Spulmaschinen in der Tiefe mitbrummten und das gleichmäßige Pochen der Weberladen langsam und gemessen den Takt dazu schlug. Und hoch über all diesen plötzlich entfesselten Rhythmen der Arbeit schwebte es wie ein fernes, leises Lied aus Altvätertagen, das sang von der Zeit, da der Urgroßvater die Urgroßmutter nahm, und alte Familiengeschichten aus Kriegs- und Friedenstagen, die die Winterabende meiner Kindheit gekürzt und seither halbvergessen in meinem Herzen geschlummert hatten, schlugen versonnen ihre Augen auf. Da wurde auf einmal das ganze wackere Völkchen der Seidenweber vom Schottenfeld um mich lebendig, und die Alten und die Toten waren wieder jung und lebten und liebten und sorgten und hofften und sehnten sich und hatten ihre schweren Zeiten und ihre liebe Not und blieben doch aufrecht dabei und tüchtig.

Träumend und in mich verloren war ich immerzu und immerzu gegangen, durch die stille Seidengasse, in der wir als Kinder an schneereichen Wintertagen mit dem Handschlitten auf- und niederfuhren wie in einer Dorfstraße auf dem Lande. Durch den Linienwall, der einst den ganzen, am rechten Ufer des Donaukanals gelegenen Teil der Stadt wie ein beengender Gürtel umschnürte, war noch bis vor wenigen Jahren die Welt, da wo die Seidengasse aufhörte, wie mit Brettern verschlagen. Heute scheint sie, dem unersättlichen Zeitgeist Rechnung tragend, überhaupt nicht mehr aufhören zu wollen; denn sie hat in die westliche Häuserzeile der Kaiserstraße ein großes Loch gestoßen und sich einen Weg ins Freie gebahnt. So fand ich mich denn unversehens auf dem Neubaugürtel – da entfloh der wunderliche Spuk und war dahin. Das rollende Getöse der Dampfwagen und das Poltern der elektrischen Trambahnen hatte ihn verscheucht. Denn es laufen dort heute eine Menge Schienenwege kreuz und quer, und man kann elektrisch oder mit Dampf nach allen Himmelsgegenden fahren.

Unwillkürlich sah ich mich nach dem Linienwall um, dem ich in meiner Jugend so bitter Unrecht getan habe, indem ich, weil er die Verzehrungssteuerlinie abgrenzte, sein ganzes Dasein für eine fiskalische Bosheit hielt. Denn die bucklige Marie, die im Geschäft meines Großvaters ihr Leben mit dem Kavilieren von Seidensträhnen und dem Erzählen unwahrscheinlicher Geschichten hinbrachte, hatte mir weisgemacht, er sei vor vielen Jahren auf Befehl der Polizei zur Strafe für den BäckerrummelEin kleiner Volksaufstand, der 1805 wegen der Brotteuerung in Wien ausbrach, mit der Beraubung und Verwüstung vieler Bäckerläden endete und erst durch das Einschreiten der militärischen Gewalt niedergeworfen werden konnte. angelegt worden. Damals habe man die Verzehrungssteuer eingeführt, um zu zeigen, daß justament nicht nachgegeben wird, und deswegen müßten seither die Leute das Brot noch viel teurer kaufen als früher und alle andern Lebensmittel noch obendrein auch. Und das geschehe ihnen ganz recht, denn warum haben sie den Rummel gemacht!

Das erzählte sie mit vieler Befriedigung, denn sie stand immer auf Seite der Obrigkeit und der unumschränkten Gewaltherrschaft. Natürlich hab' ich es auch geglaubt, denn es gab eine Zeit, wo ich alles glaubte, was die bucklige Marie erzählte. Aber ich verachtete fortan den Linienwall aus tiefster Seele. Erst später geriet allmählich das Ansehen der buckligen Marie bei mir ins Schwanken, und den Todesstoß gab ihm eine verstaubte Geschichte der Stadt Wien, die ich einmal, als ich schon lesen konnte, in der aus sechs oder acht Büchern bestehenden Bibliothek meines Großvaters entdeckte. Dort stand es gedruckt, daß der Linienwall zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts in fortifikatorischer Absicht gegen die aufrührerischen Horden der Kuruzzen angelegt worden war, als sie unter Franz Rakoczy II. den unglaublichen Mut fanden, die Kaiserstadt mit einem Überfall zu bedrohen. Da sah ich erst, wie böswillig die bucklige Marie ihn verleumdet hatte, und leistete ihm Abbitte.

Seither ist der brave Linienwall ebenso wie manches andere Denkmal einer überlebten Verteidigungskunst spurlos vom Erdboden verschwunden, und man kann ohne Umweg aus der Seidengasse nach dem Schmelzer Friedhof gelangen. Und da stand ich auch schon an dem grünen Eiland des Gottesackers, an den die Flut der neuerbauten Häuser näher und näher herandrängt. ...

Die Sonne war untergegangen, der zartblaue Himmel mit hellem, durchsichtigem Gold übergossen, der Kahlenberg und der Leopoldsberg, die aus der Ferne über die Friedhofsmauer grüßten, standen im ersten Grün des Frühlings, und an derselben Stelle, wo einst die Burg Leopolds des Heiligen geragt, und wo später ein Habsburgischer Leopold dem Babenbergischen eine Gedächtniskirche gestiftet hatte – auf dieser altehrwürdigen, weit ins Donauland hinausschauenden Höhe, die seit einem Jahrtausend so viele gegen deutsche Art und deutsche Sitte heranwälzende Völkerbrandungen der Ungern, Böhmen, Türken und Franzosen zu ihren Füßen hatte zerschellen sehen, da spiegelte sich jetzt das bereits untergesunkene Tagesgestirn in einem blitzenden Fenster, als könne es sich nicht losreißen von dem Anblick der prangenden Hügel und der weiten dämmernden Ebene und der uralten, zum Himmel ragenden Türme dieser einzig schönen Stadt. Und wie von einem funkelnden Rubin strahlte ein heller, weithin leuchtender Widerschein von diesem Fenster aus und warf seinen Glanz über das schon im Abendschatten atmende Häusermeer. Es war gleichsam wie ein leise segnender Gruß, dieses Licht aus der Höhe, wie ein trostreiches Aufleuchten von Zuversicht und Vertrauen, wie eine glühende Mahnung an das hastende und sich überstürzende Leben dort unten, der großen Vergangenheit nicht zu vergessen, in der ein ehrenfestes, wackeres und freimütiges Bürgertum diesen vorgeschobenen Posten des deutschen Volkes zu einem seiner treuesten Bollwerke und, trotz mancher widriger Verhältnisse, zu einer Stätte von eigenartiger und beachtenswerter Kultur gemacht hatte.

Bis zu meinen Gräbern herüber zitterte der blendende Glanz und vergoldete die Inschriften auf den Steinen. Da gedachte ich, wie auch diese Toten in ihrem kleinen Kreise und auf ihre Art, eng verwachsen mit dem Ganzen, mitgeholfen hatten, es zu einem blühenden Gemeinwesen zu entwickeln, Namenlose in der Menge nur, wunderlich oft in ihren Mitteln und beschränkt in ihrem Blicke, aber durchdrungen von der Verantwortung, die das Leben uns auferlegt, und von der Heiligkeit der Arbeit. ...

Eine frische, herbe Brise hatte sich erhoben und wehte von den Hängen des Wienerwaldes und bewegte seufzend und flüsternd die Wipfel und Zweige der Lebensbäume, die über den einfachen Grabhügeln ragten. In den Hängeweiden, die an der Mauer standen, zwitscherten die Vöglein, und eine Amsel, die sich auf dem Dachfirst des Totengräberhauses niedergelassen hatte, sang ihr Abendlied. Und da wurde mir weicher ums Herz, als es im zwanzigsten Jahrhundert vielleicht ratsam ist zu gestehen, und mir war, als spürte ich etwas wie einen salzigen Geschmack an den Lippen – was mochte es sein? Sollte unbemerkt ein kleiner, heller Tropfen aus meinem Auge gefallen sein, weil schon einmal an diesem Abend mich mein Träumen in Zeiten zurückgeführt hatte, die nahe an die Epoche der Empfindsamkeit grenzten, wo Graburnen und Trauerweiden einen beliebten Gartenschmuck bildeten?

Ich weiß es nicht. Aber mit einmal wurden mir die stummen Laute der Natur rings um mich her zur Sprache, und ich verstand, was die Vöglein sangen, verstand die Stimme des wehenden Windes und das Raunen und Rauschen, das durch die dunklen Lebensbäume ging.


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