Emil Ertl
Die Leute vom Blauen Guguckshaus
Emil Ertl

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Über dem weiten Marchfeld lag eine glühende Hitze, so früh am Morgen es noch war. Wolkenlos, wie eine ungeheure Glocke aus blauem Glas, wölbte sich der durchsichtige Himmel über der ausgetrockneten Erde; über den bläulichgrünen jungen Saatfeldern brütete eine zitternde Glühluft, und die landesüblichen Schöpfbrunnen, die hie und da ihre langen hölzernen Fangarme aus den Gemüsepflanzungen emporreckten, bildeten das Ziel der Sehnsucht für Tausende und Tausende dürstender, bis zur Erschöpfung abgehetzter Soldaten, kämpfender, verwundeter und sterbender. Nach schwerem Ringen zurückgeworfen und jetzt ermattet um einen jener Brunnen lagernd, hielten Abteilungen des an die Donau gelehnten rechten Flügels der österreichischen Armee, unter denen sich auch das schottische Freibataillon der Wiener Landwehr befand, eine kurze Rast. Bis Mitternacht des vergangenen Tages hatten diese Truppen sich an den fürchterlich blutigen Kämpfen um das halb zerschossene und an mehreren Punkten lichterloh brennende Dorf Aspern beteiligt und es schließlich behauptet. Aber schon im frühesten Morgengrauen, unter dem Schutz eines dichten Nebels, warf Masséna frische, unverbrauchte Scharen in den heißumstrittenen Ort, um jedes Haus, um jede Scheune wurde gerauft und gemordet, und schließlich mußte der wichtige Platz, dessen Besitz über die Schlacht entschied, von den Österreichern wieder geräumt werden.

Auch Lebold hatte gleich seinen Kameraden aus dem Brunnen getrunken und sich gelabt, die Spannung seiner überanstrengten Nerven begann sich zu lösen. Auf einem Markstein am Felde sitzend, blickte er jetzt wie erwachend rund um sich, halb benommen durch Müdigkeit, halb gelähmt noch in seinem Denken und Sinnen durch die ausgestandenen Erregungen seines Gemüts, und gleich als müßt' er sich erst besinnen, wo er eigentlich sei, und was er hier wolle. Zwischen den riesigen Bäumen, die sich über den nahen Donau-Auen wölbten, sah er hinaus in die weite, grüne Landschaft stromaufwärts, und sah in der Ferne den Leopoldsberg ragen und darunter im zarten, bläulichen Duft des Frühnebels die Türme und Bastionen der Stadt und dahinter die aufsteigenden Berge bis hinan zum schimmernden Schnee. Und auf der andern Seite, zu Füßen des kahlen Bisamberges das unendliche Flachland mit seinen Saatfeldern, aus denen verstreute Kirchdörfer blinkten, gegen Norden Stadlau und Hirschstetten, Breitenlee und Raasdorf, die hinter den Aufstellungen der Österreicher und außerhalb des französischen Feuers lagen, gegen Süden aber die rauchenden Trümmer von Aspern und Eßling, um die unablässig gekämpft wurde, während im Zwischenraum zwischen diesen beiden unglücklichen Dörfern die offene Feldschlacht wogte.

Er hatte es kaum mehr gehört, das vielhundertfache Brüllen der Geschütze, das von diesem heißumrungenen Boden ausgehend seit Stunden und Stunden die Luft erschütterte. Erst jetzt vernahm er es wieder, da es schwächer wurde und fast zu verstummen begann; erst jetzt hallte es ihm grollend im Ohre nach, das fast taub geworden war gegen dieses ununterbrochen über die bebende Erde hinrollende Dröhnen. Eine gewaltige Reiterattacke, hieß es, sei zwischen Aspern und Eßling im Werk, erschreckend, wie man noch keine gesehen. Er sprang auf die Füße, seine Müdigkeit war vergessen. Von dem etwas ansteigenden Feldrain, an dem er stand, erblickte er deutlich, so groß die Entfernung auch war, ungeheure, in Staubwolken gehüllte französische Reitermassen, wie sie aus dem Zwischenraume zwischen den Dörfern Aspern und Eßling vorbrachen, um gegen die Mitte der österreichischen Aufstellung zu stoßen. Das war ein Blitzen der Panzer und Helme, als ob der Kriegsgott selbst seine Scharen aufgeboten hätte, und ein Wogen von galoppierenden Pferden, als brause das Heer der Hunnen heran. Drei oder vier Regimenter mußten es sein, die aufgelöst, in rasender Eile wie eine Springflut, die einen blühenden Landstrich überschwemmt, sich über Felder und Pflanzungen hinwälzten. Mit angehaltenem Atem verfolgte er das schreckliche Schauspiel, lautlos, wie zu Bildsäulen erstarrt, standen rings um ihn seine Kameraden. Sie wußten es alle: wenn dieser Stoß gegen die Mitte gelang, so wurden die Flügel aufgerollt und das Korps, zu dem sie gehörten, in die Donau gedrängt.

Schon sahen sie die jagenden Reitermassen sich dem österreichischen Zentrum nähern, das in Feldern versteckt, wie vom Erdboden verschwunden schien und sich nicht mit einem einzigen Schuh gegen die heranbrausende Gefahr zur Wehre setzte. Auch mutige Herzen fing es jetzt an zu bangen. Nach Augenblicken nur konnte die Frist noch zählen – so wurden die österreichischen Regimenter niedergeritten und unter den Hufen der rasenden Rosse zermalmt. Da ratterte plötzlich aus den felsenfesten Vierecken der österreichischen Infanterie das Kleingewehrfeuer, und wie Spreu vor dem Winde stoben die Panzerreiter auseinander. Man sah sie zu Knäueln geballt übereinanderstürzen, durch fluchtartige Umkehr die Nachdrängenden verwirren und gefährden, man sah Haufen von Leichen sich türmen und ledige Pferde führerlos das Weite suchen. Wie mit einem einzigen von einer Riesenfaust geführten wuchtigen Schlage war die unheildrohende Gewitterwolke der französischen Kürassiere, deren wohl an die viertausend gewesen sein mochten, zersprengt und vernichtet. Lebold war es in diesem Augenblicke, als säh' er eine blasse, durchscheinende Gestalt, deren Haupt bis zum Himmel reichte, mit weit auseinandergespreizten Beinen über der unendlichen Ebene stehen und in ihren Armen eine riesige Sense schwingen ...

Die Gefahr war abgewendet, noch immer unentschieden schwankte die Schlacht, die schon den zweiten Tag wütete. Das tapfere Fußvolk der dritten Armeekolonne hatte den wuchtigen Angriff zurückgewiesen und das ganze österreichische Heer dadurch gerettet und vor der Vernichtung bewahrt. Einer der kühnsten, großartigsten und rücksichtslosesten Schachzüge, die der Korse je gewagt, war durch die bewundernswerte Ruhe und Feuerzucht der Österreicher zuschanden geworden. Lebolds Herz schlug höher, so tief er die Greuel des Krieges empfand –: wer war es, der hier, auf diesem selben Marchfeld, wo Rudolf von Habsburg einst den Przemysliden Ottokar aufs Haupt geschlagen hatte, den ruhm- und sieggewohnten französischen Kerntruppen die mächtige Männerfaust entgegenhielt? Die tapfere Wehrmacht dieses eigenartigsten aller Vaterländer, dieses Gemisch von einem halben Dutzend oder noch mehr verschiedenartiger Völker – und doch eine starke, geschlossene Einheit, zusammengehalten durch das Band der deutschen Sprache und der deutschen Kultur, eng verbunden durch die Geschichte von Jahrhunderten, verknüpft durch gemeinsame Hoffnungen und Wünsche, verschmolzen durch die gemeinsame Liebe zu einem von allen treu verehrten deutschen Fürstenhause. Und Lebold fand, daß der deutsche Stamm, der dieses Reich geschmiedet, keine Ursache hätte, sein Wert gering zu achten, so lang er mannhaft und tüchtig genug wäre, es mit der Kraft seines Geistes und seines Willens zu durchdringen. Er dachte an das Wort seines Vaters, daß nicht bloß äußere Mittel der Macht ein Volk zum führenden machen, sondern mehr noch die freie sittliche Kraft seiner Seele; und er glaubte an sein Volk und an dessen Zukunft, und darum liebte er auch sein Vaterland mit der Innigkeit und der Treue eines deutschen Herzens. Aus den Donau-Auen herüber klang das Lied »Österreich über alles«. Ein Infanterieregiment vom Hillerschen Korps sang es, das in der Richtung von Hirschstetten gegen die hinter Aspern gelegene Gemeinde-Au marschierte. Die Landwehrmänner fühlten, daß ein neuer Vorstoß gegen das todspeiende Aspern im Gange war, das schon so viele Hunderte und Hunderte aus ihren Reihen gerissen hatte. Aber trotz Müdigkeit und Bangen erhoben die lagernden Bataillone ihre Stimmen und fielen begeistert in den Gesang ein, daß es wie ein tausendstimmiges Weihelied aus frommen Herzen zum Himmel stieg, den rollenden Donner der französischen Batterien übertönend, die ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten.

Aus der Richtung von Breitenlee hatte man einen Meldereiter, einen weißen Kürassier, quer durch die Felder heranfliegen sehen, der dem Befehlshaber des Korps eine Botschaft überbrachte. Gepreßten Herzens beobachteten ihn die Landwehrmänner. Es würde der Befehl aus dem Hauptquartier sein, meinten sie, Aspern abermals zu nehmen. Nach Erstattung der Meldung sah man die Estafette langsam den tief eingeschnittenen Karrenweg herunterreiten, der von Hirschstetten in der Richtung gegen den Brunnen führte. Vermutlich wollte der Kürassier sein Pferd verschnaufen lassen und tränken. Als er sich näherte, konnte Lebold wahrnehmen, daß das Tier über und über mit weißem Schaum bedeckt war. Jetzt unterschied er auch die Farbe der Aufschläge an der Uniform, es war das Grasgrün des Kronprinzen-Kürassierregiments, dem Melcher angehörte. Er müsse ihn fragen, dachte er, wie es dem Melcher gehe. Aber als der Reiter noch näher kam, stutzte Lebold, schwankte, freute sich: das war ja, wenn sein Auge ihn nicht trog, der Melcher selbst! Der Kürassier ritt aus dem Karrenweg herauf und hielt in der Nähe, sah sich um, erblickte Lebold und trabte an.

»Melcher!« rief der ihm jubelnd entgegen. Er war es wirklich, der gute Melcher aus dem alten, lieben Guguckshaus! Aber schrecklich abgehetzt sah er aus samt seinem Tiere! Er streckte die Hand herunter vom Pferde.

»So ist halt doch unser Wunsch in Erfüllung gegangen, Lebold, gelt? Daß wir zwei alte Kriegskameraden aus dem ›Blauen Guguck‹ auf demselben Schlachtfeld miteinander gegen den korsischen Lumpenhund stehn!«

Jeder wollte wissen, wie es dem andern ergangen, was er erlebt, wo er den ersten, heißen Kampftag gestanden? Knapp und rasch flogen Fragen und Antworten hin und her.

»Ich muß gleich fort, sobald mein armer Gaul nur bei Atem ist,« sagte Melcher. »Und ihr – ihr habt auch nicht mehr lang Zeit.«

»Geht es noch einmal gegen Aspern?« fragte Lebold leise erbebend.

In diesen zwanzig Stunden, die die Schlacht schon währte, hatten sie nicht weniger als dreimal den Friedhof von Aspern blutig erstürmt und waren ebenso oft nach heißer Gegenwehr wieder hinausgedrängt worden.

Melcher nickte ernst. Er habe soeben den Befehl überbracht, Aspern müsse wieder genommen werden, kost' es, was es wolle.

»Es geht schon fast über menschliche Kraft,« sagte Lebold bekümmert. Fast war ihm, als könn' er nicht mehr mit, als müßt' er sich da, wo er stand, auf den Boden werfen und liegen bleiben Wochen und Wochen lang und sein Gesicht in den Staub der Erde vergraben und nichts mehr sehen und von nichts mehr hören ...

»Armer Kerl!« sagte Melcher. »Aber tröst dich, mir geht es noch schlimmer. Ich kann mich fast nicht mehr auf meinem Pferd halten vor Müdigkeit, und dabei bin ich noch nicht ein einziges Mal zum Dreinhauen gekommen – pfui Teufel! Nur alleweil zuschauen müssen – du, das ist bitter! Ich hoff', ihr schmeißt den Masséna aus Aspern hinaus, nachher machen wir eine große Attack' zwischen Aspern und Eßling durch und werfen das ganze Lumpengesindel in die Donau. Die Brücken über die Lobau sollen eh' schon durch steinbeladene Schiffe weggeputzt sein, und die Wellen gehen hoch ... Also, und jetzt grüß dich Gott, Lebold, und denk an mich; ich glaub' alleweil, wir sehen uns nimmer. Dir geschieht nichts, du hast einen Schutzengel, aber mir geht's heut' an den Kragen, ich spür' es.«

»Es heißt doch, jeder Mensch hat seinen Schutzengel?« sagte Lebold. »Also, wenn ich einen hab', so hast du auch einen!«

Er hätte die Nacht nur eine halbe Stunde geschlafen, erzählte Melcher, aber in dieser halben Stunde hätt' er so lebhaft, so lebhaft geträumt, von seiner Mutter und von Wettl ... Und von beiden habe er Abschied genommen ...

»Geh, wirst auch noch abergläubisch werden!« suchte Lebold ihn aufzumuntern. Aber Melcher ließ sich seine düsteren Gedanken nicht ausreden.

»Und wenn du heimkommst, Lebold – so grüß mir die Wettl, gelt? Du, weißt du, jetzt kann ich es ja sagen: ich hab' sie lieb gehabt ... Bin ich ein Esel, was? Es hätt' ja doch nichts daraus werden können. Denn ich weiß es schon, sie hat einen andern gern, und dem gönn' ich sie auch von Herzen. – No, und Zeugmachergesell wär' ich halt vorher noch gern geworden ...« Er seufzte. »Ach was!« sagte er, sich im Sattel aufrichtend. »Dem Guguckshaus werd' ich auch so keine Schand' nicht machen. Ein flotter Reitertod hat auch sein Schönes. Aber bei der Attack' muß es sein! Wenn ich jetzt zurückreit' und es trifft mich am End' von hinten eine Kugel – fix noch einmal, das tät' mich giften!«

Kommandorufe erschollen. Sie reichten sich noch einmal die Hand.

»Du Lebold, und auf meine Alte schaust mir ein bissel?«

»Sicher, wenn dir ein Leid geschieht, und mir nicht! Aber sei nicht kindisch! Es fliegen genug Kugeln da umeinand', es kann jeden von uns eine treffen. Aber die meisten fliegen halt doch vorbei! Also Glück auf, Melcher, Glück auf! Für Kaiser und Vaterland!«

»Für Kaiser und Vaterland!« rief Melcher, salutierte und wendete sein Pferd, um zum Brunnen zu reiten.

Lebold lief nach seiner Muskete und stellte sich in Reih' und Glied. Den Melcher sah er in der Ferne davontraben, es war schon wieder ein ganz kleiner weißer Reiter. Die Trommeln wirbelten, die Züge setzten sich in Bewegung, Hornsignale flogen von Abteilung zu Abteilung. Das Brüllen der Geschütze ertönte jetzt etwas ferner, der Kampf hatte sich mehr nach der Eßlinger Seite gewendet. So lange sie im Hohlweg Deckung finden konnte, ging die Landwehr geschlossen vor. Dann löste sie sich in Schwarmlinien auf und zerstreute sich über die Felder. Lebold sah Aspern jetzt näher vor sich liegen, aus vielen Trümmern rauchend, aber noch immer mit genug unversehrten Häusern, die dem Feinde Deckung gewährten. Rechts, am äußersten Ende des Dorfes, die gefährlichsten Bollwerke, der Kirchturm und das feste Pfarrhaus, und davor der Friedhof, den er schon so gut kannte, mit seiner schrecklichen Mauer, deren Breschen die Franzosen notdürftig wieder ausgebessert hatten.

Die französischen Geschütze an der östlichen Friedhofsmauer und am Nordrande des Dorfes begannen zu spielen, aber die Artillerie des Hillerschen Korps antwortete plötzlich von der Donau her und nahm die feindlichen Stellungen in die Flanke. In rasendem Galopp brachen die Batterien aus den Auen hervor, fuhren mit bewundernswerter Kühnheit unter dem Feuer des Feindes in den Mais- und Haferfeldern auf, protzten ab und spien schon im nächsten Augenblick aus ihren ehernen Schlünden einen Hagel von Granaten gegen das Dorf. Schon ausgerichtet wie bei einem Manöver, in regelmäßigen Abständen von einander, sah man die metallenen Rohre zwischen den schwarzgelb gestrichenen Rädern aus den frühlingsgrünen Saaten blitzen, und immer, wenn man meinte, nun sei die Reihe vollendet, stoben neue Gespanne, das über Stock und Stein hüpfende Geschütz hinter sich herziehend, über die Feldwege heran, und auf jeder noch so unscheinbaren Bodenwelle tauchten mit Blitzen und Krachen neue Feuerschlünde auf. Mit jubelndem Herzen erkannte es Lebold, daß die österreichische Artillerie die französische überschrie und ihr an Zahl der Rohre weit überlegen war. Auch konnte er ein paarmal beobachten, wie sicher sie zielte, und wie sie bald eine feindliche Haubitze lahm schoß und bald eine Bresche in die Friedhofsmauer legte.

Noch mußte man eine gute Weile dem schweren Geschütz das Wort lassen. Nur langsam gingen die Landwehrmänner vor, behutsam von Deckung zu Deckung springend und noch wenig behelligt vom Feuer der Verteidiger, deren Aufmerksamkeit durch den tobenden Artilleriekampf in Anspruch genommen war. Mit sengender Hitze brannte jetzt schon die Sonne auf das starke graue Tuch der Uniformen und auf die schweren aufgekrempten Filzhüte nieder. Allmählich hatten sie sich dem Dorfe und dem Friedhof so weit genähert, daß sie das Kleingewehrfeuer aufnehmen konnten. Doch war ihnen aufgetragen, den Schießbedarf zu schonen und nur zu feuern, wenn drüben sich ein Mann bloßstellte. Mit gespannter Aufmerksamkeit hinüberlugend, das Gewehr im Anschlag, lagen sie still, hinter Ackerfurchen und Feldraine geduckt.

Plötzlich brachen aus dem Rücken des Dorfes, von der Gemeinde-Au her, die weißen Waffenröcke eines österreichischen Linienregimentes zum Sturme vor. Da hielten die Geschütze ihren Atem an und verstummten. Jetzt, wußte Lebold, war der Augenblick gekommen. Er pflanzte das Bajonett auf, und mit der Rechten die Muskete krampfhaft umklammernd, sprang er empor. Ein »Hurra!« brauste durch die Luft, und wie ein riesiger Heuschreckenschwarm erhob es sich rings aus den grünenden Feldern und stob im Laufschritt gegen den Friedhof. Lebold sah und wußte nichts mehr – nichts, als atemlos dahinrennende und stürzende und über die Leichen der Gefallenen hinwegspringende Männer, Weiß- und Grauröcke, in den Staubwolken vor, neben und hinter ihm. Er sah sie über die Friedhofsmauer klettern, durch Breschen mit gefälltem Bajonett eindringen, er kletterte selbst über Schutthaufen hinweg und schwang sich über die Mauer, hinter den anderen her, gedrängt und geschoben von den Nachfolgenden. Er sah ein wildes Handgemenge zwischen den Gräbern, sah die französischen Grenadiere zurückweichen und vor der Übermacht aus dem Friedhof fliehen. Aus den Fenstern des Pfarrhofes und des Kirchturmes und aus den Häusern der Dorfstraße krachten die Salven. Jeder suchte jetzt eine Deckung, denn gegen die verschanzten Häuser anzustürmen, war die Abteilung nicht stark genug und im Augenblick zu tief erschöpft. Auch Lebold warf sich hinter einem Leichensteine auf den Boden. Behutsam vorlugend, sah er aus dem Tor des Pfarrhofes die französischen Grenadiere, durch neue Mannschaften verstärkt, einen Ausfall wagen und zurückkehren. Mit donnerndem »Vive l'empereur!« stürzten sie sich in den Friedhof, um die Eingedrungenen wieder hinauszuwerfen. Von allen Seiten krachten ihnen Schüsse entgegen. Ein großer, blonder junger Mensch mit einem rosigen Kindergesicht unter der hohen Pelzmütze hatte Lebold erspäht und lief wie ein Wütender mit gefälltem Bajonett gegen ihn los. Lebold legte an und schoß, der junge Grenadier machte einen Satz nach vorwärts und fiel auf ein Grab, wenige Schritte von Lebold entfernt, versuchte sich wieder zu erheben und fiel abermals hin: tötlich getroffen, aber so, daß das Leben nur langsam verströmt ...

Lebold hatte nicht Zeit, ihn zu bemitleiden. Er stieß den Ladstock in den Lauf und lugte abermals vor, um ein neues Opfer aufs Korn zu nehmen. Er sah, daß der Ausfall zurückgeschlagen wurde, die überlebenden von den Grenadieren flüchteten die Dorfstraße hinunter und suchten Schutz in Häusern und Scheunen. Es wurde plötzlich ganz still ringsum. Klar und ruhig zitterte die heiße, sonnige Luft über der Erde. Eine allgemeine Erschlaffung schien über Freund und Feind gekommen, die Müdigkeit machte sich geltend, die Abspannung der Nerven. Bald einen vollen Tag und eine volle Nacht, von Mittag zu Mittag hatten sie um den Besitz dieses Ortes miteinander gerungen. Hüben und drüben lagen sie jetzt wie stumpf und ermattet hinter ihren Deckungen, und niemand schien mehr Spannkraft genug in sich zu haben, den Kampf aufs neue zu beginnen. Eine Gefechtspause trat ein, eine Art Waffenstillstand, wie im gegenseitigen Übereinkommen, aufgezwungen durch die Notwendigkeit, durch die natürliche Erschöpfung der menschlichen Kräfte.

Lebold nahm den schweren Hut vom Kopf und trocknete sich die Stirn. Er blickte um sich, er lag der Länge nach auf einem mit Immergrün bepflanzten Grabhügel, zufüßen des weißen Leichensteines, der ihm Schutz gewährte. Hinter den Schutthaufen der Mauer, hinter Gräbern und Grabsteinen sah er Kameraden kauern, andere lagen tot oder röchelnd quer über die Pfade, auch in den Breschen, durch die die meisten eingedrungen waren, sah er ganze Haufen von Toten liegen, und einer hing regungslos über der Friedhofsmauer, den Kopf und die Arme nach unten.

Eine schwache Stimme hörte er jetzt, die ihn anrief, ein leises Wimmern und Flehen. Es war ein junger Offizier in weißem, blutüberströmtem Waffenrock, der regungslos auf dem Rücken lag, kaum zwei oder drei Schritte von ihm, das erdfahle Gesicht den Strahlen der Sonne preisgegeben. Er hatte ihn für tot gehalten.

»Trinken – trinken – guter Kamerad!«

Nicht einen Tropfen konnte Lebold ihm geben, irgendwann, vielleicht beim Klettern über die Mauer, mußte die Schnur seiner Feldflasche gerissen sein. Es schnürte ihm das Herz zusammen, daß er die Bitte des Schwerverwundeten nicht erfüllen konnte. »Ist dir die Sonne lästig Kamerad? Soll ich dir ein Tuch über das Gesicht breiten?«

»Bitte.«

Lebold streckte vorsichtig den Arm aus und breitete ihm sein Taschentuch übers Gesicht. Sofort krachten ein paar Schüsse, und er hörte Kugeln an sich vorüberpfeifen. Durch das Vorstrecken des Armes waren die Franzosen auf ihn aufmerksam geworden. Es fielen noch mehrere Schüsse, eine Kugel schlug kaum eine Viertelelle von seinem Fuß in den Boden. Er hielt es für ratsam, sich knapper hinter den Leichenstein zu drücken, um gesichert zu sein. Die Inschrift die in den Stein gegraben war, fiel ihm jetzt auf. Er erfuhr zu seiner Verwunderung, daß er auf dem Grabhügel eines Totengräbers kauerte. Johann Haring hatte der Mann geheißen, der hier ruhte, Johann Haring, »gewesener Totengräber in hiesiger Pfarre zu Aspern, geb. 1730, gest. 1803« ... In kleiner Schrift stand ein Vers darunter, in jener kindlichen und doch zum Herzen gehenden Sprache, wie man ihr auf ländlichen Grabsteinen manchmal begegnet: »Siebenundvierzig und ein halbes Jahr – Ich hier zu Aspern Totengräber war – Hab' eingescharrt in diesen Jahren – Neuntausendundvierhundert Leichen – Sie alle haben es erfahren – daß der Mensch muß sterben und verbleichen – Wenn rufen tut der liebe Gott – Jetzt lieg' auch ich hier und bin tot – So warten wir in unserer Gruft – Bis einst des Schöpfers Stimme ruft – Hinterbliebene, eure Lebenszeit wird auch bald vergehn – Vergesset meiner nicht bis aufs Wiedersehn! R.I.P.«

Ein Seufzer hob Lebolds Brust, er bedeckte die Augen mit der Hand und saß regungslos unter den stillen Strahlen der Sonne. Was ist das Leben! ging es ihm durch den Sinn. Der Grabstein eines Totengräbers, der neuntausend und vierhundert Leichen eingescharrt hatte, bevor er selbst in die Grube gelegt wurde, gewährte ihm jetzt Schutz und behütete ihn vor dem sicheren Tode! ... Plötzlich fiel ihm ein, daß er ein Stück Brot im Tornister habe, ob er dem verwundeten Kameraden im weißen Waffenrock nicht etwas davon zum Kauen geben könnte? Er fragte ihn, ob er ihm ein Stückchen Brot zur Anfeuchtung in den Mund stecken solle? Er fragte ihn noch einmal. Es erfolgte keine Antwort.

»Kamerad! Wie ist dir? Hörst du mich nicht?«

Mit einem raschen Griff zog er ihm das Sacktuch vom Antlitz fort. Das war das Gesicht eines Toten! Scheu wendete Lebold den Kopf, um nach der andern Seite hinüber zu sehen, wo der junge Grenadier lag, den er durch die Brust geschossen. Der Unglückliche lebte noch immer, von Zeit zu Zeit machte er sogar Anstrengungen, sich zu erheben, und fiel jedesmal wieder zurück, wie ein Fisch, der auf den Sand geworfen ist. Lebold mußte sich abkehren, er vermochte den Anblick nicht zu ertragen, es krampfte sich alles zusammen in ihm. Unwillkürlich mußte er an die Mutter dieses großen jungen Menschen denken, dem er sein Lebenslicht ausgeblasen, und der dort drüben, trotzig mit dem Tode ringend, sein rosiges Kindergesicht vor Schmerz verzerrte. Unwillkürlich dachte er an seine eigene gute Mutter, was die wohl leiden müßte, wenn sie ihn jetzt hier sehen könnte, in Not und Gefahr, mitten unter Leichen und Sterbenden, und selbst nur durch ein steinernes Grabmal, durch den Grabstein eines Totengräbers, vom sicheren Tode getrennt. Wie ein unsagbar schneidender Schmerz ging es ihm durch die Seele, ein kurzes Aufschluchzen erschütterte seine Brust, und heiße Tränen liefen ihm über die Wangen, seine Hände falteten und seine Lippen bewegten sich.

»Herr! Gott! Unerforschlicher! Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!«

Er horchte auf und lauschte – was war es, das ihm da im Ohre klang? Wie Glockenläuten schwebte es über der weiten, sonnigen Ebene ... Von Stadlau und von Hirschstetten, von Breitenlee und von Raasdorf, die verstreut in den stillen Saaten lagen, zog ein sanftes Klingen und Schwingen bis zu ihm herüber, aus allen Türmen der Kirchdörfer in der Ferne, soweit sie vom Feinde nicht bedroht waren, hatten die ehernen Feiertagsstimmen sich erhoben, daß es wie ein reiner, frommer Choral zusammenklang – denn es war Pfingsten, das Fest des Geistes, der über die Menschen kommt. Und mitten in seiner Herzensangst, umgeben von den Greueln der Vernichtung und der Verwesung, fühlte Lebold den Geist in sich erwachen. Und genau wie Wettl es damals gesagt hatte, als er sie zum letzten Male sah: er hatte es nicht mehr nötig zu glauben, denn er spürte es plötzlich wie eine beruhigende Gewißheit, daß ein tiefer Sinn sein mußte in all dem scheinbaren Widersinn des Lebens. Wie ein unsägliches Glück, wie eine unerwartet aufleuchtende Erkenntnis war es auf einmal in ihm: Wenn wir nur jeder treu unsere Stimme spielen, die uns zugeteilt ist – wir dürfen darauf vertrauen, daß es einen guten Zusammenklang gibt. Und wenn wir diesen Zusammenklang nicht hören oder ihn gar für einen Mißklang halten, so ist es nur, weil unser Ohr taub und blöde ist und unser Begreifen beschränkt ... Da kam eine Ruhe und eine Zuversicht über ihn, wie er sie nie vorher gekannt – jetzt mochte geschehen, was da wollte, jetzt mochte er siegen oder fallen, er war getröstet, denn der Geist wohnte in ihm.

»Dein Wille geschehe! Dein Wille geschehe!« Was Schmettern einer Trompete gellte plötzlich außerhalb der Friedhofsmauer: Sturm! Das war Hilfe, das war die ersehnte Verstärkung! Wie eine riesige weiße Wolke brauste es mit »Hurra!« gegen das Dorf heran: Ungezählte Scharen weißer Waffenröcke! Wie die Wahnsinnigen stürmten sie über die Leichen der gefallenen Kameraden durch die Breschen, kletterten in wütender Hast über die zerschossene Friedhofsmauer hinweg, mit schweren, stampfenden Schritten hörte Lebold sie an sich vorbei über die Gräber laufen, und aus den Donau-Auen herüber, aus denen die todesmutigen Streiter vorgebrochen waren, erhoben sich jetzt gleichwie die letzten Grüße, die ihr Regiment ihnen nachsandte, die feierlich getragenen Klänge der österreichischen Volkshymne:

»Gott erhalte, Gott beschütze
Unsern Kaiser, unser Land! ...«

Wie gestählt, wie mit neuen Kräften ausgerüstet, sprang Lebold empor. »Für Kaiser und Vaterland!« Und mitgerissen wie von einem Wirbelsturm stürzte er sich mit gefälltem Bajonett gegen das Dorf, in dem ein mörderischer Straßenkampf wütete.

***

Noch weit in die Gemeinde-Au hinein wurden die aus Aspern vertriebenen Franzosen verfolgt. Es gelang ihnen nicht wieder, das vielumstrittene Dorf zurückzugewinnen. Aber auch von den Verfolgern kehrten nicht alle in den schwer erkämpften rauchenden Trümmerhaufen zurück. Mancher hatte sich zu weit vorgewagt und war im Kampfe geblieben oder verwundet in die Hände des Feindes gefallen.


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