Emil Ertl
Die Leute vom Blauen Guguckshaus
Emil Ertl

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Keine achtundvierzig Stunden waren hingegangen, so hieß es, der Napoleon sei schon in Schönbrunn. An diesem Christi-Himmelfahrts-Tage war der alte Pimper nach Tisch ein wenig an der Luft gewesen, um die Fühler auszustrecken und zu sehen, wie es auf der Mariahilferstraße zugehe. Als er wieder nach Hause kam, ging er zu den jungen Leuten hinauf, die jetzt im obern Stock des Lordhauses eine bescheidene Wohnung innehatten. Er traf nur Fany an und erzählte, er habe französische Artillerie die Mariahilferstraße hereinfahren sehen, die innere Stadt halte sich und würde vermutlich bombardiert werden. Als Fany mit keiner Silbe antwortete, blickte er auf und gewahrte erst jetzt, daß sie rotgeweinte Augen hatte. Wo Thomas sei? fragte er Schlimmes ahnend. Sie brach in neue Tränen aus und schob ihm einen Brief hin.

In kurzen, einfachen Worten teilte Thomas mit, er habe sich entschlossen, auf den Basteien der Stadt gegen den Feind zu kämpfen. Er bringe es nicht über sich, der allgemeinen Not untätig zuzusehen, und wolle auch das Seinige dazu beitragen, den Franzosen das Leben nicht allzu leicht zu machen. Mündlich habe er von seinem Vorhaben nichts verlauten lassen wollen, weil er seine Frau und seine Eltern zu zärtlich liebe, als daß er ihren Bitten hätte widerstehen können, wenn sie ihm abgeredet hätten. Sie möchten es ihm verzeihen und ihn lieben, ob er nun wieder heil zurückkomme oder nicht.

Der englische Lord war tief bestürzt. Ob seine Frau schon etwas wisse? fragte er. Nein, die wisse noch nichts, sagte Fany, sie selbst habe den Brief erst nach Tisch durch einen Boten erhalten, nachdem Thomas schon des Morgens sein Fernbleiben vom Mittagessen mit einem Vorwand entschuldigt habe. Und sie hätte noch nicht den Mut gefunden, der Mutter etwas davon zu sagen. Gemeinschaftlich entschlossen sie sich jetzt, hinabzugehen und die Mutter schonend von dem Geschehenen in Kenntnis zu setzen. Die englische Lady ertrug es leichter als ihr Mann und ihre Schwiegertochter. In Freud' und Leid war es ihre Art, heftig im Zimmer umherzufahren und alles Innere gleichsam körperlich auszutoben. Diese Gewohnheit, der sie auch jetzt treu blieb, lenkte ihre Gemütsbewegungen gewissermaßen nach außen ab. Sie jammerte zwar eine Zeitlang und haderte mit diesem Unglücksjahr, dem sie nie etwas Gutes zugetraut. Nachdem sie aber ihren Unmut kräftig ausgesprochen hatte, fing sie schon wieder an, sich und die andern zu trösten, und meinte, die wenigsten Kugeln träfen, und gar wenn man hinter Wall und Mauer sitze.

Fany fühlte bald, daß sie hier entbehrlich sei, und ergriff die nächste Gelegenheit, sich wieder in ihre Wohnung zurückzuziehen. Ihr ging der Entschluß ihres Mannes näher, als irgendjemand ahnen konnte. Denn sie allein hatte die innere Unstetigkeit und Freudlosigkeit mitgefühlt, die ihn seit einiger Zeit gefangen hielt, und wußte, daß weniger die geänderten Vermögensverhältnisse daran schuld trugen, als die Zweifel an ihr und ihrer Liebe, die sich in seiner Seele, sie konnte sich nicht recht erklären warum, festgesetzt hatten. Es war ihr nicht gelungen, das richtige Wort zu finden, das ihn erlöst hätte, und seine sonst so klugen Augen blieben blind für ihre wahrhaftigen Gefühle, die das übers Lordhaus hereingebrochene Unglück geläutert, vielleicht sogar erst zu lebendigem Leben erweckt hatte. Jetzt war ihr zumute, als sei sie es, die ihn fortgetrieben habe, und mit bewegtem Herzen empfand sie die Großmut, mit der seine kurzen Zeilen von allem schwiegen, was ihn innerlich bedrückt haben mochte, und nur die Kriegsnot als Beweggrund seines Handelns gelten ließen.

In ihrer Unruhe und Herzensqual verfiel sie auf die abenteuerlichsten Pläne. Sie wollte ihm nacheilen, ihn auf den Basteien suchen und ihm sagen, daß sie ihn liebe, ihn allein und für immer, damit er es wisse, und damit noch ein letzter Schimmer Erdenglücks die Stunde verkläre, in der er vielleicht sein Leben aushauchen würde, von einer feindlichen Granate zerschmettert. Dann meinte sie wieder, es wäre besser, einen Boten zu senden, und setzte sich an den Schreibkasten ihres Mannes und schrieb ihm einen Brief und sagte ihm alles, was in ihr vorgegangen war, und daß nicht die Liebe sie zur Ehe, aber die Ehe sie zur Liebe geführt habe, und daß sie seine Gattin bleiben würde ihr Leben lang, ob er wieder heimkehre oder vor dem Feind bliebe und fürs Vaterland falle. Sie siegelte den Brief und versah ihn mit der Aufschrift – da kam ihr erst in den Sinn, wie schwierig, wie unmöglich es sein würde, ihn zuzustellen. Sie hatte keinen Boten, dem sie zutrauen mochte, Thomas unter den Tausenden und Tausenden von Soldaten und Bürgern aufzufinden, die die Bastionen verteidigten. Und dann bedachte sie, daß man fliegen können müßte, um überhaupt in die Stadt zu gelangen, deren Tore doch voraussichtlich geschlossen und von Kanonen bewacht waren. Nein, das waren alles unausführbare Pläne, sie mußte auf etwas anderes sinnen. Verzweifelt stand sie auf und ging mit der Hand an der Stirn im Zimmer auf und ab.

Noch war ihr die richtige Erleuchtung nicht gekommen, als bestürzt ihre Magd eintrat und sagte, ein Offizier sei draußen und wünsche sie zu sprechen, sie glaube, es sei ein Franzos. Nun kämen sie vermutlich schon mit der Einquartierung, meinte Fany unwillig – das Mädchen mög' ihn fragen, was er wolle. Die Magd ging und kehrte zurück, er lasse sagen, er sei ein guter alter Freund. Und ehe Fany wußte, was sie denken und tun sollte, hörte sie einen Säbel klirren, und der Offizier schob das Mädchen beiseite und trat ohne viel Umstände ins Zimmer. Sie sah auf den ersten Blick, daß es keine österreichische Uniform war: dunkelgrün mit kirschroten Aufschlägen und kirschroten Hosenstreifen. Empört, daß ein französischer Offizier es wagte, in ihre Wohnung einzudringen, trat sie einen Schritt zurück und ballte unwillkürlich ihre Hände. Er aber hatte unversehens die Magd an der Schulter gefaßt und sie im Nu zum Zimmer hinausgedreht. Jetzt machte er die Tür zu und trat ihr gegenüber. Obgleich es nicht mehr ganz hell war, erkannte sie ihn.

»Schackerl!« rief sie entsetzt, als ob plötzlich ein Toter vor ihr aus dem Boden gestiegen wäre.

»So, Fany,« sagte er lachend, »da bin ich jetzt. Ich hab' es dir doch versprochen, daß ich einmal komme, dich holen. Und nun bin ich da.«

»Seltsam, daß du dich noch der alten Kinderscherze erinnerst,« sagte sie sich fassend. »Und traurig, daß du uns als Feind wiederkommst.«

»Gott, als Feind –!« sagte Schackerl. »Fällt mir gar nicht ein! Im Gegenteil! Wenn ich dir nicht gut wär', so wär' ich doch nicht gekommen, dich zu holen!«

Sie schwankte und wußte nicht recht, ob sie ihn als alten übermütigen Spielkameraden oder als französischen Offizier nehmen sollte. Der nachlässige und scherzende Ton, in dem er zu ihr redete, ärgerte sie und gefiel ihr doch gleichzeitig auch ein wenig. Das war ganz seine frühere Art, er war immer ein Eigener gewesen, man wußte nie recht, woran man mit ihm war – langweilig war er nicht, das mußte man ihm schon lassen, es hatte immer etwas eigentümlich Spannendes, mit ihm zu verkehren. Er setzte sich jetzt ganz gemächlich nieder und warf mit der Ungezwungenheit des Sieggewohnten Tschako und Handschuhe auf den Tisch. Es war ein schöner blonder Mensch aus ihm geworden, der sich stattlich genug ausnahm in der kleidsamen Uniform.

»Also Fany, sei nicht ungemütlich,« sagte er. »Setz dich zu mir und tu, als ob du zu Hause wärst. Und wenn du recht nett sein willst, so laß mir einen Kaffee oder so was Ähnliches kochen.«

Sie ging stumm hinaus und hieß die Magd einen Kaffee kochen. Als sie wiederkehrte, setzte sie sich gehorsam ihm gegenüber und sah ihn neugierig an. Es war ihr, als ob sie keinen eigenen Willen hätte in seiner Nähe. Trotz der schweren Sorgen, die sie eben noch bekümmert hatten, konnte sie an nichts mehr denken, als daß er nun auf einmal leibhaftig vor ihr saß. Äußerlich war sie ganz ruhig, fast wie traumwandelnd in seinem Banne; aber im Innern doch wie vor Erregung, zitternd und aufs höchste gespannt, was da nun eigentlich herauskommen würde?

»Du hast mich vorhin einen Feind genannt,« sagte Schackerl. »Wahrscheinlich glaubst du, ich sei ein Franzos geworden. Bin ich aber gar nicht.«

»Was bist du denn nachher eigentlich?« fragte sie.

»Wie ich von hier weggegangen war, da bin ich zuerst nach Baiern gekommen. Da hat es mir aber gar nicht gefallen, die Baiern sind ein langweiliges Volk. Also bin ich um ein Häusel weiter gegangen und nach Württemberg gekommen. Da hat es mir besser gefallen. Die Schwaben sind wenigstens grob, das ist schon unterhaltsamer. Also blieb ich bei den Schwaben, und vorderhand bin ich königlich württembergischer Leutnant, wenn du nichts dagegen hast.«

»Und wie kommst du denn unter die Franzosen?« fragte Fany.

»Es ist der ganze Rheinbund dabei, und wir gehören halt auch zum Rheinbund.«

»Weißt du,« sagte Fany, »eine Schmach ist es, daß du gegen dein eigenes Vaterland und gegen deine eigene Vaterstadt mittust!«

Er lehnte sich über den Tisch und sah sie unverwandt an.

»Pfui, Fany, schäm dich! So ein schönes, prachtvolles Frauenzimmer wie du – und willst moralisches Stroh dreschen, wie es im Guguckshaus üblich ist? Du mußt mit mir kommen, Fany! Du mußt halten, was du versprochen hast – so oder so. Ich will dich in eine freiere Luft führen und hinauf auf den Gipfel des irdischen Glücks. Da, wo du jetzt lebst, da muffelt es, oder duftet höchstens nach Lavendel. Wer die Welt kennt, der kommt über Vorurteile bald hinweg. Mein Alter hat gar nicht so unrecht gehabt: das Glück der Menschen ist die Hauptsach', Vaterland hin, Vaterland her! Ein Glück ist es für jedes Land, wenn der Napoleon es erobert, denn der ist und bleibt doch schließlich der vernünftigste und großartigste Mensch, den es heute gibt!«

Er zog ein bedrucktes Blatt aus der Tasche. Da hab' er gerade eine Proklamation an die Bevölkerung von Wien bei sich. Die sage genau, was er sich denke. Ob sie sie schon gelesen hätte? Sie wußte von nichts und hatte noch nichts gelesen. Eine Kundmachung sei es, sagte er, dazu bestimmt, die Wiener zu beruhigen und über die wahren Absichten Napoleons aufzuklären.

»Schau dir's nur an,« sagte er, »damit du auch zu einer besseren Einsicht gelangst, und damit du siehst, daß wir nicht als Feinde, sondern als wahre Freunde gekommen sind!«

Er entfaltete das Blatt und reichte es ihr hin. Neugierig überflog sie es: »Die Siege Napoleons des Großen sind nicht nur das Wunder und der Stolz des Jahrhunderts, sie sind auch das Glück und die Wohlfahrt der Nationen. Von dem Augenblicke des Sieges stehen die Überwundenen unter dem Schutze des Siegers, des Helden und des Weisen, der von der Vorsehung dazu bestimmt scheint, die durch Vorurteile und Faktionen geängsteten Völker zu beruhigen und sie zu ihrer eigentlichen Bestimmung, zur höheren Stufe der Selbständigkeit, des eigenen Denkens und Wirkens zu erheben. Gerade einen Monat, nachdem die Österreicher den Inn überschritten, ist die siegreiche französische Armee in Wien eingerückt. Der Widerstand, den die Aufforderung zur Übergabe gefunden hat, hätte bei jedem andern belagernden Heere nachteilige Folgen für die Bewohner der Stadt haben können. Allein der Kaiser Napoleon ist überall Vater, sogar Vater jener Völker, deren Heere und Fürsten er bekriegen muss ...«

Sie las nicht weiter, warf ihm das Blatt hin und stand auf. Sie zitterte vor Empörung.

»Mir scheint, das Dreschen von leerem Stroh wird anderswo betrieben als im Guguckshaus.«

Sie fühlte sich jetzt auf einmal wie befreit. Der Zorn über die anmaßende und heuchlerische Sprache des korsischen Gewaltmenschen, den er verehrte, hatte sie aus den Fesseln erlöst, mit denen Schackerls Wille sie gleichsam zu umklammern drohte. Er mochte es spüren und veränderte rasch die Front.

»Gut,« sagte er, das Papier gemächlich wieder einsteckend; »in dem Punkte sind wir also verschiedener Ansicht. Dafür wollen wir uns in allen anderen Punkten um so besser miteinander vertragen – gelt, Fany?«

Er streckte ihr die Hand über den Tisch entgegen. Da war aller Zorn und alle Freiheit wieder dahin. Sein Lächeln, seine ganze Art hatten etwas so Liebenswürdiges, dass ihr Widerstand schmolz. Wie ihrer selbst nicht mächtig reichte sie ihm die Hand und fühlte beseligt den starken Druck der seinigen.

Die Magd brachte den Kaffee.

»Du hast nichts dagegen, daß ich mich bediene?« sagte Schackerl und schenkte sich ein. »Ach, ist es gemütlich da! Und doch müssen wir fort. Du könntest dich inzwischen bereit machen, Fany?«

»Jetzt laß endlich die schlechten Späße,« sagte Fany fast zitternd vor Angst.

Er blickte auf, seine Augen glitten über ihre Gestalt hin, es war, als ob sie sie umschmeichelten und liebkosten.

»Du scheinst nicht zu wissen, daß ich verheiratet bin?« sagte sie leise.

»Wenn ich es nicht wüßte, so hätt' ich dich ja nicht finden können. Aber aus Liebe wirst du wohl nicht geheiratet haben, da du mich liebtest?«

Verwirrt und gespannt hing sie an seinen Lippen. Sie wagte es nicht, die halbe Frage zu beantworten, mit der er geschlossen hatte.

»Wenn du es also weißt, daß ich verheiratet bin...« stammelte sie.

»Nun?« fragte er. »Was weiter?«

»Ich versteh' nicht, wie du es meinst...« sagte sie fast atemlos vor Herzklopfen.

»Du hattest mir versprochen, die Meinige zu werden,« sagte er finster. »Aber daß du nicht mit mir kommen willst, sehe ich jetzt. Du hast deinen Sinn geändert, und vielleicht ist es sogar besser so. Ich will dir nicht böse sein, wenn du mir dafür erlauben willst, hier zu bleiben, so lang ich in Wien bin.«

»Wo willst du bleiben?« fragte sie wie entgeistet.

»Schau, liebe Fany,« sagte er den Ton verändernd, »ich hab' dich so unsagbar gern. Und der Umstand, daß du verheiratet bist, braucht doch nicht auszuschließen, – daß du mich auch noch immer ein wenig lieb hast! Warum sollen wir nicht glücklich miteinander sein, die kurze Spanne Zeit, die ich in Wien bleiben kann?«

Er blickte sie verlangend an, sie hatte das Gefühl, daß er gewohnt war, seine Siege über Frauenherzen auf Napoleonische Art, durch ein bis zur Unwahrscheinlichkeit kühnes Drauflosgehen zu erringen, und daß er diese Taktik nun auch an ihr erproben wolle. Ihr Stolz bäumte sich auf. Dieser gute Schackerl unterschätzte sie. Sie glaubte ihn plötzlich zu durchschauen. Die seltsame Macht, die seine Nähe vom ersten Augenblick wieder über sie ausgeübt hatte, begann zu schwinden. Sein Wesen schloß nichts Geheimnisvolles mehr für sie ein. Der Reiz des Ungewöhnlichen, der ihn umwoben hatte, verblaßte.

»Wenn du es hören willst,« sagte sie kalt, »so kannst du es hören: ich liebe meinen Mann.«

»Aus Liebe oder aus Moral?« fragte er leichtfertig.

Sie flammte auf.

»Deinen Kaffee kannst du noch trinken, dann aber sieh zu, daß du fortkommst!«

»Fällt mir gar nicht ein!« sagte er lachend. »Soll ich vielleicht auf der Straße kampieren? Es wird dir nichts übrig bleiben, als mir Unterschlupf unter diesem Dache zu gewähren.«

»Niemals!« rief sie entschlossen. »Eher geh' ich selbst davon! Hier kannst du nicht wohnen, deswegen brauchst du noch lange nicht auf der Straße zu kampieren. Es gibt Häuser genug in Wien, wo du wohnen kannst, warum gehst du nicht zu deinem Vater?«

»Dem alten Herrn will ich meinen Anblick ersparen. Wenn man sich gegenseitig nichts Angenehmeres zu sagen hat, als wir einander zu sagen hätten, so ist es zehnmal gescheiter, man schenkt sich Etikettsbesuche. Und dann steht es ja auch nicht in meinem Belieben, da oder dort zu wohnen, wo es mir gerade gefällt. Der Soldat ist nicht sein eigener Herr, der Quartiermeisterstab entscheidet über sein Schicksal.«

Er zog seinen Quartierzettel hervor.

»Hier les' ich doch recht, da steht es schwarz auf weiß: Im Haus ›Zum englischen Lord‹ in der Schottenfelder Kirchengasse.«

In sprachlosem Unwillen starrte Fany ihn an.

So hatte er es also einzurichten gewußt, daß er in ihrem Hause bequartiert wurde, und mit seinem ersten Schritt über ihre Schwelle hatte er es offen gesagt, daß er an nichts anderes dachte, als sich ihrer zu bemächtigen, wie man sich eine Sache aneignet. Jetzt verstand sie, daß es ihm mit allem, was er scheinbar spielend gesprochen, im Grunde Ernst war, nur daß er es bildlich und gleichnisweis gemeint hatte, wenn er sagte, er wolle sie mit sich fortführen, hinaus in eine freiere Luft und empor auf den Gipfel des irdischen Glücks. Jetzt begriff sie, daß die Weisheit seiner vermutlich oft bewährten Verführungskunst offenbar darin bestand, seine geheimsten Absichten so lang scherzend auszuplaudern, bis Ohr und Gewissen sich daran gewöhnt hatten.

»Es ist schlecht von dir,« sagte sie tief empört, »daß du unsere fröhlichen, reinen Beziehungen aus der Jugendzeit durch wüste Soldatenroheit entweihst! Das ist schlecht von dir, Schackerl, grundschlecht!«

Sie brach in Tränen aus. Es war ihr, als ob sie in diesem Augenblick etwas verlöre, unwiderbringlich verlöre. Einen Menschen, dem sie gut gewesen war, eine teure Erinnerung, etwas Reines und Sonniges aus ihrer Kindheit. Jetzt erst spürte sie es, wie gut sie ihm noch immer gewesen war.

Schackerl sprang auf. Er schnallte seinen Säbel ab und warf ihn klirrend auf das Sofa.

»Fany, siehst du, ich bin kein Tugendbold, ich sag' es dir offen: ich habe viele Frauen geliebt, aber immer ist dein Bild mir vor Augen gestanden. Und jetzt, wo ich dich wiedersehe, verblaßt dieses Bild vor der Wirklichkeit, du bist schöner und entzückender, als ich dich je geträumt, ich liebe dich mehr, als ich irgendeine andere geliebt habe, ich liebe dich rasend, zum Verrücktwerden! Ich schieße mir eine Kugel durch den Kopf, wenn du nicht wenigstens duldest, daß ich in deiner Nähe bleibe!«

Eine schreckliche Angst vor ihm, vor ihr selbst, bemächtigte sich ihrer. Sie entfloh ins Nebenzimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloß. Sie eilte auf ihre Stube, raffte in blinder Hast das Notwendigste zusammen und rannte atemlos die Stiege hinunter. Auf dem Treppenabsatz hielt sie einen Augenblick still und überlegte, ob sie bei ihren Schwiegereltern Schutz suchen sollte – es war ihr kein angenehmer Gedanke, die englische Lady zu alarmieren und ihren aufgeregten Fragen Stand zu halten. Entschlossen lief sie weiter. In der Torfahrt begegnete sie einem Offiziersburschen in der Uniform von Schackerls Regiment, der einen Koffer ins Haus schaffte. Daran erkannte sie, daß Schackerls Quartierzettel echt war, und daß sie sich in seinen mit kühler Überlegung vorbedachten Absichten nicht getäuscht hatte.

Immer als ob ihr jemand auf den Fersen wäre, flog sie die Kirchengasse entlang und bog bei der Laurenzikirche in die Zieglergasse ein. Es begann bereits zu dunkeln. Wohin wollte sie eigentlich? Sie hatte ans Guguckshaus gedacht. Aber würde Schackerl sie nicht verfolgen, sie zurückzubringen trachten? Und wo würde er sie eher suchen als im Guguckshaus? Sie ging ihre anderen Verwandten und Bekannten durch – es paßte ihr nicht, ein großes Gerede auf dem ganzen Schottenfeld hervorzurufen, und überall gab es geschwätzige Jungen. Auch den Gedanken an die türkische und an die Scheuklappentante mußte sie aus diesem Grunde verwerfen. Schließlich beschloß sie doch, bei Wettl anzuklopfen, aber als sie an Tollrians Haus vorüberkam, das neben dem Guguckshause stand, ging es ihr wie ein Licht auf: am sichersten geborgen war sie eigentlich beim alten Herrn Tollrian! Dort suchte Schackerl sie nicht, und der alte Sonderling würde auch reinen Mund zu halten wissen! Ihm konnte sie sich am ehesten anvertrauen, da es sich doch um seinen Sohn handelte. Und es war ihr auch ein lieber Gedanke, daß sie dem Vereinsamten, Freudlosen, die Nachricht bringen konnte, daß Schackerl wenigstens am Leben und gesund und nicht verkommen und gestorben war, obgleich sie sich nicht verhehlte, daß es ihn schmerzen mußte, nur mittelbar von seines Sohnes Anwesenheit in Wien unterrichtet zu werden.

Herr Tollrian wurde von einer Schafferin bedient, die nur über Tag kam und sich schon entfernt hatte, als Fany anläutete. Er öffnete selbst die Wohnungstür und war höchlich erstaunt, so seltenen und späten Besuch vor sich zu sehen. Indessen hieß er Fany eintreten und horchte halb verwundert, halb erschrocken auf, als sie ihm berichtete. Wie unziemlich Schackerl sich ihr gegenüber benommen hatte, verschwieg sie zartfühlend und deutete nur an, sie habe in Abwesenheit ihres Mannes nicht allein mit ihm in ihrer Wohnung bleiben und sich nicht ins Gerede der Leute bringen wollen. Er schien zu verstehen, seufzte und war sichtlich bekümmert. Es sei ihm ein wahrer Trost, daß er wenigstens einigermaßen gutmachen und ihr Unterkunft bei sich anbieten dürfe, da ihm ohnedies mehrere Zimmer unbewohnt stünden. Um ihm auch etwas Gutes zu sagen, erzählte sie, mit welcher Begeisterung Schackerl zur Napoleonischen Sache halte. Sie wußte, daß Tollrian kein Vaterländischgesinnter war, und meinte, daß der Sohn mit Freude und aus Überzeugung bei seinem Berufe sei, könne den Gram des Vaters wenigstens einigermaßen lindern. Aber gerade damit traf sie, ohne es zu ahnen, den Alten am tiefsten ins Herz. Alles hätte er seinem Sohne eher verziehen, als daß er ein Landsknecht der Gewaltherrschaft geworden war. Er sank in sich zusammen und schien in Minuten um Jahre zu altern. Jetzt mochte er es empfinden, als ob sein ganzes Leben und Lehren verfehlt und verdorben, nicht bloß überflüssig, nein, weniger als überflüssig gewesen sei.

Fany, die nicht recht begriff, was in ihm vorging, meinte, es nehme sie wunder, ob er sich denn nicht auch ein bißchen freuen könne. Schließlich sei ein gesunder, kräftiger, blühender Sohn immerhin mehr als ein toter, und ein königlich württembergischer Leutnant mehr als ein verkommener Haderlump. Aber Tollrian trabte wieder auf jenem Prinzipienpferd, von dem er selbst einmal bekannt hatte, daß es den Koller habe und den Reiter dahin trage, wohin es wolle, und nicht dahin, wo der Reiter hinwolle. Und er sagte, lieber säh' er seinen Sohn tot vor sich oder als Verkommenen – lieber noch, denn als ein willenloses Werkzeug des Empires, das die große Revolution, die herrlichste Geistestat der Menschheit, nicht bloß beerbt, sondern auch geschändet habe.

Sie gab es schließlich auf, ihn milder gegen Schackerl zu stimmen, und meinte, wenn er eine Nacht darüber geschlafen hätte, würde er schon wieder ruhiger werden. Früh zog sie sich auf das Zimmer zurück, das Tollrian ihr angewiesen hatte, und dachte darüber nach, ob es das Haus »Zum ewigen Leben«, oder das Haus »Zur Göttin der Vernunft« sei, in dem sie übernachten würde. Sie entschied sich für das erstere, denn sie empfand es deutlich, daß alle Vernunft nicht ausgereicht hätte, sie an dem Abgrund, an dem sie gestanden, unversehrt vorbeizuführen, und daß es etwas anderes sei, das sie gerettet habe, etwas still Verborgenes, das zutiefst in ihrem Innern wohnte und vielleicht ein Teil jener unsterblichen Kraft war, die alle Vernunft übersteigt und überdauert. Und dann dachte sie an ihren Mann, der sich in Gefahr begeben hatte, um für sein Vaterland und seine Vaterstadt zu kämpfen, und es bangte ihr um ihn, und indem ihre liebenden Gedanken zu ihm flogen, fühlte sie, daß der eigene Reiz, den der vorurteilslose Schackerl einst auf sie ausgeübt hatte, hinweggeweht war – für immer.


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