Emil Ertl
Die Leute vom Blauen Guguckshaus
Emil Ertl

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***

Ein paar Tage darauf klebt eine Kundmachung an allen Straßenecken: Alle Waffen abliefern bei Todesstrafe!

»Na, alsdann!« meinte der Guguck. »Was hab' ich denn gesagt!«

Der Grundwächter kommt sogar nachfragen, ob keine Waffen mehr im Hause wären?

»Ein altes, rotes Parapluie, wenn S' wollen?« lacht die Wettl.

»Ich hab' mein Gewehr schon abgeliefert,« erklärte Kebach.

»An wen?«

»An wen? An die Parlezvous natürlich. Glauben Sie, ich brauch' warten, bis es dem WohllebenStephan von Wohlleben, Bürgermeister von Wien einfällt? Das hab' ich schon lang gewußt, daß abgerüstet wird, wenn's mit dem Bum-bum aus ist.«

Der Vincenz kam wieder heim und ging noch ein paar Tage lang in seinem weißen Waffenfrack im Hause umher und erzählte von seinen Kriegstaten. Aber seine Muskete hatte auch er abliefern müssen.

Für die schottischen Freigründe war also der Krieg so gut wie zu Ende. Dafür wurde am Stammtisch in der »Kleinen Kohlkreinzen« das Wortgefecht um so eifriger wieder aufgenommen. Die allgemeine Unzufriedenheit und Enttäuschung löste die Zungen. Man schimpfte leise auf die Eroberer, gegen die offen aufzumucken ein gefährliches Wagnis gewesen wäre, und laut auf die eigene Regierungs- und Militärgewalt, die vorderhand aufgehört hatte, die zuständige Obrigkeit zu sein. Die Lasten der Einquartierung wurden bitter empfunden, aber weniger dem Feinde aufs Kerbholz geschrieben, der nur nach Kriegsbrauch verfuhr, als den Eigenen, die die Kaiserstadt und ihre Bewohner im Stich gelassen hätten, nachdem alle Hohen und Vornehmen sich geflüchtet. Der Guguck hatte sonst eine gewichtige Stimme in der »Kohlkreinzen«, aber in dieser Zeit der Unordnung war sein Einfluß im Sinken begriffen. Der rote Igel und die stille Andacht führten das große Wort und wurden nicht müde zu sticheln und zu wühlen und das eigene Nest zu beschmutzen.

»Stiefel über Stiefel!« sagte der Mestrozzi. »Erst lassen sie ganz gemütlich den Napoleon herein und geben uns preis. Dann führen sie die Regimenter recht weit fort vom Schuß und verstecken sie in irgend einem Winkel des Reiches, damit ihnen nichts geschieht. Assurdità! Wissen möcht' ich nur, warum der Erzherzog Johann uns nicht aus Innerösterreich zu Hilfe kommt?«

Das rote Haar des Woitech sträubte sich ganz widerborstig, wie es sich für einen richtigen Oppositionsmann ziemt.

»Und was treibt denn eigentlich der Karl so lange in Böhmen?« murrte er. »Sind denn in Böhmen Franzosen?«

»Der Kaiser wird schon wissen, was er will,« meinte Kebach kleinlaut, »und der Karl auch; aber der Maxl hat's verfehlt. Über den Kuruzzenwall hätten die Parlezvous stolpern müssen!«

Auch her grobe Schroll aus der Kaiserstraße, sonst mehr zurückgezogen und fast menschenscheu, war einmal da. Dem blieb Bürgermiliz und allgemeines Aufgebot ein Greuel. Mit seiner gewohnheitsmäßigen Bewegung fuhr er sich durch den weißen Haarbusch und machte grantige Augen.

»Die ganze Soldatenspielerei paßt nicht für unsereinen,« sagte er. »Wie war es denn 1805, da der Napoleon in Schönbrunn Hof gehalten hat? Da hat die Bürgermiliz den Dienst und die Patrouillen versehen müssen, ist ihr aber weder Pulver noch Blei erlaubt gewesen. Alles war nur eine Komödie, und das einzige wirkliche Recht, das man uns eingeräumt hat, war, daß die Hausherren die Kosten der Einquartierung haben tragen dürfen. Und auf das Zahlen wird's für uns Bürger auch dasmal wieder hinauslaufen, verlaßt euch darauf! Deswegen sollen sie uns bei unserer Arbeit lassen, damit wir was verdienen. Der hohe Adel mag in den Offiziersstand treten, das ist seine Bestimmung, und die Taugenichtse und armen Schlucker, die zu schlecht für ein Handwerk sind, sollen sie auch in die Uniform stecken, die verdienen nichts Besseres, uns aber lasse man in Frieden!«

»Was reden Sie, Schroll?« sagte der Guguck; »steht nicht Ihr eigener Bub, der Lebold, auch bei der Landwehr?«

»Aber gegen meinen Willen!« sagte der Schroll finster. »Das sind alles so überstiegene neuzeitliche Verdrehtheiten. Warum hat man die lebenslängliche Dienstpflicht aufgehoben, gerade in einem Zeitalter, das von Kriegslärm widerhallt wie kaum ein anderes? Was haben wir jetzt davon? Daß eine Menge Gesindel sich herumtreibt, das gelegentlich die Bäckerläden plündert, wie vor vier Jahren geschehen. Und statt dessen sollen jetzt anständige und unbescholtene Bürger und Bürgerssöhne den Schießprügel tragen? Das ist eine verkehrte Welt! Der Bürger zahlt seine Steuern und Umlagen und zinst der Grundobrigkeit. Dafür sollen die auch die nötigen Soldaten stellen und uns den Feind vom Leibe halten. Wir tun unsere Pflicht – sollen jene die ihrige tun, dann ist alles in schönster Ordnung!«

Kebach fühlte sich halb und halb persönlich angegriffen.

»Warum soll in Zeiten der Not nicht auch der Bürger Waffen tragen für Kaiser und Land? Das seh' ich doch nicht ein!«

»Wenn er sich zu dem Gesindel werfen will, das in der Livree herumrennt – ich hindere ihn nicht.«

»Und so was läßt du dir sagen, muntere Tyrolerin?« versuchte Kebach aufzuwiegeln; »und steckst es ruhig ein, wo du selber bei der Miliz bist?«

»Gewesen!« sagte Reckenschuß. »Ich tu nicht mehr mit. Was werd' ich mich deswegen erhitzen!«

»Nein, das muß ich schon sagen,« eiferte der Guguck, »wenn man sein Gewehr in der Faust hält und steht dem Feind gegenüber – das sind schon ganz eigene Empfindungen, die man dann hat. Wer es nicht kennt, der redet wie der Blinde von der Farb'!«

»Wo bist du eigentlich das erstemal im Feuer gestanden, blauer Guguck?« fragte Mestrozzi.

»Im Feuer nicht,« sagte er zornig. »Aber glaubst du, das war nicht gefährlich an der Laimgruben? Freilich hab' ich vor der Übermacht kapitulieren müssen. Im Kriege ist das so: der Schwächere kapituliert vor dem Stärkeren. Das ist aber keine Schande. Regensburg hat auch kapituliert ...«

So wurde in der »Kleinen Kohlkreinzen« allabendlich große und kleine Politik getrieben und allerhand Scherz und Spott dazwischen.

Wie es aber gegen Pfingsten geht, da stecken sie an einem Abend die Köpfe gar besonders eifrig zusammen und flüstern miteinander und streiten nicht mehr, sondern zwinkern mit glänzenden Augen sich gegenseitig zu, wie in stillem Einverständnis. Ja, das waren Neuigkeiten! Der Generalissimus, heißt es, steht auf einmal am Bisamberg und hat die getrennten Teile seines Heeres zusammengezogen und bietet dem Bonaparte eine Entscheidungsschlacht im Marchfeld an. Vom Stephansturm kann man die Kanonen und die Helme und Kürasse der Reiter in der Sonne blitzen sehen!

An diesem Abend wurde es spät. Die plötzlich wiedererwachte Hoffnung suchte immer wieder nach neuen Worten sich auszusprechen. Und auf einmal, weil sich endlich wieder ein Ausblick zeigte, waren auch die Mißvergnügten wieder Patrioten. Wie triebkräftige, aber durch Nachwinterkälte zurückgehaltene Blattknospen des Frühlings hatte ihre vaterländische Begeisterung nur eines Sonnenstrahls bedurft, um aufs neue ins Kraut zu schießen; und umso schöner gedieh sie, mit je mehr Grinzinger und Heiligenstädter sie begossen wurde.

In der großen Wohnstube des blauen Guguckshauses wurde dagegen viel geseufzt an diesem selbigen Abend. Dort saß Wettl mit der Roslini und der Nähterin Lois, die ihr Gesellschaft leisteten, bei der Ölfunse am Tisch und zupfte gemeinsam mit ihnen Scharpie und dachte an den Lebold. Von Thomas hatte sie gehört, daß er ihn gesehen habe, in jener Nacht, da die Stadt beschossen wurde, und daß noch vor der Kapitulation die Landwehr zugleich mit den Linientruppen über die Donau nach dem Marchfeld abgezogen sei. So nahe war er ihr gewesen, ohne daß sie es ahnte! Jetzt hieß es, Nußdorf gegenüber, an der sogenannten schwarzen Lacke, habe man Abteilungen der Wiener Bataillone beobachtet. Vielleicht stand auch Lebold in jener Gegend, die für gefährlich galt, weil man meinte, von Nußdorf aus könnten die Franzosen am leichtesten den Donauübergang erzwingen. Wer weiß, wie bald er das Scharpie nötig haben würde, das sie sorgsam aus der weichen Leinwand zupfte!

Aber Wettl schwieg und sagte kein Wort von dem, was in ihr vorging, es hätte ihr nur weh getan, davon zu sprechen. Und auch die Lois getraute sich nicht von Lebold anzufangen, obzwar sie gleichfalls fast wie eine Liebende an ihn dachte. Und die Roslini, die war überhaupt mehr eine Stille und lauschte nur immer in sich hinein. So hörte man neben dem Ticken der Standuhr auf dem Schubladkasten weiter nichts, als ab und zu einen leisen Seufzer, mit dem die drei Jungfrauen abwechselnd die barmherzige Samaritertätigkeit der emsigen Finger begleiteten. Und von Zeit zu Zeit machte die Ölfunse, wenn die Roslini sie aufpumpte, ein rülpsendes: »Quah« –.

Einmal lächelte die Lois ein wenig mit der Spitze ihrer Nase und sagte ohne weiteren Zusammenhang, es müsse nicht gerade immer eine verschluckte Nadel sein, von der der Segen ausgehe. Darauf schwiegen sie wieder eine geraume Zeit und rupften an ihren Leinwandflicken. Bis die Roslini endlich aufstand und meinte, es sei Zeit schlafen zu gehen, die Wettl möge sich nur wacker halten, es könne alles noch gut werden! Auch die Lois empfahl sich und wünschte ihr ruhsame Nacht.

»Dank' schön!« sagte die Wettl. »Und ich will auch zu Bett gehen. Den Herrn Vater kann ich doch nicht erwarten. Gleich nach dem Abendessen ist er fortgegangen mit einer sehr ernsten Miene unter dem Hut. Sicher haben sie wichtige Dinge miteinander zu besprechen in der Kohlkreinzen.«

Als die beiden alten Jungfern sich entfernt hatten, trat Wettl an ihr Bett, das unweit der Tür in der Ecke stand, nahm den grünüberzogenen Kuvertrahmen ab und setzte das Bettzeug instand. Dann löschte sie die Ölfunse und begann sich zu entkleiden. Nicht daß sie, gleich dem heiligen Aloisius, von dem der Herr Kooperator von St. Laurenz so gern predigte, sich gescheut hätte, den eigenen nackten Fuß oder Arm zu erblicken, sondern wegen der im Bürgerblut liegenden Sparsamkeit. Denn eine Flamme, die nutzlos auch am geringsten Stümpchen zehrte, hätte ihr förmlich auf der Seele gebrannt. Und das Ausziehen traf sie auch in der Dunkelheit. Überdies fiel ein blasser Widerschein des Mondlichts in die Stube, das draußen auf der Straße lag.

Während sie sich gemächlich eines Kleidungsstückes nach dem andern entledigte und es zusammengefaltet auf den Stuhl neben dem Bett legte, ließ sie ihre Gedanken schweifen und dachte an dies und an das ... Aus geht schneller als an, dachte sie, indem sie mit einem Ruck des Daumens von der Kniekehle bis zur Ferse den Strumpf abstreifte ... Dann dachte sie an ihren Großvater ... Wenn sie als Kind auf seinem Schoße saß, fuhr er manchmal mit seiner knöchernen Hand über ihr Gesicht auf und nieder. Und bei der Rückfahrt scheiterte er an der kindlichen Bummelnase ... »Hinunter geht's sehr gut,« pflegte er zu sagen, »hinauf aber gar nicht.« ... Niederreißen ist auch leichter als wieder aufbauen, dachte sie weiter. Wenn der Napoleon all die Häuser und Mauern wieder aufbauen müßte, die er niederschießen läßt! ...

Sie stieg ins Bett und streckte ihre Glieder ... Wenn halt jetzt die armen Soldaten auch so ein gutes Bett hätten! ... Vater unser, der du bist im Himmel, geheiliget werde dein Name, zukomme uns dein Reich, dein Wille geschehe – aber daß sie den Lebold erschießen, wird gewiß dein Wille nicht sein und darum wirst du es auch nicht geschehen lassen! ... Ach, es war doch schwer, so zu beten, wie sie dem Lebold in Schönbrunn gesagt hatte, daß man beten solle ... Vater unser, der du bist ... Vater unser, der du bist ... Vater unser ... Warum er ewig nicht heimkommt, der Vater? Gut, daß diese Nacht nicht geschossen wird! ...

Eben wollte sie einnicken, da holte die Glocke vom Laurenziturm aus und begann zu schlagen und machte unter tiefem, mitschwingendem Gebrumm wohlgezählte zwölf Schläge hintereinander. Mitternacht! Zwölf Uhr nachts! Es wurde ihr doch ein wenig enterisch zumute. Nicht daß sie sich vor Gespenstern fürchtete. Aber daß der Vater noch immer nicht nach Hause kam? Es konnte ihm doch leicht einmal etwas zustoßen in den ausgestorbenen Straßen, wenn er angeheitert nach Hause ging und vielleicht übermütigen französischen Marodeuren begegnete! Der Mond schien jetzt voll ins Zimmer und legte grelle, scharf geschnittene Tafeln über die Fichtenbretter des Fußbodens. Das Stangenwerk und Fadengewirr des Zampelstuhls, der am Fenster stand, warf unzählige Linien sich überschneidender Schatten durch diese Helligkeit.

Sie schloß die Augen und nahm sich vor, an nichts mehr zu denken.

Wenn man einschläft, dachte sie, ist es gerade so, als ginge man die Mariahilferstraße nach Schönbrunn hinaus. Drinnen fahren noch eine Menge Wagen und Fuhrwerke und rasseln auf dem Pflaster. Dann kommt man auf die Chaussee, und nur hie und da fährt noch etwas an einem vorbei, aber man hört's nicht mehr arg. Und dann kommt man vor die Linie, da ist alles still, und ringsum sind grüne Felder, und nur die Lerchen zwitschern in der Luft, daß einem wohl und friedlich zumute wird ... auf den weiten ... auf den weiten, weiten grünen Wiesen ...

Und nun wäre sie wirklich eingeschlafen, aber sie vernahm leise tastende Schritte die Treppe herauf, und dann wie die Tür vorsichtig geöffnet wurde, und atmete erleichtert auf: Endlich der Vater! Ein ganz klein wenig mußte sie doch schon geschlafen haben, denn sie hatte es ganz überhört, wie er unten das Haustor aufschloß. Jetzt fiel es ihr auf, daß er den Riegel nicht vorschob, der statt eines Schlosses an der Tür angebracht war. Der Riegel machte einen eigenen, leise singenden Ton, wenn man ihn vorschob – das konnte sie unmöglich überhört haben. Sicher hatte er ein bißchen zu tief ins Glas geguckt, sonst hätte er nicht darauf vergessen. Sie beschloß aber nichts zu sagen und sich zu stellen, als schliefe sie schon, und den Riegel selbst vorzuschieben, wenn er in seine Schlafkammer gegangen wäre. Denn wenn er in solchem Zustande einer kleinen Anheiterung nach Hause kam, war er gewöhnlich sehr gesprächig und aufgeräumt und plauderte gern noch lange, wenn er sie wach fand. Das hätte sie ganz aus dem Schlaf gebracht.

Und richtig, schon näherten seine Schritte sich ihrem Bett. Sie schloß die Augen und tat, als schliefe sie. Sie fühlte, wie er sich über sie neigte und sie eine Weile betrachtete. Sie hörte sein leises Atmen über sich und glaubte beinahe seinen Hauch auf ihrer Wange zu spüren. Schon stand sie im Begriffe, die Augen aufzuschlagen und ihn lächelnd zu umhalsen – da zog er sich lautlos wieder zurück und entfernte sich ebenso behutsam, wie er sich genähert hatte. Sie fand es rührend, daß er sich solche Mühe gab, sie nicht zu wecken. Fast unhörbar schlich er jetzt am Zampelstuhl vorbei, um sein Lager aufzusuchen, sie hörte, wie er die Tür öffnete – da fuhr sie auf und hub ein wenig den Kopf: das war nicht die Tür nach seiner Schlafkammer, das war die Tür nach dem Magazin, sie erkannte es deutlich am Ton. Was hatte er noch so spät im Magazin zu schaffen? Sollte er nach der Geldlade sehen wollen? Er wußte doch, daß die Losung jeden Abend aus der Budel genommen und in seine Schlafkammer gebracht wurde! Und dann wußte er doch auch, daß es in diesen kargen Zeiten überhaupt keine Losung gab. Wer kaufte jetzt schöne, schimmernde Seidenstoffe, wo die hohen Herrschaften und reichen Leute sich alle geflüchtet hatten und die anderen froh waren, wenn sie ein paar Gulden für Bäcker und Fleischer übrig behielten?

Wettl unterdrückte einen kleinen Seufzer. Sicher hatte der arme Vater Sorge um das Geschäft! Denn er war fast der einzige, der ohne Bestellungen die ganze Zeit her fortarbeiten ließ, als ob gar nichts besonderes wäre. Immer sagte er, man könne doch die Leute nicht brotlos lassen, und gerade in der allgemeinen Unordnung müsse man seinen gewohnten Weg gehen, das beruhige einen selbst und wirke auch beruhigend auf die andern. Wettl hörte jetzt, wie im Magazin Schubladen aufgezogen wurden. Offenbar will er die Einschreib- und Geschäftsbücher nachsehen, dachte sie, um seine Ausstände zu überschlagen. Was doch ein Hausvater sich sorgen muß Tag und Nacht, indes ein unnütz Frauenzimmer sich's im Bette wohl sein läßt! ... Aber daß er kein Licht anmacht? ... Allerdings schien der Mond fast taghell ... Wird sich's schon besorgen, wenn er mag, dachte sie; für mich wär's jetzt auch Zeit, daß ich einmal herumschliefe.

Sie schloß die Augen und sah abermals grüne Felder und Wiesen. Die milde Eintönigkeit ihres Anblickes hatte etwas Besänftigendes, und sie verlor sich mehr und mehr ins Weite. Sogar das leise Knarren der Tür, das nach einer kleinen Weile vernehmbar wurde, brachte sie nur halb zurück. Nun hätte sie aber doch die leisen Tritte des Vaters hören müssen, wie er sich aus dem Magazin in die Schlafkammer begab. Statt dessen trat vollkommene Stille ein. Diese unbegründete Lautlosigkeit schlug plötzlich an ihr Ohr wie heftiger Lärm. Emporschreckend, hob sie ein wenig den Kopf und sah ihn regungslos in der Mitte des Zimmers stehen. Er schien zu überlegen, in Gedanken verloren sich selbst zu vergessen. Jetzt tat er einen kleinen Schritt gegen das Fenster. Da fiel das volle Licht des Mondes auf ihn und sie sah, daß es ein fremder, bärtiger Mann war, der da stand. Ein Mann in französischer Uniform, mit schneeweißen Gamaschen an den Beinen.

»Jesus, Maria!« schrie sie, mit gleichen Füßen aus dem Bett setzend, warf einen Rock über und fuhr in ihre Hausschuhe. Dem Krieger kam diese kühne Aktion, die mehr einer Offensive als einer Defensive glich, so unerwartet, daß er sofort kehrt machte und sich im Schatten des Zimmers zu bergen suchte.

»Wart, Feigling, ich will dir heimleuchten!« wetterte sie, erwischte einen buchenholzenen Webebaum, schwer wie ein armdicker Mangballen, und ging damit im Dunkeln auf ihn los. Er wie der Blitz zur Tür hinaus und Hals über Kopf die Treppe hinunter. Sie wutentbrannt hinter ihm drein, immer schreiend: »O, du verflixter Gauner! Du freu dich, wenn ich dich erwisch'! Willst es deinem Herrn, dem Napoleon, nachtun und dir was mausen? Na warte, ich will es euch zeigen, was ihr verdient, ihr beide! Die Ohren reiß' ich dir aus, damit du an uns Wiener denkst dein Leben lang!«

Wie besessen rannte er durch den Hof davon, in blinder Flucht sah sie die weißen Gamaschen über den Gartenzaun setzen, und zornsprühend war sie hinter ihm her, fast auf seinen Fersen, wie eine Furie so wild und auch so geisterhaft flink und stürmend. Sie war nur mit dem Hemde und einem kurzen Röcklein bekleidet und sah ihre eigenen, festen, nackten Beine einen Augenblick im Mondlicht schimmern, als sie sich ihm nach, über den Zaun schwang – wie oft hatte sie's als Kind geübt! Aber jetzt hatte sie keine Zeit schämig zu sein. Sie dachte an nichts, als ihn beim Kragen zu packen.

Jetzt stob die wilde Jagd durch den Garten hinter dem Guguckshaus, mitten durch das hohe, taufeuchte Gras hin, quer durch Gebüsche und Bosketts, und fröhlich über blühende Beete hinweg. Immer zappelten die weißen Gamaschen des ausreißenden Hasenfußes als ersehntes Ziel ihr vor Augen, und auf einmal erhoben sie sich wie gespenstig vom Erdboden und zappelten in die Luft hinauf wie geschäftige Geisterbeine. Was war das? Das Lattengitter im Schatten der Feuermauer, an dem der wilde Wein rankte, diente den hastigen Gamaschenbeinen als Leiter, und sie arbeiteten sich geschickt daran empor, und gleich darauf sitzt der ganze Mensch im vollen Mondlicht rittlings hoch oben auf der Gartenmauer. Das eine Bein ist schön drüben, das andre schlenkert noch in der Luft, jetzt schwingt er auch dieses hinüber, in hilfloser Wut sieht die Verfolgerin den Flüchtling entkommen, ihrer Rache entgleiten. Aber irgendwie möchte sie ihm doch noch an den Leib, im Nu zieht sie den Schuh aus, und wie er noch einmal das Gesicht nach ihr zurückwendet, da klatscht ihm ihr Pantöffelchen mitten auf die Nase. Im nächsten Augenblick ist der Mensch jenseits der Mauer verschwunden, aber der Schuh auch. In ihrem Zorn sucht sie rasch nach einem saftigen Wort, das sie ihm noch nachwerfen könnte, allein er soll es auch verstehen. Sehr groß ist ihr französischer Wortschatz nicht, aber ein bißchen was stoppelt sie doch zusammen in der Eile und faßt es in das geflügelte Kraftwort: »Vous êtes un lièvre, Monsieur, vous n'êtes pas un soldat!« das sie dem Flüchtling über die Mauer nachwirft.

Jetzt erst kam ihr ihre mangelhafte Bekleidung zum Bewußtsein. Sie schämte sich ein wenig vor dem Monde, der still über dem Hausdach schwebte, und hinkte eilends zurück durch Garten und Hof in ihrem kaum bis zu den Knien reichenden Röckchen, die Beine strumpflos und den einen Fuß sogar ohne Schuh. Zum Glück rührte sich nichts im Hause, trotz des Geschreies, das sie verübt hatte. Umgebracht könnte man werden, dachte sie, ohne daß diese Schlafratzen etwas davon merken! Aber diesmal war es ihr lieb; Hilfe brauchte sie keine, sie hatte sich schon selbst geholfen. Sie fühlte sich sehr leicht und frohgemut. Besonders, daß sie dem Halunken noch ihre Meinung nachgerufen hatte, befriedigte sie höchlich. Und nachträglich mußte sie lachen, daß sie fast zu bersten meinte, als sie sich erinnerte, daß sie ihn sogar noch »Monsieur« tituliert hatte.

Sich schüttelnd vor Lachen, saß sie noch am Rande ihres Bettes, als sie jetzt wirklich den Vater das Tor aufschließen und den Flur entlang und die Treppe heraufschlürfen hörte. Mit geröteten Wangen und blitzenden Augen trat er ein, sehr aufgeräumt und munter. Er schien sich gar nicht zu wundern, daß seine Tochter wach saß und lachte. War doch auch er fuchswach und lachte, lachte über alles und nichts. Die Tage der Parlezvous seien gezählt, rief er ihr entgegen. Der Generalissimus stehe schon am Bisamberg, er werde sich nicht mehr lange besinnen und die Franzosen in die Flucht schlagen.

»Ist schon recht, wenn er mir's nachtut,« scherzte Wettl. »Ich hab' ihn auch in die Flucht geschlagen, den Franzosen.«

Sie lachte, und der Guguck, der einen kleinen Spitz hatte, lachte auch und war in siegesfroher Stimmung und erging sich in zuversichtlichen Reden, und dazwischen pfiff und sang er begeistert die Kaiserhymne. Erst nachdem er ein gut Teil geplaudert hatte, klang Wettls Wort in ihm nach, auch sie hätte den Franzosen in die Flucht geschlagen. Was das zu bedeuten habe? fragte er jetzt. Sie erzählte ihm lachend ihr kleines Abenteuer. Da erschrak er heftig und schob gleich den Riegel vor die Tür und sagte, na, wenn er dagewesen wäre – dann erst! Gefangen genommen hätte er den Malefizgauner und mit gefesselten Händen über die Mariahilferstraße nach Schönbrunn hinausgeführt zum Napoleon. Und dann hätte er ihn diesem windigen Empereur gegenübergestellt und zu ihm gesagt: »Siehst du, so schauen deine Helden aus!«

Er lachte wieder unbändig und freute sich. Und dann sah er nach, ob der Spitzbube nicht doch am Ende etwas hatte mitgehen lassen, und als er alles in bester Ordnung fand, ging er endlich beruhigt in seine Schlafkammer. Aber gleich kam er wieder heraus und machte sich nachträgliche Sorgen.

»Daß du dich aber getraut hast?« sagte er. »Der Stärkere wäre der Kerl schließlich doch gewesen.«

»A pah!« machte sie. »Was nützt ihm die Stärke, wenn er davonrennt?«

Er war stolz auf seine Tochter.

»Wahr ist es! Auf die Courage kommt's an! Wenn ich damals an der Laimgrube davongeloffen wär', so hätten mich die Parlezvous vermutlich niedergeschossen. Weil ich aber ganz ruhig mit ihnen verhandelt hab', so haben sie sich nicht getraut, mir auch nur ein Haar zu krümmen.«

Sie kicherte in ihre Polster hinein, und er ging jetzt endgültig zu Bett. Da konnte schließlich auch Wettl den langersehnten Schlaf finden.


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