Emil Ertl
Die Leute vom Blauen Guguckshaus
Emil Ertl

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Im gelben Zimmer nebenan hatten indessen die Herren sich an den beiden Spieltischen niedergelassen, die dort aufgestellt waren. Der Schroll spielte sonst nicht, er fand keinen rechten Geschmack daran. Aber er wollte den Hausherrn nicht in Verlegenheit setzen; es hätte ein Vierter an einem Tische gefehlt, wenn er nicht mitgetan hätte.

»Ich will gleich anfangen und geben,« sagte er die Karten mischend.

Der Erzengel Michael aus der Neustiftgasse, der eigentlich Wendelin Hirnschal, der Ältere, hieß und die schönen zartfarbigen seidenen Dünntuche fabrizierte, war sehr einverstanden mit dieser Einteilung.

»Dann komm' also ich als erster in die Vorhand,« sagte er mit Genugtuung.

Herr Woitech, der Appreteur vom »Roten Igel« in der Kaiserstraße, der Schrotts Hausnachbar und jetzt auch am Spieltisch sein Nachbar zur Linken war, sah nicht ein, warum nicht er als erster in der Vorhand sein sollte.

»Es könnt' ja auch der Kleebinder geben,« meinte er; »oder zipfeln wir, wer als erster gibt.«

»Es bleibt sich ja gleich!« sagte der Erzengel Michael ungeduldig. »Laß den Schroll schon geben, wenn er einmal die Karten in der Hand hat!«

»Ja, wie die Herren wünschen,« sagte der Schroll, »wir können auch losen.«

»Wenn beim Spiel keine Ordnung ist, dann g'freut es mich nicht,« erklärte der rote Igel; »es gehört sich, daß gezipfelt wird, wer als erster gibt. Also bitte, nehmen Sie drei schwarze Karten und eine rote und lassen Sie ziehen. Wer die rote zieht, der hat die erste Vorhand.«

Der Schroll tat gleichmütig, wie ihm geheißen worden, Hirnschal zog die rote Karte. Er freute sich und lachte.

»Also siehst, Woitech, für was war jetzt das ganze Zipfeln? Jetzt hab' halt doch ich die erste Vorhand.«

»Bleibt sich doch wirklich gleich,« sagte der Schroll und teilte ruhig die Karten aus. –

»Ja, warum sollen denn wir tappen?« fragte Kebach am andern Tisch. »Wir sind doch auch unser viere, machen wir lieber einen Königrufer!«

»Der Paradeisvogel mag nicht mitspielen,« sagte der Pimperonkel.

»Nicht mitspielen? Der Paradeisvogel? Und warum denn nicht?« eiferte der Guguck.

»Ich hab' einen wehen Finger, ich kann die Karten nicht halten,« entschuldigte sich der Färber Kitzinger vom Paradeisvogel im Ratzenstadtl.

»Herzeigen!« herrschte Kebach ihn an.

Er besah den Finger.

»Wegen dem Ritzerl kann er die Karten nicht halten!« rief er ärgerlich. »Na ja, das kennen wir schon! Er fürcht' sich, daß er ein Zwölferl verlieren könnt'. So ein Knauser!«

Der Hausherr lachte, daß sein großer Bauch wackelte, der durch eine prachtvolle Weste zusammengehalten wurde.

»Laß ihn, wenn er nicht mag!« sagte er gutmütig.

»Diese Kiebitze, die hab' ich was gern!« murrte der Guguck. »Als ob das auch eine Beschäftigung wär': zuschauen! Und dabei heißt er noch Kitzinger. Kiebitzinger sollt' er heißen!«

Der Zeugmacher Reckenschuß von der »Munteren Tyrolerin« in der Zieglergasse sollte als erster die Karten geben. Er war ein verschlossener, hagerer Mann von etwas grillenhaftem Geblüt und mischte ungeheuer gründlich und langwierig.

Dem blauen Guguck war indessen die schöne Seidenweste aufgefallen, die Pimper, der Hausherr, trug.

»Sackerlot!« sagte er. »Wieder einmal ganz englischer Lord! Huije! Das heiß' ich eine Webe! Eigenes Erzeugnis, was?«

Der Pimperonkel klopfte sich geschmeichelt auf den umfangreichen Leib.

»Das soll mir einer nachmachen!« sagte er, »Ist für einen schwerreichen ungarischen Kavalier fabriziert worden. No, und da hab' ich halt gleich für mich auch eine weben lassen.«

Es war noch eine von den langen, breiten Westen mit Schößen, wie man sie früher getragen hatte, nicht so ein kurzes, kaum bis zum Unterleib reichendes Jäckchen, zu dem die modernen Westen zusammengeschrumpft waren. Die Musterung des Zeuges hatte also Raum, sich zu entfalten, und auf dem mächtigen Körper des Pimperonkels zumal. Kebach betrachtete die meisterhafte Ausführung mit fachmännischem Eifer. Auf schneeweißem Seidengrunde erblickte man ein liebliches Geranke von grün und goldgelb eingewebten Reben, die sich von ihren Hauptzweigen in regelmäßigen Abständen neckisch entfernten, um später mit einem fröhlichen Schnörkel, der an ein geringeltes Schweineschwänzchen erinnerte, bescheiden wieder an ihren Ursprungsort zurückzukehren. In den durch das Rankenwerk gebildeten runden Feldern aber sah man verschiedentliches Getier in seinen richtigen Naturfarben getreu nachgebildet. Und jedes Geschöpf, das da saß, stand, hüpfte, flog oder umherspazierte, hatte genau den für seine Art und sein Wesen bezeichnenden Ausdruck, sowohl in Miene als in Gebärden. Hier trabte stolz erhobenen Hauptes ein niedliches Kamel, dort schwangen sich schalkhafte Affen von Ranke zu Ranke und neckten einander, indem sie taten, als ob sie sich Früchte reichen wollten. An einer anderen Stelle glotzte plump ein zorniges Nashorn, das einen wilden Tiger, der in der gegenüberliegenden Arabeske lauerte, zum Kampf herauszufordern schien. In anderen Laubverzierungen wieder sahen bunte, altklug aussehende Papageien oder prachtvolle Paradiesvögel, und auch ein scheues Känguruh fehlte nicht, das mit zurückgelegten Ohren durch die Steppe hüpfte. Ein weiser Elefant dachte schwermütig über die Schlechtigkeit der Welt nach, und ein Marabu, der sinnend auf einem Beine stand, schien ihm dabei zu helfen, während ein Stockwerk höher eine leichtsinnige Gazelle dahinflog und von unten eine Giraffe, deren Hals in dem ihr zugemessenen Felde nicht genügend Platz gefunden hatte, mit ihrem Kopf in sein Gebiet hineinragte. Es war eine ganze zierliche Menagerie aus kunstvoll verwebter, buntschillernder Seide, die sich da über dem Wanste des Pimperonkels ausbreitete, und Kebach wurde nicht müde, die prachtvolle Arbeit zu bewundern und zu loben.

»Da braucht einer gar nicht mehr nach Schönbrunn zu gehen,« sagte er schließlich. »Da braucht er nur deinen Bauch anzuschauen, so sieht er auch das nämliche.«

Der Pimperonkel lachte, daß der ganze Tiergarten zu wackeln begann.

Der Zeugmacher Reckenschuß mischte noch immer die Karten.

»Na alsdann, bis morgen früh werden wir ja vielleicht jeder unser Blatt in der Hand haben,« meinte der Guguck schalkhaft.

Er war auch keiner von denen, die sich viel mit Karten abgeben. Aber hie und da einmal ein Spielchen an einem Sonntag nachmittag, das machte ihm Spaß.

»Sie, muntere Tyrolerin, schlafen Sie nicht ein!« lachte der Pimperonkel. Endlich hatte Reckenschuß fertig gemischt und teilte aus.

Als der Guguck sein Blatt entfaltet hatte, rückte Kitzinger näher, um ihm in die Karten zu schauen.

»Wirst gleich gehen, Paradeisvogel!« begehrte Kebach auf. »Das ging' mir grade noch ab, daß ich mir von einem Färber in die Karten schauen laß'! Also, Pimper, du hast die Vorhand, spiel aus!«

Das Spiel kam in Gang. Der Guguck hielt wirklich sein Blatt so geschickt, daß der Kiebitz nicht hineinsehen konnte. Kitzinger ärgerte sich.

»Warum soll dir denn gerade ein Färber nicht in die Karten schauen dürfen?« fragte er gereizt.

»Ihr Färber laßt uns Fabrikanten auch nicht in eure Karten schauen,« erklärte Kebach.

Der Paradeisvogel zuckte die Achsel und wendete sich ab, um dem englischen Lord in die Karten zu schauen.

»Was der Guguck nur alleweil gegen uns Färber hat!« murrte er.

»Sei still und stör uns nicht beständig, Kiebitzinger!« herrschte Kebach ihn an. »Ein Kiebitz hat den Mund zu halten, das ist seine erste Pflicht!« Er suchte aus dem großen Fächer von Karten, den er in der Hand hielt, mit behaglicher Miene die richtige heraus. »Da kann ich grad' noch drüber,« sagte er schmunzelnd und stach mit dem Sküs den Mond ab.

»Au weh zwick! Au weh zwick!« schrie der Pimperonkel.

Das Spiel war herumgegangen. Der Guguck strich ein. Er schilderte, was für eine Angst er um seinen Pagat ausgestanden, und wie er ihn schließlich doch durchgebracht habe, und war sehr fröhlich und aufgeräumt. Es wurde nur um winzige Einsätze gespielt, aber er hatte doch eine kindische Freude, daß er gewann.

»Ja richtig!« rief er. »Auf den Juden haben wir vergessen zusammenzulegen!«

»Also, jeder, der gibt, zahlt ein halbes Zwölferl auf den Juden,« schlug der Hausherr vor.

»Gut,« sagte Kebach; »und der Kiebitz zahlt sein halbes Zwölferl jedesmal, wenn das Geben an ihn kommen tät'.«

»Mir scheint, du bist nicht bei Trost, Guguck?« wehrte sich der Färber. »Wie komm' denn ich dazu, auf den Juden einzuzahlen, wo ich nicht mitspiel'!«

»Dafür darfst zuschauen,« sagte der Guguck. »Das haben wir immer so gehalten, daß der Kiebitz auch etwas zum Juden beitragen muß!«

»Nein, das hab' ich noch nie gehört!« eiferte Kitzinger aufgebracht. »Ich hab' schon oft gekiebitzt, aber daß man deswegen auf den Juden einzahlen müßt', das hab' ich noch nie gehört!«

»Alsdann, so hörst es halt heut' zum erstenmal,« sagte Kebach entschieden. »Es ist ja nicht für den der den Pagatl macht, es ist für einen allgemeinen Zweck. Nicht wahr, wir halten's so: der Jud gehört für einen wohltätigen Zweck?«

»Einverstanden,« sagte Pimper. »Es ist immer am besten, wenn der Jud einem wohltätigen Zweck gehört; wenigstens giften sich die andern nicht, wenn im Juden recht viel drin ist und einer macht Pagat-ultimo.«

»Ist mir auch recht,« sagte Reckenschuß. »Also machen wir aus, der Jud gehört für die Bürgermiliz.«

»Gar keine Spur!« rief der Guguck eifrig. »Vielleicht weil du Hauptmann bist? Was geht denn der Bürgerwehr ab? Sind ja eh' eine Menge vermögliche Leut' dabei! Und das bissel Wachstehn, wenn's wirklich dazu kommt – deswegen werden wir sie doch nicht unterstützen! Aber die Landwehrmänner, wenn die fort müssen – da bleiben viele bedürftige Familien zurück! Das ist ganz etwas anderes! Für die Landwehr legen wir den Juden zusammen!«

»Für die Landwehr haben wir ja eh' schon eine Masse Geld gezeichnet!« meinte Kitzinger.

»Ja, eine Masse Geld!« sagte Kebach. »Ich bitt' dich! Das ist immer noch gerade auf einen hohlen Zahn! Und dir wird es weiter was schaden, Stibitzinger, wenn du noch einmal deinen Beutel auftust!«

»Jetzt – was bedeutet das wieder: Stibitzinger?« fragte der Paradeisvogel mißtrauisch.

»Das bedeutet,« sagte der Guguck, »daß ein Färber nicht Kiebitzinger, sondern Stibitzinger heißen sollt'. Warum, wirst schon selber wissen.«

Die Menagerie auf dem Wanst des Pimperonkels fing wieder zu wackeln an.

»Also, und da ist mein halbes Zwölferl für den Juden,« sagte der Guguck.

Er legte es in eine kleine Tasse, die auf dem Tische stand, und sammelte dann mit der Tasse ein und hielt sie auch dem Paradeisvogel hin. Der murrte zwar und machte ein verdrießliches Gesicht, griff aber doch in den Sack, um seinen Beitrag zu leisten.

»Damit trocknest du Tränen!« sagte Kebach ernst. »Wär' mir eh' lieber, wir hätten ein ganzes Zwölferl beschlossen: gar viel wird bei einem halben nicht zusammenkommen«

Der Pimperonkel mischte die Karten und teilte aus.

»Der Jud,« rief Kebach nach dem andern Tisch hinüber, »der gehört der Landwehr, daß ihr es wißt!«

»Ei warum nicht gar!« machte der Appreteur Woitech. »Da hört sich ja die Freud' am Spielen auf, wenn man nichts gewinnen kann!«

»Kannst ja außerdem noch immer gewinnen!« sagte der Guguck.

»Na ja, aber wie viel denn, wenn man den Juden nicht gewinnen kann! Zu was steht man denn nachher die Angst aus beim Pagatlansagen?«

»Zur Unterhaltung,« sagte der Bandmacher Kleebinder vom »Luftschützen« in der Rauchfangkehrergasse.

»Eine schöne Unterhaltung das, Angst ausstehn für nichts und wieder nichts,« murrte der rote Igel.

»Ich meine,« erklärte Kleebinder – denn immer, wenn er etwas gesagt hatte, mußte er noch näher erklären, wie es eigentlich gemeint war – »ich meine, spielen tut man zur Unterhaltung. Und ein bissel Angst ausstehn gehört halt auch zum Spielen.«

»Und was sagen denn Sie, Schroll?« rief Kebach hinüber. »Sie mögen überhaupt keinen Juden, was?«

Der Schroll legte die Karten weg und sah ihn aufmerksam an.

»Warum soll denn ich keinen Juden mögen?«

»No, ich hab' da neulich ein Stückel gehört, wie ein Bandmacher vom Schottenfeld mit einem armen Hausierjuden umgesprungen sein soll.«

»Aber liebe Freunde,« rief der Hausherr, dem es angst und bang wurde; »wir versäumen unser Spiel, und ich hab' so ein schönes Blatt in der Hand!«

Der Schroll spürte aber etwas wie einen Angriff aus Kebachs Worten heraus, und darauf mußte er antworten.

»Hat also der Schabsel gepetzt!« sagte er. »Wenn Sie nun deswegen glauben, Kebach, daß ich ihn hinausgewiesen hab', weil er ein Jud' ist, so sind Sie auf dem Holzweg. Ich hab' ihn hinausgewiesen, weil er mir von meinen Preisen etwas hat abdrücken wollen. Und das gibt es bei mir nicht! Ein Trödelmarkt ist mein Magazin nicht, da wird nicht gehandelt, und wer nicht zahlen will, was meine Ware wert ist, der kann gehn. Das gilt gleichmäßig für Christen und für Juden. Und wenn mir auch im allgemeinen die Christen lieber sind, so bin ich der letzte, der einen Juden schlecht behandelt, weil er ein Jud' ist. Es wird bei uns von oben her schon Unsinn genug getrieben mit den Juden; da werd' ich nicht auch noch mittun.«

»Warum Unsinn?« fragte der Pimperonkel und legte jetzt gleichfalls die Karten fort. »Ich find' es im Gegenteil ganz in der Ordnung, daß man die Juden nicht aufkommen lassen will!«

»Aber sie sind doch unsere Mitmenschen!« rief Kebach. »Das ist eine Herzlosigkeit, wie unsere Behörden sie drangsalieren!«

»Ach was, Herzlosigkeit!« sagte der Schroll. »Von mir aus brauchen die Behörden kein Herz zu haben, wenn sie nur einen Verstand haben. Aber ist denn das Verstand: auf der einen Seite wird dafür gesorgt, daß wir Untertanen nur ja schön brav dumm bleiben; und auf der andern Seite werden die Juden, die man gar nicht als Untertanen gelten lassen will, durch alle möglichen kleinen Quälereien und durch Schwierigkeiten, die man ihnen in allen Berufen macht, mit Gewalt zu findigen und geschickten Geld- und Handelsleuten erzogen!«

»Aber der Staat ist doch dazu da, daß er die Christen, und nicht daß er die Juden schirmt!« rief der Erzengel Michael dazwischen. Auch er legte jetzt die Karten weg, oder warf sie vielmehr mit einer gewissen Heftigkeit auf den Tisch. »Wollen Sie vielleicht, daß wir die Juden in die Seidenzeugmachergilde aufnehmen, wie? Was sollten wir denn machen, wenn wir jüdische Mitwerber auch noch bekämen?«

»Was wir machen müßten,« sagte der Schroll, »ist sehr einfach. Noch mehr und noch besser arbeiten, als die Juden.«

»Du Schroll, jetzt hör einmal!« sagte der Pimperonkel. »Wenn mein Gärtner in seinem Glashaus alle Pflanzen gleich gut behandeln wollt', dann würde aus keiner was. Die edleren muß er an die Sonne, und die minderen in den Winkel stellen. Und so müssen es auch die Behörden machen, wenn sie eine gute Zucht von Untertanen ziehen wollen.«

»So machen sie es ja ohnedies,« sagte der Schroll. »Treibhauspflanzen ziehen sie, und jeden Lufthauch einer geistigen Bewegung halten sie von ihnen ab.«

»Treibhauspflanzen haben die allerschönsten Blüten,« meinte der Erzengel.

»Aber keine Früchte,« sagte der Schroll. »Übrigens nehm' ich an, daß dein Gärtner sein Handwerk versteht. Ob aber unsere Gärtner das ihrige ebensogut verstehen, darüber kann jeder sich seine eigenen Gedanken machen. Außerdem sind wir keine Pflanzen, die stumm sind und nichts von sich wissen. Wir sind die Gärtner, wir selbst sind die Gärtner im Staat, und die Behörden, das sind höchstens unsere Handlanger. Das ist von vornherein eine verdrehte Vorstellung: daß wir wie Kinder sind, die eine Kindsfrau brauchen, und die Kindsfrau führt uns am Gängelband und erlaubt uns, daß wir Milchkoch essen dürfen, und erzählt uns vom Wau-Wau, wenn wir schlimm sind. Unwürdig ist es, sich die Dinge im Staat so ungefähr zu denken. Wir Bürger sind es, die das Leben im Staate machen, vielleicht nicht mehr als die Bauern, aber sicher mehr als alle anderen Stände. Und der Bürger muß sich auf sich selbst verlassen und auf niemand sonst, der irdische Macht hat, sonst gräbt er sich selbst den Boden unter den Füßen ab. Und wenn er sich nicht selber schützt, durch seinen Fleiß und durch die Tüchtigkeit seiner Arbeit – die Kanzleiherren werden ihm auf die Dauer nicht helfen können, und wenn sie sich auf den Kopf stellen wollten. Ebensowenig als die Kanzleiherren imstande sein werden, die Juden, soweit sie gescheit, fleißig und ehrlich sind, dauernd niederzuhalten. Schon jetzt kann man es sehen, daß all das kurzsichtige Zwicken und Placken, mit dem man bei uns die Juden verfolgt, sie nur findiger und zäher macht. Heiraten und Kinder kriegen sollen sie nicht, Grundbesitz dürfen sie keinen erwerben, Kanzleiherrn und Offiziere können sie nicht sein, in die Zünfte mag man sie nicht aufnehmen – und doch weiß ich schon heute manches Haus auf dem Schottenfeld, das eigentlich einem Juden gehört, und manche Fabrik gibt es, die mit jüdischem Geld betrieben wird. Wie ist das zu erklären und woher kommt es?«

Der Pimperonkel schwieg und wetzte peinlich berührt auf seinem Sessel umher. Man sagte ihm nach, daß er Geldgeschäfte mache und mit verschiedenen Unterhändlern in Verbindung stehe. Er fand, daß der Schroll sich wieder einmal recht als »grober« Schroll bewähre. Hier, wo man des Vergnügens halber beisammen war, meinte er, könnt' er sich doch ein Blatt vor den Mund nehmen! Was mußte er seine Meinung, die für manchen empfindlich und überdies staatsgefährlich war, so gerade heraussagen?

»Das kommt daher,« rief der Erzengel aufgebracht, »weil die Juden schlauer und unbedenklicher und außerdem schmieriger sind!«

»Das wär' mir eine schöne Welt,« sagte der Schroll, »wo solche Eigenschaften entgegen dem wirklich Tüchtigen einen Stein im Brett voraus hätten! Aber woher es in Wahrheit kommt, das will ich euch sagen. Es kommt daher, weil mancher unter uns Bürgern schon anhebt leichtsinnig und üppig zu tun und sich damit tröstet: die Behörde wird mich schon schützen gegen jeden scharfen Luftzug, wenn ich dafür recht brav bin und nichts Unrechtes lese und mir nichts denken tu! Dagegen müssen wir uns wehren, liebe Freunde, viel mehr als gegen die Juden, denn wenn wir keinen Saft und keine Kraft und keinen Kern mehr in uns haben und nicht ein gut Stückel gescheiter werden, wie die Zeit es fordert, und nicht einfach und gutbürgerlich dabei bleiben, dann könnten die Kanzleiherrn, die uns jetzt mit Zensur und Polizei regieren, es in Zukunft wirklich einmal erreichen, daß kein festes und weitblickendes deutsches Bürgertum mehr da wär', gerade zu einer Zeit vielleicht, wo unser Staat es am notwendigsten brauchen tät!«

»Ah, wär' nicht aus!« rief der Guguck. »Wir halten unsere Sach' schon zusammen! Ordnung muß freilich sein, denn wenn der Bürger nichts hat, so ist er auch nichts.«

»Ich hab' Saft genug,« scherzte der Färber Kitzinger. »Saft in allen Farben und Schattierungen.«

»Das sind geschwollene Reden!« sagte der Erzengel Michael. »Ich seh' gar nicht ein, zu was ein Fabrikant weitblickend zu sein braucht? Wenn er nur sein Geschäft versteht – außerdem braucht er sich von mir aus gar nichts zu denken. Mit dem weiten Blick und dem Kern macht er keinen Stoff und macht er keinen Samt. Können muß er es, und außerdem braucht er gar nichts zu wissen. Und besonders in politischen und geistlichen Sachen – hört mir auf! – Da ist es viel gescheiter, wenn er andere für sich denken läßt.«

»Ja, wenn sie denken,« sagte der Bandmacher Kleebinder.

»Wer?« fragte der Erzengel.

»Ich meine,« erklärte Kleebinder, »wenn sie nur auch wirklich denken, die andern, die für uns denken sollen. Denn wenn die vielleicht auch gedankenlos sind, so wär' es am Ende doch gescheiter, wir denken uns selber was.«

Dem gutmütigen Kebach tat es leid um den Pimperonkel, der stumm dasaß und gedankenvoll vor sich hin sinnierte.

»Alsdann, jetzt sind wir vom Judeneinzahlen auf alles mögliche gekommen,« sagte er. »Jetzt, mein' ich, spielen wir aber wieder weiter. Soll jeder Tisch mit seinem Juden machen, was er will; der unsrige gehört für die Landwehr.«

»Wenn es heißt, für den Juden zusammenlegen,« sagte der Schroll, »so bin ich auch für die Wohltätigkeit; aber nicht für die Landwehr! Was geht denn uns Bürger die Landwehr an? Für die unterstützungsbedürftigen Bürger im langen Kellerhaus legen wir den Juden zusammen!«

»Immer diese wohltätigen Zwecke!« rief der Erzengel Michael verdrießlich. »Schon bald sein Gewand vom Leib könnt' man hergeben vor lauter Wohltätigkeit! Was geht denn mich die Allgemeinheit an? Soll jeder schauen, daß er ein vermöglicher Mann wird, so braucht keiner für die Allgemeinheit zu sorgen. Mir hat auch niemand was geschenkt, und ich hab' mir's selber verdienen müssen. Sollen die andern sich's auch selber verdienen! Ich bin dafür, daß der Jud dem gehört, der ihn gewinnt. Die Bürger im langen Kellerhaus sind eh' versorgt, dafür ist es ein Versorgungshaus, und das Militär geht mich schon gar nichts an.«

»Aber die Landwehr ist doch kein gewöhnliches Militär!« sagte Kebach, indem er die Karten, die er schon aufgenommen hatte, abermals auf den Tisch legte. »Die Landwehr, das ist die Volksbewaffnung, und wenn wir die unterstützen, so verteidigen wir uns selbst gegen den Feind!«

Jetzt warf auch der Schroll die Karten wieder auf den Tisch.

»Das ist aber dem Bürger seine Sach' nicht!« rief er ganz aufgebracht. »Das ist dem Reich seine Sach'! Da, wo es allein auf den Bürger ankommt, wo er sich auf sich selbst verlassen muß und niemand ihm dreinzureden hat, da heißt es nur immer: die Behörden und die Behörden! Und jetzt, wo der Krieg in der Luft liegt und wo der Staat mit seinen Soldaten drankommen soll, jetzt heißt es auf einmal: die Bürger und die Bürger! Das ist der Regierung ihre Sach', den Krieg zu führen, dazu ist das Militär da, und deswegen zahlen wir Bürger unsere Steuern und haben die elende Bankozettelwirtschaft auf dem Hals. Sollen sie's jetzt nur machen ohne uns, was ihnen obliegt, gefragt werden wir eh' nicht. Im Frieden, da stehen wir wie Abgestrafte unter Polizeiaufsicht, und wenn dann der Krieg kommt, dann sind wir auf einmal die Nachkommen von den ruhmvollen Bürgern, die Wien gegen die Türken verteidigt haben!«

»Und verlieren tun wir den Krieg ja so wie so,« sagte Woitech und lachte.

Kebach sprang auf.

»Da gibt es nichts zu lachen!« schrie er den Appreteur an. »Schäm dich! Jetzt, wo das Vatterland in Gefahr ist!«

Er sprach »Vatterland« mit mindestens zwei T und einem A, das wie ein Peitschenhieb knallte.

Dem Pimperonkel war ein politischer Wortwechsel überhaupt unerfreulich und jetzt als Hausherrn noch ganz besonders unbequem. Er bemühte sich, Kebach zu beruhigen.

»Aber blauer Guguck, geh, setz dich nieder, was wirst dich denn erhitzen?«

Der Guguck aber war nicht mehr zu halten. Wütend fuhr er auf den andern Tisch los.

»Sind wir auch! Sind wir auch!« herrschte er den Schroll an. Er meinte: Nachkommen der Bürger, die Wien gegen die Türken verteidigt hatten. »Ich wenigstens bin ein Nachkomme! Und wenn es notwendig ist, werd' ich es den Parlezvous schon zeigen! Was ist das für ein schwachmütiges Gered', das Sie da verbringen! Jetzt, wo Kaiser und Reich in Gefahr schweben, jetzt sollen wir überlegen, was dem Bürger und was dem Staat seine Sach' ist? Wär' nicht aus! Das wär' zum erstenmal, daß ein Wiener sich's überlegen tät', wenn sein Kaiser ihn ruft!«

Auch der Schroll erhob sich jetzt, gereizt durch die fast drohende Haltung, die Kebach annahm. Er war gut einen Kopf größer als der Guguck. Sie standen einander gegenüber. An die Karten dachte jetzt keiner mehr. Es lagen so viele ungelöste Fragen in der Luft, die allen nahe gingen, und über die schon die nächste Zukunft entscheiden mußte. Man brauchte nur eine berühren, so kamen alle Gemüter in Bewegung.

»Ein schwachmütiges Gered' sagen Sie?« rief der Schroll. »Und jetzt sollen wir Bürger es uns nicht überlegen dürfen? Was haben wir denn für gewöhnlich dreinzureden, he? Ohne jeden politischen Einfluß sind wir! Von einem Dutzend Adelsfamilien hängt unser ganzes Wohl und Weh' ab. Da ist so ein ungarischer Kavalier, der steht an der Spitze der Finanzkommission und wirtschaftet mit unseren Geldern. Der rühmt sich, hab' ich mir sagen lassen, daß er von der Finanzlehr' nichts versteht. Und das traut er sich auch noch offen zu sagen! Jetzt stellen Sie sich vor, ich wollt' weben und wüßt' nichts von der inneren Einrichtung des Stuhles! Sobald nur ein Faden sich verrüttet, steh' ich natürlich wie der Ochs am Berg. Und so ein Mann hält unsere wirtschaftlichen Geschicke in der Hand, weil er schön Diener machen und Hand bussen kann! Ist denn das in Ordnung? Und glauben Sie, daß die ganze Kanzleiherrnwirtschaft dem Staat und unserm guten Kaiser zum Segen ist? Wo vor allem darauf geschaut wird, daß nur der Staatsbürger nicht mit Kenntnissen luxuriert! Und womöglich eine Schulpolizei darauf aufpaßt, daß nur ja Untertanen und keine Menschen herangebildet werden! Und wo noch darüber gestritten wird, ob Handel und Industrie überhaupt nützlich sind, oder ob man sie nicht lieber ganz verbieten sollt'!«

»Es ist gar nicht so arg, wie Sie es machen!« eiferte der Guguck. »So als ob alles nur Stillstand oder gar Rückschritt bei uns wär'! Gar manches ist besser geworden in den letzten Jahren!«

Auch der Pimperonkel war aufgestanden, weil er immer fürchtete, der Schroll und der Guguck könnten aneinandergeraten.

»Da hat der Guguck recht,« sagte er beschwichtigend. »Es ist vieles geschehen in der letzten Zeit, es sind neue Verkehrswege eröffnet worden, die Handel und Wandel beleben, mit der Zensur wird es nicht mehr so streng genommen wie früher –«

»Es gibt eh' viel zu viel Bücheln!« warf Kebach dazwischen. »Ich möcht' wissen, wer Zeit hat, die alle zu lesen!«

»Auf die Schulen schauen sie jetzt viel besser als früher,« fuhr der Pimperonkel fort; »verschiedene wissenschaftliche Einrichtungen sind gemacht worden, und schon ein paarmal hab' ich es gedruckt gelesen, und es ist nicht verboten worden, daß wir zur deutschen Kultur gehören und auch etwas von ihr wissen dürfen.«

»Jetzt, zu was soll denn ein Fabrikant auf dem Schottenfeld eine deutsche Kultur brauchen!« rief der Erzengel den Kopf schüttelnd.

»Zum Aufputz halt, so gleichsam zur Appretur,« sagte Woitech, wagte aber nicht, noch einmal zu lachen.

»Ja, wie du es da sagst,« antwortete der Schroll dem Pimper, »so hört es sich gar nicht schlecht an. Das ist jetzt, vor dem Krieg, freilich der Zug in unserer Politik, daß durch eine gesteigerte Nationalität und durch ein paar in aller Eile herausgeworfene Reformen der Bürgerstand gewonnen werden soll. Aber eh' ich keine Dauer seh', eh' wart' ich lieber noch ein bissel zu. Und dazwischen sind auch Anzeichen da, die mir nicht gefallen können. Nimm nur das eine, daß der Magistrat eine landesfürstliche Behörde geworden ist, und daß wir jetzt nicht einmal mehr unsern Bürgermeister selbst sollen erkiesen dürfen!«

Alle stimmten jetzt zu: Nein, das brauchten sie sich wirklich nicht bieten zu lassen! Daß sie sogar ihren Bürgermeister nicht mehr selbst wählen sollten! Sogar der Guguck fand, das gehe zu weit.

»Darüber können wir Bürger mit der Regierung schon noch ein Wörtl reden,« sagte er, »wenn die Gefahr vorüber ist. Aber dazu ist jetzt nicht der rechte Augenblick. Zuerst muß man ein Haus außen verputzen und oben eindecken, damit es nicht hereinregnet, nachher erst kann man anfangen und die Wände tapezieren. Und deswegen, weil vielleicht noch nicht alle Zimmer tapeziert sind, deswegen werden wir jetzt in der Not unsern Kaiser und unser Vaterland nicht im Stich lassen! Überhaupt geht der ganze Krieg nicht bloß die Regierung an, sondern ebensogut uns Bürger. Ein Volkskrieg ist es, der jetzt vor der Tür steht, und ein heiliger Krieg!«

»Aber wer ist denn das Volk?« rief der Schroll. »Wir sind das Volk, und wir wollen doch keinen Krieg? Und das französische Volk will ihn ebensowenig. Nicht einmal der Erzherzog Karl will den Krieg, und der wird schon wissen, warum. Und wenn es wirklich zum Krieg kommt, so hat ihn nicht das Volk gemacht. Zwei Korsikaner sind es, die ihn auf dem Gewissen haben!«

»Zwei Korsikaner?« fragte der Pimperonkel.

»Der eine,« sagte der Schroll, »das ist der Napoleon. Und der andere Korsikaner, vorausgesetzt, daß er wirklich der Sohn seines Vaters ist, das ist der Herr von Baldacci.Anton von Baldacci, von korsischer Abstammung, Mitglied des Staatsrates und Kabinettsreferent, damals der einflußreichste Ratgeber des Kaisers und Vertreter der Kriegspartei. Und daß es keinem von den zweien um sein Volk und einem jeden nur um seinen Ehrgeiz und um seine Macht zu tun ist, das ist wohl mehr als wahrscheinlich. Sehen Sie, Guguck, so schaut Ihr Volkskrieg aus, wenn man tiefer hineinblickt.«

»Was geht mich dieser Herr von Bavalatschi an?« rief der Guguck aufgebracht, »Was kümmert mich überhaupt die hohe Politik? Davon versteh' ich nichts und mag auch nichts davon verstehn. Ich bin ein Österreicher und ein Wiener, und wenn der Kaiser ruft, so folg' ich, er wird schon wissen, was er will. In den Krieg mitgehn kann ich nicht mehr, aber für die Landwehr wenigstens werd' ich tun, was ich kann. Und wenn wir früher vielleicht nicht mit allem zufrieden waren – jetzt müssen wir es vergessen! Und nachher – nachher wird auch unser guter Kaiser ein Einsehen haben, wenn wir in der Zeit der Gefahr jeder das Unsrige getan haben. Dann können wir ihm auch alles vorbringen, was wir auf dem Herzen haben, daß er nicht am End' die Lombardei zurückerobern soll, und daß wir unsern Bürgermeister selbst erkiesen wollen, und daß sie das Spitzelwesen abschaffen und das Burgtor frisch anstreichen sollen, und daß überhaupt noch manches zu ändern und zu verbessern wär'.«

Der Pimperonkel fand seine Laune wieder. Die Menagerie auf seiner Weste kam so stark ins Wackeln wie lange nicht.

»Sag einmal, Guguck, was hast du denn eigentlich mit dem Burgtor?« fragte er.

»No ja, das ist ja keine von den wichtigeren Sachen,« meinte Kebach. »Aber stell dir vor, du wärst etwa ein Seidenhändler, sagen wir, und kämst in mein Magazin und fändest schon die Eingangstür zerlempert. Was wirst du dir nachher von mir denken? Und wirst du mir einen großen Kredit einräumen? Na also, siehst es!«

»Darüber wären wir also einig,« sagte der Schroll, »daß manches noch zu verbessern, ja vom Grund auf zu verbessern wär'. Aber Sie, Guguck, erwarten alles von den Behörden, und ich von uns selbst – das ist der Unterschied. Sie sind ganz der Untertan nach dem Herzen unserer Behörden, die sich für die von Gott eingesetzten Vormünder halten und für ihre Mündel jedes Ja und jedes Nein entscheiden und jede Unterschrift geben wollen. Und diese unselige Vorstellung allein hebt viel von dem Segen auf, den die Regierung unseres geliebten und verehrten Kaisers sonst für uns haben könnte. Denn unser Kaiser ist ein Herrscher von allerbestem Willen, von klugem Verstand, von schlichter Lebensführung, von strenger Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue. Man muß ihn gern haben, und wir alle können uns ein Beispiel an ihm nehmen. Und wo ist je ein Thron von so aufgeweckten und tüchtigen Ratgebern umgeben gewesen, wie unsere Erzherzöge Karl, Johann und Rainer es sind? Wo haben je fürstliche Prinzen mit mehr Liebe und Fleiß und Aufopferung über das allgemeine Wohl nachgedacht und dafür gearbeitet? Und doch will nichts recht vorwärtsgehn! Und doch verwandeln so oft die Heilmittel, die man dem Staate bereiten will, sich in Gift! Woher kommt denn das? Und wie ist es zu erklären? Das kommt nicht bloß daher, daß die Aufgaben so verwickelt und die Zeiten so schwer sind. Das kommt auch daher, weil wir eben Bevormundete sind. Weil man uns nicht vertrauensvoll unsere eigenen Wege wählen läßt. Weil man nicht unsere starken Kräfte sich ruhig entwickeln läßt. Weil immer ein Aufseher mit dem Staberl hinter uns her ist. So steht es heut' mit uns, und wenn es noch lang so bleibt, so ist das nicht bloß ein Unglück für uns, es ist auch ein Unglück für das Reich und die Dynastie, das noch nach hundert Jahren zu spüren sein wird und vielleicht überhaupt nicht mehr gut zu machen ist. Denn das Bürgertum ist die Hoffnung und die Stütze der Zukunft. In der Schule aber, in die wir jetzt gehen, erzieht man keine echten Bürger, da werden nur entweder Duckmäuser oder Schimpfer ausgebildet. Duckmäuser sag' ich – nicht etwa Konservative, die es aus Überzeugung sind; und Schimpfer sag' ich – nicht etwa Revolutionäre, die etwas Bestimmtes wollen. Na, und einem solchen Jammer sollen wir unser Vaterland zusteuern lassen? Nein: unserm guten Kaiser und unserm alten Österreich zulieb muß der Bürger sich und seine Rechte durchsetzen, damit es nicht so weit kommt. Und gerade in Zeiten der Gefahr ist es unsere Pflicht, den Nacken steif zu halten und nicht in falscher vaterländischer Begeisterung von heut' auf morgen zu vergessen, was uns fehlt, und was man uns alles versagt!«

»So schön und gescheit kann ich zwar nicht reden,« sagte der Guguck, »aber das eine weiß ich, daß der Napoleon alle Kaiser und König' absetzen will, weil er sich gift', daß er der einzige Emporkömmling in der Gesellschaft ist. So soll also die Reih' jetzt an unsern Kaiser kommen. Und mehr brauch' ich nicht zu wissen. Unsern Kaiser laß' ich nicht absetzen! Und wenn ich wüßt', daß es gut für ihn ist, wenn man in einen Plutzer springt, so tät' ich in einen Plutzer springen. So, jetzt wissen Sie es, und jetzt können Sie mich für ein Trottel halten, wenn Sie wollen.«

»Ja, das ist auch meine Überzeugung!« sagte Kleebinder fest.

»Was ist deine Überzeugung?« fragte der Erzengel.

»Ich meine nämlich, meine Überzeugung ist, daß wir jetzt nicht rechts und nicht links schauen dürfen, sondern einfach zu unserm Kaiser stehen müssen. Denn spätestens bis der Winter vorüber ist, haben wir den Krieg, und das wird ein blutiger werden!«

Das Bild des drohenden Krieges war jetzt allen vor die Seele getreten. Keiner blieb mehr am Spieltisch sitzen, und in kleinen Gruppen beieinander stehend, oder von einer zur andern gehend, besprachen sie aufgeregt die kommenden Möglichkeiten und die Folgen, die daraus für sie, für die Stadt und für das Reich entstehen konnten. Jeder wußte ein anderes Gerücht zu erzählen, jeder hatte etwas über die Rüstungen gehört, die offen oder insgeheim betrieben wurden. Jeder bezog aus einer anderen Quelle Einzelheiten über die Parteiungen, die bei Hofe herrschten, und allen war bekannt, daß die schöne junge Kaiserin eifrig für den Krieg wirkte, und daß sie schon an den Bändern stickte, mit denen sie die Fahnen der ausziehenden Landwehrbataillone schmücken wollte.

Auch über die Stimmung, die in Wien herrschte, tauschten sie ihre Meinungen. Der Pimperonkel berichtete, er sei unlängst im Redoutensaal in einem Konzert gewesen, und dort seien Kriegslieder von Collin gesungen worden, und das Publikum habe auf die übrige Musik gar nicht mehr gehört und besonders das Lied »Österreich über alles« immer wieder verlangt und mit wahren Stürmen der Begeisterung aufgenommen. Ganz ähnliches habe er neulich im Leopoldstädter Theater erlebt, berichtete Hirnschal, wo er sich den travestierten »Hamlet« angesehen habe. Ein Schauspieler hätte Anspielungen auf Napoleon gemacht, daraufhin sei das Publikum gar nicht mehr zur Ruhe gekommen und hätte immer wieder dergleichen gefordert, und in den Zwischenakten seien dann von Studenten und jungen Künstlern vaterländische Lieder angestimmt worden, und viele Leute hätten mitgesungen.

»Nun sehen Sie,« sagte der Guguck zum Schroll; »ist das vielleicht nicht das Volk?«

»Wir guten Wiener sind leicht zu haben,« sagte der Schroll. »Eigentlich gefällt mir's selbst, daß wir so sind. Aber eine Schwäche bleibt es darum doch, und mehr als eine Schwäche: ein Mangel an Gepräge und eine zu wenig ernste Voraussicht.«

Kleebinder erzählte, daß Napoleon über die Errichtung der Landwehr empört sei und ihre Auflösung verlangt habe, die natürlich verweigert worden sei. Darüber freute sich der Guguck unsinnig, und auch der rote Igel und der Paradeisvogel frohlockten, und sogar der Erzengel Michael empfand eine gewisse Genugtuung über den ohnmächtigen Zorn des Korsen.

»Ja, unsere Landwehr, die fuchst halt die Parlezvous, daß sie sich nicht mehr auskennen vor Wut!« sagte der Guguck, sich die Hände reibend. »Gut, daß sie diesmal nicht bis nach Wien kommen werden, sonst täten sie sich sicher an uns Schottenfeldern rächen, weil wir so viel für die Landwehr beigesteuert haben.«

»Und uns im Ratzenstadtl ging's dann auch nicht zum besten,« meinte der Färber Kitzinger.

Reckenschuh zog eine französische Zeitung aus der Tasche.

»Habt ihr das schon gehört, wie da unser gutes Wien hingestellt wird?«

Er las vor und übersetzte. Die Stadt wurde in maßloser und gehässiger Übertreibung als herabgekommen, entvölkert und hilflos, die Bewohnerschaft als entmutigt und halb verhungert geschildert. Im letzten Winter seien ganze Rudel Wölfe aus Ungarn bis auf das Glacis gekommen. Überall fehle es an Geld, und aus den Bankozetteln drehe man Fidibusse, um sich die Pfeifen anzustecken, aus denen man aber keinen Tabak, sondern dürre Nußbaum- und Birkenblätter schmauche.

Sie mußten lachen und ärgerten sich doch zugleich.

»No ja, das hat man davon,« meinte der Guguck; »weil sie das Burgtor nicht anstreichen und die Brücke über den Burggraben nicht ausbessern und den Staub und den Kot auf dem Glacis nicht wegräumen – da bleibt dann an einer solchen Übertreibung doch immer ein bissel was Wahres.«

»Das mit den Bankozetteln, das ist schon fast buchstäblich richtig!« sagte der Erzengel Michael.

Schließlich überwog doch der gerechte Zorn, den sie empfanden, ihre Heiterkeit. Schon widerwärtig fanden sie diese Sucht, die österreichischen Verhältnisse zu entstellen und herabzusetzen, der die Pariser Presse sich seit einiger Zeit mit wahrer Leidenschaft hingab. Immer aufgeregter verliehen sie ihrem Unmut über die französischen Nationaleigenschaften Ausdruck und über die Vorherrschaft, die dieses Volk gegenwärtig über ganz Europa ausübe. Und fast wünschten sich jetzt einige sogar den Krieg, so sehr er ihren Geschäften nachteilig sein mußte, nur um endlich einmal diesen unerträglichen gallischen Übermut gebändigt und nachdrücklich gezüchtigt zu sehen.

So war also das Einzahlen auf den »Juden«, über das sie sich nicht hatten einigen können, überhaupt unterblieben, und das ganze Spielchen ins Wasser gefallen. Schon mahnten die Damen, die inzwischen das Kaffeezimmer verlassen und sich im Löwenzimmer eingefunden hatten, daß es an der Zeit sei aufzubrechen. Nun vereinigten sich auch die Herren wieder mit der übrigen Gesellschaft. Da fanden sie auch auf den Gesichtern der jungen Leute und der Frauen ernste Mienen und konnten aus den letzten Bemerkungen, die noch fielen, erkennen, daß auch hier über den Krieg gesprochen worden war. So mündeten während dieser Zeit in jeder Gesellschaft die Gespräche, mochten sie von wo immer ihren Ausgang genommen haben, in diesen einen großen Gegenstand, der alle Gedanken erfüllte und alle Gemüter beklommen machte.

Die Scheuklappentante war in eine edle vaterländische Aufregung geraten. Sie zog aus ihrem grünseidenen Ridikül, der nach der neuesten Mode die Gestalt eines kleinen Füllhorns hatte, ein Büschel Scharpie hervor und zeigte es herum. Ob es so recht wäre, wollte sie wissen, und besonders um Melchers fachmännisches Urteil bemühte sie sich. Der entschuldigte sich, er wüßt' es nicht, bis jetzt sei er noch nie verwundet gewesen.

»Weil ich nämlich schon alle meine Mußestunden dem Scharpiezupfen widme,« sagte sie die Augen zu ihm aufschlagend. »Auch wir Frauen und Jungfrauen wollen dem Vaterlande dienen.«

Die englische Lady wurde unbewußt zum Schreckenskind, indem sie zum Schroll sagte:

»Was hör' ich! Auch der Lebold will mit in den Krieg ziehen?«

Der Schroll zuckte die Achsel.

»Das wird er sich wohl noch einmal überlegen müssen,« sagte er finster.

»Wenn ich ein junger Mann wär' – ich müßte unbedingt mit dabei sein!« rief die Scheuklappentante. »Dann wären wir Kameraden,« sagte sie süß lächelnd zu Melcher.

Auch die türkische Tante lobte Lebolds Entschluß.

»Bei den Muselmanen trägt jeder edle Jüngling ein Schwert. Das sollte auch bei uns eingeführt werden. Ich wäre stolz, die Mutter eines Landwehrmannes zu sein!« sagte sie zur Schrollin.

Lebolds Mutter blickte ernst und bekümmert. Sie schien ein wenig bewegt, und zugleich war es ihr peinlich, daß die heikle Frage, die ihren Mann in Harnisch brachte, hier erörtert wurde.

»Vielleicht wird es ihm der Vater doch erlauben,« sagte sie bescheiden und blickte bittend auf den Schroll hinüber. Der schaute ganz erstaunt auf und wußte nicht, wie er es deuten sollte, daß unerwartet und plötzlich die Mutter geneigt schien, die Absichten Lebolds zu unterstützen.

Man empfahl sich und ging.

Auf dem Heimweg fühlte Lebold sein Herz voll und schwer. Er hatte die Herzhaftigkeit entzückend gefunden, mit der die Wettl für den Kampf gegen die Fremdherrschaft eingetreten war. Aber daß sie ihn so leicht ziehen ließ und ihn in seinen Vorsätzen bestärkte, erfüllte ihn mit leisen Zweifeln. War sie ihm denn gar nicht ein wenig gut? Er hätte es von Herzen gewünscht. Und er glaubte doch auch eine gewisse Bewegung bei ihr wahrgenommen zu haben, als sie erfuhr, daß er mit in den Krieg ziehen würde. Oder täuschte er sich? Jedenfalls hatte sie nur Worte der Ermunterung für ihn gehabt und ihn gewissermaßen hinausgeschickt in die Gefahr. Das fand er wacker, und es gefiel ihm wohl. Er hätte nicht gewünscht, daß sie sich anders verhalten hätte. Und doch tat es ihm auch ein klein wenig weh. War sie innerlich so stark, oder bedeutete er ihr nichts? Darüber hätte er gern Gewißheit gehabt. Aber die Sterne, die schon am Himmel standen, als er mit Franzl und den Eltern durch die stillen Gassen nach Hause ging, gaben ihm keine Antwort auf seine Fragen und schwiegen und flimmerten nur still über den Dächern auf dem kalten Herbsthimmel.


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