Emil Ertl
Die Leute vom Blauen Guguckshaus
Emil Ertl

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In den ersten Tagen des Mai war es, und der Flieder im Gugucksgarten hatte schon die kleinen, grünen Träubchen angesetzt, aus denen sich die duftenden Blütendolden entwickeln, als eines Abends die Nähterin Lois, dieselbe, die einmal mit ihrer verschluckten Nadel und ihrer Fürsorge um Wettls Seelenruhe im alten Salzküfel den Quartal-Zornpünkel geweckt hatte, ins blaue Guguckshaus gestürmt kam, um ihren Schützling mit Neuigkeiten zu überraschen. Die Webergesellen und die Spulerinnen und Winderinnen und Schweiferinnen hatten eben Feierabend gemacht, und Wettl stand in der Küche, um das Abendessen zu rüsten, weil die Magd an diesem Tage alle Hände voll mit der Wäsche zu tun hatte. Und wie die Wettl gerade damit fertig ist, mit dem Kochlöffel schöne Nockerln zu formen, da fliegt also plötzlich die Tür auf, und wie die Windsbraut fährt die beflissene Lois mit wehender Haube in die Küche herein.

»Jetzt wird sie sich aber wundern, Jungfer Wettl! Jetzt wird sie sich aber wundern!«

Was denn los wär'? fragt die Wettl neugierig und läßt über dem Getue beinah' die Nockerln anbrennen, die sie nunmehr auf dem Herde betreut.

Ein Brief, geheimnist die Lois, wär' gekommen, von wem, das verrate sie nicht.

»Ein Brief?« leuchtet es über des Mädchens Antlitz. Und dann ist's auf einmal, als ob das Herdfeuer es rot anglühe, und zag und zweifelnd versucht sie die altmodische Sphinx zu enträtseln, die so unerwartet vor ihr aufgetaucht ist. Im kurzen Sattelrock, wie man ihn vor zwanzig Jahren getragen, mit Buffanten, die um die Hüften so angeschwollen waren, daß sie fast die Arme darauf legen konnte, steht die Lois vor ihr und sieht mit ihrem Schwerenöterlächeln unter der länglichen, spitz zulaufenden Nase fast wie ein sitzengebliebenes und zur alten Jungfrau gereiftes Mausfräulein aus, aber wie ein recht gutmeinendes.

»Und wer sollt' denn mir einen Brief schreiben? Spann sie mich nicht so auf die Folter, Jungfer Lois, bitt' schön!«

»Aber wo werd' ich sie auf die Folter spannen, Hascherl! Warum flieg' ich denn atemlos her, aus der Kaiserstraße, als daß ich ihr etwas Gutes vermelde?«

»Jesus, Maria – aus der Kaiserstraße?«

»Im groben Schrollhaus ist besagter Schreibebrief angekommen, und an die Gugucks-Wettl enthält er einen schönen Gruß von – na, von wem denn also, rat' sie einmal?«

»Vom Lebold!« sagte Wettl leise, indem sie tief Atem schöpfte. »Und wie geht es ihm denn?«

Gut, weil er nur mit den Franzosen zu tun hat und nicht mit seinem Herrn Vater. Der verzeiht es ihm halt nicht, daß er sich hat zur Landwehr werben lassen.«

»Als ob der Lebold etwas anderes tät', als was sich für jeden braven Bürgerssohn in diesen Zeiten einfach gehört!« sagte Wettl zornig.

»Und doch macht der alte Schroll, als wär' sein Bub auf Abwege geraten. Jeder Mensch, sagt er, soll bei dem Metier bleiben, das er gelernt hat. Dem Napoleon seine Sach' sei das Kriegführen, und einem Bandmacher seine das Bandmachen. Ein Nichtsnutz, wer in einem fremden Beruf herumkalfaktert, hab' ich ihn schreien hören.«

»Ein Nichtsnutz? Und so etwas traut er sich dem Lebold anzuhängen?« rief Wettl entrüstet.

»Wenn auf irgendeinen – auf den paßt sein Hausname,« sagte die Nähterin mit Überzeugung. »Ein grober Klumpen ist er und ein harter Klotz! Und ein Justamenter trotz seinem silberweißen Kopf!«

Sie griff in die Tasche, um den Brief zu suchen. Für sie war der Ridikül, den die neue, sacklose Kleidermode erfunden hatte, ein überflüssiges Gerät. Bis zum Ellenbogen verschwand ihre fischende Hand in der riesigen Sammeltasche, die unter den Buffanten des Kleides angebracht war. Endlich zog sie das Papier hervor und schwang es in der Luft.

»Was meint sie wohl, Jungfer Wettl, was der grobe Schroll auf den Brief gesagt hat, wie er ihn gelesen? Daß der Lebold sein Sohn nicht mehr ist, hat er gesagt!«

»Um Christi Himmelswillenl«

»Aus der Gesindestube, wo ich genäht hab', da konnt' ich's mit anhören. Und wenn er vor mir kniet, hat er gesagt, ich verzeih' es ihm nicht! Darauf die Schrollin, die eine gar ernste und kluge Frau ist: Versünd' dich nicht, sagt sie, wo doch der Lebold im Feld steht; leicht fügt es noch Gott, daß du vor ihm kniest.«

»Und er?«

»Er lacht nur darauf in seinem unbändigen Trotz. Wenn es einmal so ist, sagt er, nachher soll alles wieder gut sein. Aber früher nicht, merk es dir, früher nicht!«

Wettl standen die Augen voll Tränen.

»So ein Unmensch! Den eigenen Sohn verstoßen und den ältesten obendrein! Wohl hart ist es für den Lebold!«

»Ein Unmensch, mein' ich, wird er nicht einmal sein,« sagte die Lois und machte ihr Mäuseschnäuzchen. »Aber eines hat ihm gefehlt im Leben: Nadel hat er keine verschluckt! Denn wenn er nur ein einzigesmal in seinem Leben eine Nadel verschluckt hätt', so wär' er lang nicht der grobe Schroll, der er ist.«

»Es kann doch nicht jeder eine Nadel schlucken!« sagte Wettl, ihre Tränen trocknend.

»Freilich nicht, nicht jedem meint es Gott so gut!«

»So schlimm will sie sagen, Jungfer Lois?«

»Nein, so gut sag' ich; denn ich hab' es mir überlegt und gefunden, daß der alte Salzküfel recht hat: das richtige Gute kommt erst, wenn das Schlimme einmal dagewesen ist. ... So, und da wär' jetzt der Brief, wenn die Jungfer Wettl etwas Einsicht möcht' nehmen?«

»Und darf ich es wirklich?«

»Freilich darf sie's. Die Schrollin selbst, dem Lebold seine Mutter, schickt ihr den Brief. Sie ist ihr, was ich so schätzen kann, recht wohlgesinnt.«

Wettl leuchtete vor Glück.

»Wirklich? Ich laß' ihr halt vielmals die Hand dafür küssen!« Sie zögerte mit dem Brief in der Hand am Herdfeuer. »Könnt' sie mir nicht die Liebe tun, Jungfer Lois, und eine Minute auf die Töpfe passen, daß ich ihn in Ruhe lesen kann, ohne daß derweilen etwas passiert? Denn die Katl hat heute große Wäsch', darum hab' ich selber in die Küche schauen müssen. Und der Herr Vater, der Vincenz und sogar schon die Lehrbuben, die wir in der Kost haben – in allem verstehen sie Spaß; aber wenn am Essen etwas fehlt, gleich ist der Teuxel los!«

»Laß sie sich nur Zeit mit dem Lesen! Es soll nichts verbrennen, dafür verbürg' ich mein Seelenheil,« sagte die alte Jungfer.

Sie blieb bei den Nockerln, mit einem Herzen, das alle Seligkeiten der ersten Liebe nachempfand, so stark fast, als liebte es selbst; denn sie besaß eine große Übung darin, sich an fremden Feuern zu wärmen. Wettl aber schlich sich in die Wohnstube, setzte sich an den großen Zampelstuhl des Vaters und las mit pochendem Herzen, was der Lebold geschrieben hatte.

»Liebste Mutter, hochgeehrter Herr Vater und teuere Geschwisterte!

So ist also Euer Lebold zum erstenmal in einem Kugelregen gestanden, es ist nur so geflogen rings um mich herum. Wir haben uns hinter dem Dorf Ebelsberg versteckt gehalten, der Feind kommt daher, und wir fangen an zu feuern. Gleich zuerst ist der Simmel Franz neben mir gefallen und war auch gleich tot. Ich hab' zum erstenmal einen toten Menschen gesehen außer dem guten Großvater, wie der gestorben ist. Aber im Krieg denkt man sich: im nächsten Augenblick bist du es, und da macht es keinen so großen Eindruck. Man hat auch wenig Zeit zu überlegen und kann nur immer das Nächste im Auge behalten. Mit großem Schmerz muß ich vermelden, daß wir leider trotz Mut und Disziplin nicht im Sieg gewesen sind. Es ist uns zwar gesagt worden, daß es nicht schön wär, wenn man sich in Briefen Bemerkungen erlaubt und durch schreckhafte Zeitungen den Landsleuten Angst macht oder sie gar gegen die Obrigkeit aufwiegelt. Aber was wahr ist, das ist einmal wahr, und daß bei Landshut und Regensburg unser Militär siegreich gewesen wär, das ist halt eine arge Lug. Und auch wir sind bei Ebelsberg geworfen worden und haben den Rückzug antreten müssen. Wer weiß, wo wir noch hinkommen, es heißt, daß wir uns vielleicht zum Generalissimus, kaiserl. Hoheit, nach Böhmen hinüberschlagen werden. Aber leicht haben wir unsere Position nicht aufgegeben, und besonders um die große Brücke über die Traun ist heftig gekämpft worden. Aber die Franzosen haben sie schließlich doch genommen, und uns ist nichts geblieben als das Mauthäusl am herüberen Ufer, das war aber mit dicken Mauern und fest verrammelten Fenstern versehen. Da haben wir also ordentlich herausgeknallt, daß jeder Franzos, der die Brücke hat passieren wollen, ein gehöriges Mautgeld bezahlen mußte. Und dann auf einmal wir Wiener hervor aus unserm Hinterhalt und mit Hurra gegen den Feind, alles nur mit dem Bajonett und manchmal gar mit dem Kolben, daß man eine Zeitlang gar keinen Schuß gehört hat, nichts als das Jammern der Blessierten. Und schon sind wir mitten über der Traun, da fängt es auf einmal drüben zu knattern an, und der Masséna hetzt uns ein ganzes Regiment auf den Leib, daß die Unsrigen nur so hingepurzelt sind, ein paar gleich noch lebend ins Wasser hinunter. Der Wimmer-Pepi war auch durch die Brust geschossen, hält sich aber noch mit der Hand am Brückengeländer und schaut mich so gottsjämmerlich verzweifelt an, voller Todesangst – rufen hat er gar nicht mehr können. Ich dräng mich also durch, daß ich ihm helfe und ihn hereinzieh, aber eh' ich noch hingekommen bin, hat seine Kraft schon nachgelassen, und er stürzt in den Fluß, daß das Wasser hoch aufspritzt. Wie ich mich jetzt wieder gegen die Blauröcke drehe, da seh ich im nämlichen Augenblick auch den Hauptmann Seckendorf stürzen – um den war mir wohl leid. Seine Leute haben ihn verwundet zurückgetragen, wir andern aber nur desto grimmiger vorwärts und die Franzosen mit dem Bajonett geworfen, bis die vermaledeite Brücke wieder unser war. Man hätt es gar nicht für menschenmöglich halten sollen, wo wir doch in der Minderzahl waren. Zu behaupten war die Stellung freilich nicht gegen eine solche Übermacht, aber zwei ganze Regimenter hat der Masséna nachrücken lassen müssen, und wir sind dennoch nicht geflohen, sondern nur ganz langsam und in voller Ordnung retiriert. Und vorher haben wir noch das Mauthäusl und ein paar Schupfen und Stadeln, die in der Nähe waren, in Brand gesteckt, damit die Franzosen keine Deckung finden. Dabei ist aber etwas sehr Trauriges geschehen. Denn wie ich mich erkundige, wo sie den Hauptmann Seckendorf hingetragen haben, so hör ich erst, daß er noch mit mehreren Blessierten in der Schupfen gelegen ist, die die Unsrigen angezündet haben. Der Krieg ist doch etwas Schreckliches! Wenn ich nur hoffen dürfte, daß der Herr Vater mir verziehen hat und nicht mehr bös auf mich ist – es wäre mir ein großer Trost. Ich bin ja nicht aus Freud an dem grausigen Handwerk dazugegangen, und es wär' mir lieber, an meiner Liegbank stehen, als den Schießprügel tragen. Aber ich kann mir nicht helfen, was der Herr Vater auch sagen mag – in dieser schweren Zeit, kommt mir vor, ist es unsere Pflicht, mannhaft zusammenzustehen, damit wir endlich einmal das unwürdige Joch abschütteln, das auf uns liegt. Denn der Übermut mit dem der Napoleon gegen unsern Kaiser und unser Vaterland aufzutreten wagt, verdient wirklich eine scharfe Züchtigung. Zum Beispiel heißt es jetzt wieder, er marschiert geradenwegs auf Wien. Wenn das wahr ist, so ist es mir doppelt leid, daß wir es nicht zuwegen gebracht haben, ihm Herr zu werden und ihn aus Baiern hinauszuschmeißen. Aber ich glaube, der Generalissimus, kaiserl. Hoheit, wird uns schließlich doch noch zum Siege führen. Bis dahin muß halt die Besatzung von Wien und die Bürgermiliz die Franzosen womöglich am Linienwall aufhalten, damit sie nicht in die Stadt hineinkommen und keine Deckung finden. Womit ich in Anhoffung, daß der Herr Vater mir nicht mehr zürnt, verbleibe

Euer dankbarer und liebender Sohn und Bruder
Lebold«

Unten stand noch eine Nachschrift auf dem Briefe, die Wettl mit entzückten Augen las und schließlich mit Inbrunst küßte: »Und grüßet mir auch recht schön die Wettl aus dem blauen Guguckshaus!« Nichts weiter. Aber genug für sie.

Sie stand in den Jahren, wo ein leises Wort, ein ahnender Gedanke beglücken können ...


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