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Melchers Urlaub war zu Ende, und es ging ans Abschiednehmen. Leicht fiel es ihm nicht, aus dem Guguckshaus zu scheiden, aber er biß die Zähne aufeinander und ließ sich nichts merken.
»Wenn etwas sein sollte, Mutter, daß die Frau Mutter etwa einen Notpfennig braucht,« sagte er, »so weiß die Frau Mutter es ja, wo ich den goldenen Maria-Theresia-Dukaten aufgehoben habe, den mir der Göd zur Taufe beschert hat.«
Sie redete ihm zu, den Dukaten mitzunehmen.
»Er ist dein, und ich tät' eher hungern, eh' daß ich ihn angreif'. Ein Soldat aber, wenn es wirklich zum Feldzug kommen sollt', kann einen Zuschuß leicht brauchen.«
Er weigerte sich das Geld zu nehmen; er habe es von je für die Mutter bestimmt, und ihn könnte es höchstens in Versuchung führen.
»Die kein Geld haben, sind immer besser daran,« behauptete er. »Jedesmal, wenn ein Kamerad recht ins Schlamassel gekommen ist, so war es, weil er Geld gehabt hat.«
Sie überboten sich an Edelmut. Keines wollte den Dukaten haben, und jedes ihn dem andern zuschanzen. Bis Melcher ärgerlich sagte:
»Und ich nehm' ihn halt einfach nicht! Daß ihn vielleicht schließlich noch die Franzosen einhamstern täten!«
Da brach sie in lautes Weinen aus, sie sah ihren Melcher schon gefallen oder verwundet in Franzosenhänden. Es reute ihn, daß er so unüberlegt gesprochen.
»Aber was denkt denn die Frau Mutter – das war ja nur so geredet,« sagte er lachend. »Krieg' mir die Frau Mutter wieder am Ende ihre Weiberängsten! Vorderhand ist noch nicht einmal ein Krieg. Und wenn wirklich einer wird – ich hau' mich schon heraus, darauf kann sich die Frau Mutter verlassen!«
Er stieß mit seinem Pallasch auf den Boden, daß alles schepperte.
»Komm mir wieder, Melcher!« rief sie unter Tränen. »Und gib Obacht, daß dir nichts geschieht, gelt? Und nimm den Dukaten mit – mir zulieb! Schau, wenn du mit einem Franzosen zusammenstoßen tust und du siehst, du bist der Schwächere, so gibst ihm halt den Dukaten, so wird er auch mit sich reden lassen!«
Er konnte nicht einmal lachen über diese Muttergedanken, das alte Weiblein dauerte ihn zu sehr. Er ging zum Schubladkasten und steckte den Dukaten zu sich.
»Jetzt wird ihr leichter werden,« dachte er im stillen. »Ist doch zu etwas gut, das Geld!«
Wirklich trocknete sie jetzt ihre Tränen. Er küßte sie und drückte sie an sich, und dann trat er gestiefelt und gespornt in den Hof hinaus. Alle kamen herunter, ihn noch zu begrüßen, sogar der Meister fand sich ein. Vom Herrn Göd hatte er sich schon früher verabschiedet.
»Alsdann, Melcher,« sagte Kebach, indem er ihm die Hand schüttelte; »du bleibst ein Kind vom Haus. Ich weiß, daß du dem ›Blauen Guguck‹ keine Schand' machen wirst! Geh mit Gott! Und wenn du wiederkommst, dann werden wir die Sach' ordentlich angehn, daß du bald zulernst, was dir in der Weberei noch fehlt.«
»Ja, wenn er nur schon wieder da wär'!« rief die Mutter immer hilflos schluchzend. »Melcher, Melcher, gelt du kommst mir doch wieder?«
»Aber freilich komm' ich wieder!« sagte er. »Was glaubt denn die Frau Mutter? Zum Zeugmachergesellen muß ich es doch noch bringen, das wird mir unser Herrgott schon vergönnen! Ohne Gesellenprob' wird er mich doch nicht abkratzen lassen – das wär' ja rein, als ob ich mich vor dem Herrn Meister davonschleichen wollt'!«
»Wenn unser Herrgott nur endlich den Napoleon strafen tät'!« seufzte sie.
Auch Wettl war ergriffen, als sie ihm die Hand reichte.
»B'hüt dich Gott, Melcher, b'hüt dich Gott! Ich werd' schon an dich denken! Immer, wenn ich hör', daß die Franzosen davongeloffen sind, werd' ich mir denken: der Melcher ist auch dabei gewesen!«
Er biß die Zähne zusammen und würgte. Aber er würgte es hinunter.
»Weißt, Wettl,« sagte er frisch; »wenn's zur Attacke geht, und ich auf meinem Roß dem Feind entgegenflieg' – da wird's mir sein, als ob du wie ein Schutzengel bei mir wärst!«
»Jesses! Jesses!« rief die Kaplanek. »An so eine Attacke darf man gar nicht denken, sonst vergeht einem Hören und Sehen!«
Der Werksgeselle Vincenz stand auch dabei.
»Tot ist man nicht gleich,« sagte er im Tone der Erfahrung. »Und wenn einen auch was trifft, der Mensch heilt schon wieder zusammen!«
Er zog einen seiner Schlappschuhe aus, die er lm Hause auf bloßen Füßen zu tragen pflegte, und zeigte seine Narbe, die alle schon gesehen hatten. Ein Granatsplitter, der durch die Sohle eingedrungen und am Rist wieder ausgetreten war, hatte ihm die Mittelfußknochen zerschmettert. Aber jetzt sah man nichts mehr als ein kinderhandgroßes blasses Mal auf dem Rist, das mit einer strahlenförmig zusammengezogenen Haut überkleidet war.
Jeder wußte es längst, aber er erzählte es doch noch einmal:
»Von Mittag bis Mitternacht bin ich auf dem Schlachtfeld gelegen! Schon sakrisch wehgetan hat es! Und dabei immer der Gedanke: am End' finden sie dich gar nicht, und du bleibst da liegen und krepierst wie ein angeschossenes Stück Wild. Da hab' ich halt mein Pfeiferl aus dem Tornister gezogen und hab' gedampft. Wenn ich damals mein Pfeiferl nicht gehabt hätt', Gott verzeih mir's, ich glaub', ich hätt' die letzte Patron', die noch in meiner Patrontasche war, dazu verwendet und hätt' mir selber den Garaus gemacht.«
Es war nicht gerade das Tröstlichste, was man einer weinenden Kürassiers-Mutter erzählen konnte. Zum Glück kam jetzt auch noch der alte Salzküfel dazu mit seiner unerschütterlichen Greisenzuversicht.
»B'hüt dich Gott, Melcher, b'hüt dich Gott!« sagte auch er. »Wir stehen alle in Gottes Hand. Ich bin an meinem Webstuhl nicht sicherer als du in der Schlacht. Wer wird denn weinen, Frau Kaplanek? Es geschieht nichts, ohne daß unser Herrgott es will. Gelt, Diwrisl?«
Am Fenster zeigte sich das verdrießliche Gesicht des Gesellen Schnaus. Der wollte offenbar kundschaftern, wie dem Melcher sein Abschied sich gestalte. Melcher war weich gestimmt. Er wäre gern von allen Leuten im Guguckshaus in Frieden und Freundschaft geschieden. Er salutierte und rief hinauf:
»Leben Sie wohl, Schnaus, ich geh' wieder fort. Und wenn ich wiederkomm', dann sollen Sie sehen, daß ich kein mutwilliger Schlingel mehr bin!«
Der Kopf verschwand ohne Antwort vom Fenster.
»So ein Bock!« brummte der Guguck ärgerlich. »Es gibt schon nichts Grauslicheres, als wenn ein Mensch nicht verzeihen kann! Das sind die gar Gerechten, die sich für vollkommen halten – pfui Teufel!«
Melcher tat das Verhalten Schnausens weh. Er hätte so gern außer den Franzosen keinen Feind mehr gehabt. Er empfand es jetzt, wie schwer oft das Üble wieder auszutilgen ist, das wir anderen angetan, und zu was für einem Berg in ihrer Einbildung manchmal ein Mäuslein anwachsen kann.
»Scher dich nicht um den verdrehten Zwickel!« sagte Wettl, die bemerkte, daß er betrübt war. »Wir andern, wir wissen es schon, wie du es meinst.«
Er strahlte und sah sie dankbar an.
»Leb wohl, Wettl! sagte er noch einmal. »Und vergiß mich nicht!«
Und so ging er also endlich davon.
»Mir schwant immer, er kommt nicht wieder,« sagte die Kaplanek zu Wettl und flennte herzbrechend in ihre Schürze hinein.
Wettl bemühte sich, es ihr auszureden. Und dann kehrten alle an ihre gewöhnliche Arbeit zurück.
Melcher aber marschierte stramm die Zieglergasse hinunter und blickte weder rechts noch links. Erst als er an die Straßenecke kam, blieb er stehen und schaute noch einmal zurück. Aus den Fenstern der nächstgelegenen Häuser hörte er das Klappern der Webstühle, und dort, schon aus der Entfernung, grüßte noch einmal das Haus »Zum blauen Guguck« zu ihm herüber, seine Heimat, seine Wiege und – so hoffte er wenigstens – seine Zukunft. Aber vielleicht war es wirklich das letzte Mal, daß er dieses traute Geräusch der Arbeit hörte? Vielleicht das letzte Mal, daß sein Auge auf diesem alten, treuen Hause ruhte, das für ihn alles barg, was er liebte, seine Jugenderinnerungen, sein Gewerbe, seine Mutter und Wettl. ...
Einen Augenblick preßte er die Hand aufs Herz, das ihm so schwer war wie noch nie, und schluckte ein paarmal mit der Kehle. Aber dann riß er sich gewaltsam los, wie ein rechter Mann und braver Soldat, und machte entschlossen kehrt. Mit dem Pallasch auf dem Pflaster rasselnd und mit den schweren Reiterstiefeln fest auftrappend, daß die Sporen klirrten, setzte er seinen Weg fort. Und am Abend, knapp vor dem Zapfenstreich, traf er pünktlich bei seinem Regiment in Korneuburg ein und meldete dem Diensthabenden seine Rückkehr vom Urlaub.