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Am Tage Sylvester war ein großes Gestöber vor den Fenstern. Das alte Jahr beeilte sich, die ungeheuren Schneemassen, mit denen es schon lange trächtig ging, noch schnell loszuwerden, um dem neuen einen richtigen Winter zu hinterlassen. Wettl hatte durch die weiße Einöde einen Lehrjungen in die Schottenfelder Kirchengasse gesendet, mit einer Zeile an Fany, um ihr und dem ganzen englischen Lordhause ein recht glückliches neues Jahr zu wünschen. Sie könne nicht selbst kommen, entschuldigte sie sich, weil der Zustand des Großvaters ihr nicht erlaube, das Haus auch nur für einen Augenblick zu verlassen. Dafür kam Fany am Neujahrstag herüber und saß mit Wettl in der großen Wohnstube, wo Wettls Bett und vor dem Fenster ihr Kavilierstock, vor dem andern Fenster aber der riesige Zampelstuhl des Meisters stand. Dem jungen Mädchen war es sogleich aufgefallen, daß Fany einfacher als gewöhnlich gekleidet war und keinerlei Schmuck trug. Und wie sie nun einander gegenübersaßen und sie die Freundin aufmerksam betrachten konnte, kam es ihr vor, als ob Fany verweinte Augen hätte.
Wettl hatte bekümmert vom Großvater erzählt, der alle ihre Gedanken in Anspruch nahm. Jetzt unterbrach sie sich und schwieg. Es ging ihr durch den Sinn, wie oft es doch vorkomme, daß wir andere mit unseren Sorgen überschütten und die stumme Stimme nicht hören, mit der sie uns leise um ein wenig Aufmerksamkeit und Teilnahme für ihre eigenen Anliegen zu bitten scheinen. Ein wenig beschämt und die Pforten ihres Herzens gleichsam weit öffnend, um das Leid der Freundin mitfühlend aufzunehmen, ergriff sie ihre Hand.
»Und du, Fany, trägst auch Kummer! Sag mir, wie kann man das neue Jahr mit Weinen beginnen?«
Fanys Augen füllten sich sogleich wieder mit Tränen, und ihre kleinen, weißen Zähne bissen auf die Lippen.
»Du wirst es ja wissen, was über uns gekommen ist ...«
Nichts wußte Wettl, gar nichts. Sie erschrak. Sie getraute sich fast nicht zu fragen. War denn im englischen Lordhaus auch jemand krank? Ihr erster Gedanke war, den Pimperonkel könnte bei seiner Beleibtheit ein Schlagfluß gerührt haben.
»Das ganze Haus ist krank,« sagte Fany bitter »Hat dir denn dein Herr Vater nichts erzählt?«
Nichts, kein Wort hatte er ihr gesagt.
»Der Schwiegervater hat schwere Verluste erlitten,« sagte Fany. »Knapp, daß wir am Konkurs vorbeigerutscht sind. Denk einmal, was das für eine Schande gewesen wär'! Wenn dein Herr Vater nicht Bürgschaft geleistet hätte, so wär' die Wetterwolke kaum an uns vorübergezogen. Ihm danken wir's in erster Reihe, weil er auch geholfen hat, alles in Ordnung zu bringen und klarzustellen. Und wie die Kreditoren gesehen haben, daß er sich um die Sache annimmt, so ist gleich eine Beruhigung eingetreten, und niemand hat mit seinen Forderungen pressiert. Da war also wenigstens Zeit gewonnen. Ja, in einem solchen Falle, da lernt man seine Freunde kennen!«
»Und ist denn jetzt die Gefahr vorüber?« fragte Wettl bleich und fast zitternd.
»Ich glaub', sie ist vorüber. Die türkische und die Scheuklappen-Tante haben dem Lordhaus ihr ganzes Vermögen zur Verfügung gestellt. Hättest du das für möglich gehalten? Und wir haben uns immer nur lustig über die beiden gemacht. Ja; bei solchen Gelegenheiten lernt man seine Freunde kennen,« wiederholte sie.
Wettl atmete auf und sagte einiges Tröstliches. Wenn also die Gefahr vorüber sei, dann brauche man sich ja keinen düsteren Gedanken mehr hinzugeben. Die Sache würde sich schon wieder einrenken, und ein paar günstige Jahre würden alle Verluste wettmachen. Nur obenauf bleiben, das sei die Hauptsache. Und die Wünsche, die einem die Leute zu Neujahr darbrächten, die hätten wirklich einen guten Sinn. Denn der Vincenz und die anderen Gesellen und die Lehrbuben und die Roslini und die Kaplanek, alle sprächen sie jedes Neujahr immer wieder dieselben Worte, und ihr Wunsch sei stets der gleiche: Gesundheit, Zufriedenheit und ein langes Leben. Und die Zufriedenheit sei auch wirklich die Hauptsach', denn die könne nur aus dem Guten kommen, und ein Mensch mit einem bösen Herzen sei auch immer unzufrieden. Aber die Gesundheit, die sei freilich die Grundlage für alles andere. Das erkenne sie erst jetzt so recht, wo es mit dem armen Großvater schlimm stehe.
»Schau, Fany,« sagte sie, »wenn jemand von euch schwerkrank oder gar unheilbar wäre, das wär' doch noch viel böser! Das Unglück, das über euch gekommen ist, das läßt sich wieder gutmachen, wenn ihr nur alle zusammensteht und euch gegenseitig helft. Vielleicht wird es euch sogar zum Segen, und ihr lernt jetzt erst recht euch aneinanderschließen.«
Fany weinte.
»Siehst du, Kind, das ist es ja, was mich eigentlich, bedrückt. Daß wir uns jetzt einschränken müssen, und daß alles Überflüssige verkauft worden ist – darein könnt' ich mich finden. Ich hab' die schönen Sachen gern gehabt, schöne Kleider und Schmuck und Möbel und alles, was zu einem angenehmen Leben gehört. Aber nur, weil ich mir immer gedacht hab': es ist ja da, warum denn also nicht? Wenn ich aber weiß, daß es nicht sein kann – gar so eng ist mein Herz mit dem Plunder auch nicht verwachsen! Ich hab' von jeher die Dinge genommen, wie sie sind. Müssen wir uns einschränken – na, angenehm ist es gerade nicht, besonders wegen der andern Leute, die dann über einen spotten und einem vorhalten, wie viel Geld man früher unnötigerweise ausgegeben hätt'. Aber ich bin die letzte, die deswegen gleich den Kopf hängen läßt. Ich kann auch eine bescheidenere Wirtschaft machen, warum denn nicht, wenn es sein muß! Daran werd' ich mich bald gewöhnt haben!«
»Und was ist es denn nachher eigentlich,« fragte Wettl, »was dich bekümmert? Dein Mann, der Thomas, der hat dich doch gern, und der wird sicher tun, was er kann, dir alles so leicht wie möglich zu machen.«
»Bei ihm ist schwer sich auskennen,« sagte Fany. »Gerade wie Thomas die Sache aufnimmt, das kränkt mich am meisten. Für sich selbst würd' er es leicht tragen – höchstens, daß er sein Pirutsch und sein Pferd hat verkaufen müssen, geht ihm nahe, allein er verwindet es. Aber daß ich, seine Frau, jetzt auf das Überflüssige verzichten muß, daß er mir keine wertvollen Geschenke mehr machen kann, und daß ich ein bissel in der Hauswirtschaft mithelfen soll – das ist für ihn das bitterste. Ich spür' es, er glaubt in seinem Innern, daß ich ihn nur wegen seines Geldes genommen hab', und meint, jetzt sei es mit meiner Lieb' aus, weil er nichts mehr hat. No, ich weiß es ja nicht, ob ich ihn damals genommen hätt', wenn er arm gewesen wär'. Aber heilig wahr ist es, daß ich ihn jetzt im Unglück aufrichtig liebgewonnen hab'.«
»Darüber müßt' er sich doch freuen?« meinte Wettl. »Wie ich den Thomas kenn', wär' es ihm ein Trost im Leid, wenn er das wüßte.«
»Ich kann es ihm nicht recht zeigen,« sagte Fany, »weil er mir immer so fern und fremd bleibt. Weil er mich immer so eigentümlich schonend behandelt, so als ob er mir etwas angetan hätte, oder als ob er mir Abbitte leisten wollt'. Siehst du, Wettl, das ist hart für mich. In der bösen Zeit, die wir jetzt durchgemacht haben, da hat sich der Thomas so wacker und männlich gehalten, daß ich erst recht erkennen gelernt hab', was an ihm ist. Und so zartfühlend ist er dabei gewesen und so ohne jeden Vorwurf gegen mich – mit jedem Tage hab' ich ihn lieber gewinnen müssen. Ich hab' ihn jetzt wirklich von Herzen gern, und doch kann ich es ihm nicht beweisen. Ich fühle, daß er Liebe brauchen würde, und spür' es doch genau, er glaubt mir nicht recht, daß ich ihn gern hab'. Es ist immer etwas wie ein Argwohn in ihm, als ob ich nur aus Mitleid bei ihm blieb' und am liebsten davonliefe. Das macht mich recht unglücklich, und ich weiß mir keinen Rat,« sagte sie und brach neuerdings in Tränen aus.
Wettl wußte auch keinen Rat, und so half sie ihr wenigstens ein bißchen weinen und benützte die Gelegenheit, sich gleichzeitig auch über den Großvater auszuweinen.
Der Guguck kam aus dem Magazin herüber, wo er die Glückwünsche der Leute entgegengenommen und ihnen Neujahrsgelder ausgeteilt hatte. Sie hatten ihm alle »Gesundheit, Zufriedenheit und langes Leben« gewünscht, und zum Schluß sagte ein jedes: »Und bitte ferner ...« Man mußte sich hinzudenken, um was sie eigentlich »ferner« baten. Vermutlich um weitere Gewogenheit und Nachsicht und dergleichen. Aber so schöne Worte brachte keiner heraus, und der Guguck wußte schon, was gemeint war, und erleichterte ihnen die Sache, indem er sich gemütlich für die guten Wünsche bedankte und sagte, es sei schon gut, und er sei immer recht zufrieden gewesen.
Er wünschte jetzt auch Fany Glück und meinte, sie mög' es nicht so arg schwer nehmen, es sei kein Anlaß, das neue Jahr mit Trübsalblasen zu beginnen. Den alten Leuten würd' es freilich ein bissel hart ankommen, daß sie sich jetzt auf einmal einschränken sollten. Aber sie sei noch jung und könne dem Schicksal dankbar dafür sein, daß sie es beizeiten lerne. Überdies würde das Lordhaus durch Fleiß und Sparsamkeit bald wieder zu Wohlstand kommen, da sei ihm gar nicht bang.
»Sie ist eh' ganz vernünftig,« sagte Wettl, »und nicht deswegen hat sie geweint, weil sie sich jetzt nach der Decke strecken muß. Nur über den Thomas kränkt sie sich, daß er so fremd mit ihr tut und nicht recht glauben will, daß sie ihm sein Kreuz gern tragen hilft.«
»Na ja,« meinte der Guguck, »dem Thomas wird es halt gehn wie dem Spinnerich, der sich auch nie recht traut, seiner Herzallerliebsten nahe zu kommen, weil er nie sicher weiß, ob sie sich gern haben lassen wird, oder ob sie ihn am End' auffrißt.«
»Aber der Herr Onkel macht mich gar schlecht!« rief Fany, ihre Tränen trocknend. »Als ob ich durch und durch ein launenhaftes Frauenzimmer wär'.«
»Laß gut sein,« sagte der Guguck, »ich weiß schon, daß etwas an dir ist. Aber dieses Leben voll von Assemblees und Theatern, Tänzen und Pirutschaden war nicht das richtige für dich. Für euch alle war es nicht das richtige. Denn wenn jeden Augenblick etwas los ist, und heut' soll man an dieses und morgen wieder an ein anderes Vergnügen denken, da muß einer ja wie der Hahn auf dem Kirchdach werden, daß er sich nur immer rundumerdum dreht und jedem Lüfterl nachgibt und vor lauter Lüfterln nicht mehr weiß, nach welcher Seite daß er sich drehen soll. Sei froh, daß ihr endlich von dem Kirchendach heruntergestiegen seid! Jetzt seid ihr doch wieder euer eigener Herr und könnt ehrlich im Hof nach Körndeln kratzen. Und die Freud', die ihr haben werdet, wenn ihr eins findet!«
Man hörte Leute die Treppe heraufkommen. Der Guguck erhob sich und öffnete die Tür, die nahe an Wettls Bett nach der Hofstiege führte. Der Pimperonkel kam und seine Frau, die englische Lady, und Thomas. Sie wollten gutes Neujahr wünschen, sie fühlten sich dem Guguckshaus verpflichtet. Der Lord hatte etwas gealtert, sah aber lange nicht so verfallen aus wie an dem Tage, wo er dem Guguck seine neuen Hochsprungstühle gezeigt und jene hitzige Unterredung mit Schabsel gehabt hatte. Die großartige Weste mit der schönen Menagerie war freilich einer einfacheren aus schwarzem Plüsch gewichen. Aber seine Laune hatte er wiedergefunden. Er glaubte schon wieder an sich und seinen Stern und fühlte sich, wie es Kebach vorausgesagt hatte, wirklich um vieles behaglicher, seit der überflüssige Kram beim Teufel war. Und überdies war er jetzt jener ständigen, quälenden Sorgen ledig, die ihm das »Negozieren« bereitet hatte.
Auch die englische Lady ließ vom überstandenen Schreck nicht viel merken und ruschelte lebendig im Zimmer umher, befühlte die Seide an Wettls Kavilierstock und betrachtete bewundernd das Gewebe auf Kebachs großem Zampelstuhl. Jetzt im Winter hatte sie doch dem Griechentum entsagt und trug einen Hut mit einer ungeheuren, an die Schläfen anliegenden Blende, der ihre Erscheinung dem Typus der Scheuklappentante annäherte. Thomas verhielt sich, wie es überhaupt seine Art war, zurückhaltend, war schweigsam und beobachtete verstohlen seine Frau und auch Wettl, die sich in Fany hineindenken konnte und sich am liebsten mit ihr hinter einer spanischen Wand verkrochen hätte. Denn sie fürchtete, daß er an den geröteten Augen und Nasenspitzen bald erkennen würde, daß sie alle zwei geweint hatten. Und daraus würde er vermutlich schließen, daß Fany über den verlorenen Wohlstand gejammert, und daß sie dann beide deswegen geheult hätten. So mußte das Mißverständnis zwischen den jungen Eheleuten immer größer werden, und die Kluft, die sie trennte, sich noch erweitern und vertiefen. Ohnedies hätte Wettl längst nach dem Großvater sehen sollen. Sie ergriff gerne die Veranlassung, wenigstens ihren Anblick dem forschenden Auge des jungen Pimper zu entziehen, und eilte hinab. Und bevor sie beim Großvater eintrat, nahm sie etwas Schnee von einem der großen Schneehügel, die im Hofe aufgehäuft lagen, und wusch sich die Augen damit.
Der alte Salzküfel saß wie immer ruhig an seinem Webstuhl, ohne zu arbeiten, und Diwrisl, dessen Ohr längst wieder heil war, lag aufmerksam zu seinen Füßen. Wie es dem Großvater gehe, fragte Wettl, und ob er nichts von ihr brauche? Es fiel ihr auf, daß er eingesunkener dasaß als sonst, daß aber hingegen der Blick, mit dem er sie ins Auge faßte, nicht ganz den verlorenen Ausdruck hatte wie in letzter Zeit immer, sondern mehr an den früheren Salzküfel erinnerte. Wie es ihm gehe? wiederholte sie, zwischen Sorge und Hoffnung schwankend.
»Bergab,« sagte er schwach. Er hob seine Hand und streichelte über die ihrige. »Meine gute, treue Wettl! ...«
Er hatte seit lange nicht so deutlich gesprochen und so klares Verständnis bewiesen. Die Tränen wollten ihr aus den Augen stürzen, aber sie beherrschte sich mit übermenschlicher Kraft, um ihn nicht zu betrüben und zu erschrecken. Eine fürchterliche Angst kam über sie. Sie hatte einmal gehört, daß oft unmittelbar vor dem Tode plötzlich wieder Geistesklarheit eintreten könne, gleichsam ein letztes Aufflackern. ...
»Ans Sterben wird es halt gehen,« sagte er vollkommen deutlich. Sein altes, zufriedenes Salzküfel-Lächeln spielte ihm um den faltigen Mund. »Hab' schon so viel zusammengebracht in meinem Leben – werd' ich das auch noch zusammenbringen. Gelt Wettl?«
Was ihm denn einfalle? Eine neue Kette sei für ihn geschweift, die müsse er doch verweben! Und dann würde der Winter bald vorüber sein, und es würde Frühling werden, und er würde mit Herrn Tollrian wieder auf der Bank im Garten sitzen und die Spatzen im wilden Wein zwitschern hören. Sie lachte fröhlich – nie hätte sie geahnt, daß sie sich selbst in solchem Maße in der Gewalt haben könnte.
Ihre zuversichtlichen Worte beeinflußten seine Gedankengänge, das war deutlich zu merken.
»Wie Gott will,« sagte er, sich aufrichtend. »Vorderhand web' ich halt weiter, so lang ich kann. Kannst wieder gehn, Wettl, ich brauch' nichts. Mußt mich nicht allweil in der Arbeit stören. Am Feierabend, nachher plauschen wir miteinander, gelt?«
Er drehte sich zu seinem Webstuhl und suchte nach der Schütze, die hinuntergefallen war. Wettl hob sie auf und gab sie ihm in die Hand. Damit war er zufrieden und hielt die Schütze in der Rechten, und mit der Linken faßte er die Weberlade. Und dann sank er wieder in sich zusammen und saß unbeweglich und stierte ins Blaue. Sie richtete noch eine Frage an ihn und bemerkte, daß er wieder in seinen alten Zustand geistiger Trübung zurückverfallen war. Wirklich nur wie ein Aufflackern war es gewesen. Und gerade dieses plötzliche Zurückkehren der Sinne, dem eine umso größere Erschöpfung folgte, beunruhigte sie.
Leise entfernte sie sich, um wieder ins Stockwerk hinaufzugehen. Auf der Treppe blieb sie einen Augenblick stehen und wischte sich die Tränen ab, die ihr hervorquollen. Jetzt, meinte sie, müsse man wohl jede Stunde auf das herannahende Ende gefaßt sein. In der Wohnstube hatte sich inzwischen auch der Webstuhlmechaniker Schweibenroider eingefunden, um gutes Neujahr zu wünschen. Und die Roslini war soeben gekommen und hatte dem Guguck »Gesundheit, Zufriedenheit und langes Leben« gewünscht. Gerade als Wettl eintrat, sagte sie »Und bitte ferner ...« und wollte dem »Heren Verwandten« das Päckchen mit dem Zins geben. Und der Guguck sagte, was ihr denn einfalle, das Kammerl im Hof brauche er ohnedies nicht, und das Leerstehen sei besonders im Winter den Mauern schädlich, und fremde Leute würde er ja doch nicht ins Haus nehmen. ...
Wettl hörte das alles wie aus der Ferne; wie durch eine Wand klangen die Stimmen an ihr Ohr, und alles, was sie sah, kam ihr fast fremd vor, so als ob sie sich wundern müßt', daß es zu ihrem Leben gehörte. All ihre Sinne waren überanstrengt durch die Selbstbeherrschung, die sie dem Großvater gegenüber hatte üben müssen. Man fragte sie, wie es ihm gehe? Eine Stimme aus ihr heraus antwortete traurig und wenig hoffnungsvoll.
Die englische Lady war auf das neue Jahr nicht gut zu sprechen. So schlimm habe noch keines begonnen, sagte sie. Überall, wohin man komme, gebe es unglückliche Gesichter und Tränen. Auf dem Schrollhaus, wo sie eben gewesen seien, laste schwer der Widerstreit zwischen Vater und Sohn. Beide hätten sie eiserne Köpfe, und die arme Mutter und die jüngeren Geschwister müßten darunter leiden und es entgelten. Im Guguckshaus sei es wieder der arme Großvater, dem es schlecht gehe, und dessen leidender Zustand nur die schlimmsten Befürchtungen erwecken könne. Und wie es im Lordhaus stehe, wüßten ohnedies alle zur Genüge; man habe sich ja schließlich dreingefunden, aber wenn man so zurückschaue, wie es noch am letzten Neujahrstag gewesen, so müßte einem doch das Herz weh tun. Und kurz und gut, wohin man blicke, nichts als Kummer und Sorgen! Alle Gattungen Mißgeschick wären vertreten, und es sei gerade, als hätt' ein Teufel sich hingesetzt, um für jede Familie etwas Besonderes auszudenken. Nein, für so einen Jahresanfang bedanke sie sich!
»Das ist alles noch vom letzten Jahr her,« sagte der Guguck. »Darum fängt ja das neue Jahr an, damit es besser werden kann als das alte. Vielleicht hat es die schönsten Vorsätz' – wer wird es denn kopfscheu machen und schon am ersten Jänner zu schimpfen anfangen! Nichts da! Am Neujahrstag muß man an alles Gute glauben und zu Mittag einen Schweinsrüssel essen, dann geht es schon vorwärts.«
»Fürs Geschäft,« meinte der Pimperonkel, »wird dasmal freilich auch kein Schweinsrüssel nichts nützen. Denn daß das neue Jahr ein Kriegsjahr wird, das ist leider das einzige Gewisse, was man von ihm weiß.«
»Gerade deswegen,« rief der Guguck, »erwart' ich mir Gutes vom neuen Jahr. Denn wenn die Parlezvous Plesche kriegen, nachher drehn wir einmal den Spieß um und setzen den Napoleon ab. Dann hat die Welt endlich eine Ruh', und die Geschäfte werden gehn wie geschmiert. Und der alte Schroll, der ist freilich nur ein Bandmacher, aber er wird schon auch gescheiter werden und mit sich reden lassen, wenn sein Lebold mit einem Eichenlaub auf dem Hut wieder heimkommt. No, und der Großvater – wer weiß, ob der sich nicht doch noch herausmaust. Wenn wir ihn ins Bett gelegt hätten, wie der Doktor es geschafft hat, da wär' er sicher schon gestorben. Aber so lang er sich einbildet, daß er arbeitet, so lang stirbt er nicht. Man muß ihn nur immer bei dem Glauben erhalten, daß eine neue Kette für ihn geschweift ist, und schon auf ihn wartet. Sobald man ihm das sagt, da schaut er einen immer an, gottikeit ich darf ja noch nicht Feierabend machen, ich hab' ja noch was zu tun! Und ich glaub' immer, das wird ihm über die schlimmste Zeit hinüberhelfen.«
»Es ist schad',« meinte Schweibenroider, »daß man einem Menschen ein schadhaft gewordenes Radel nicht auswechseln kann. Da sind die Dokters halt noch weit hinter uns Mechanikern zurück. Aber das sag' ich auch, was der Guguck sagt: Ich bin froh, daß ein Kriegsjahr kommt; und wenn wir nicht am End' die Lombardei zurückerobern, so kann's fürs Geschäft nur gut sein, daß endlich diese Spannung und Unsicherheit aufhört, die jetzt in der Luft liegt.«
»Und ist es denn wirklich schon so sicher, daß Krieg wird?« fragte Roslini bescheiden.
»Ich hab' gerade den Reckenschuß von der ›Munteren Tyrolerin‹ begegnet,« erzählte Schweibenroider. »Der sagt mir, daß die Bürgerwehr schon in der nächsten Zeit die Wachposten in der Stadt bezieht, und daß der Krieg schon eine ausgemachte Sach' sein soll.«
»Schon eine ausgemachte Sach'?« rief Fany und warf unwillkürlich einen erschrockenen Blick auf Wettl hinüber.
»No ja,« sagte der Pimperonkel, »wenn die Bürgermiliz die Wachposten in der Stadt übernimmt, das bedeutet, daß das reguläre Militär und die Landwehr ausmarschiert.«
»Bevor keine bessere Jahreszeit eintritt,« meinte Thomas, »geht es sicher nicht los.«
»Mir kann's recht sein, ob heut' oder morgen,« sagte Schweibenroider. »Ich fürcht' dasmal nichts, keinen Napoleon und keinen Teufel. Sogar wenn die Franzosen wieder bis auf Wien kämen – ich bin sicher, mir kann nichts geschehen.«
»Und warum denn gerade dir nicht?« wollte der Guguck wissen.
»No –« meinte der Mechaniker, »ich hab' doch auf eigene Kosten einen Landwehrmann ausgerüstet! Im äußersten Notfall stell' ich den halt als Wachposten vor mein Haustor.«
Jetzt lachten alle und sagten, der Landwehrmann den er ausgerüstet hätt', müsse doch mit den andern marschieren und seinem Kommandanten folgen, der könne doch nicht vor der »Roten Latern'« in der Kandelgasse Schildwach' stehn und den Schweibenroider bewachen! Dem Pimperonkel wackelte der Bauch, und die Lachtränen liefen ihm über die Wangen.
»Mir scheint, du glaubst, Schweibenroider, daß der Landwehrmann dir gehört, weil du ihn ausgerüstet hast?«
Der Mechaniker ärgerte sich.
»Weißt, englischer Lord, auslachen brauchst mich deswegen nicht, und du auch nicht, Guguck! Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Und alle zwei tätet ihr vielleicht noch einmal froh sein, wenn ihr auch euren eigenen Landwehrmann hättet. No, ich bin keiner, der etwas nachträgt, und im Notfall braucht ihr nur zu mir zu schicken, so leih' ich euch den meinigen.«
Er blieb dabei, daß es sein Landwehrmann sei, und ließ sich nicht ausreden, daß er im Falle der Not über ihn verfügen und ihn zur Bewachung seines Hauses verwenden dürfe. Aber er würde wahrscheinlich gar keinen Gebrauch davon machen, denn deswegen habe er ihn nicht ausgerüstet, sondern fürs Vaterland; und nur für die äußerste Gefahr allenfalls würde er sich seines Rechtes bedienen. Denn dieses Recht besitze er, das sei einmal so, er habe es ganz bestimmt gehört und wisse es sicher. Auch sei es eigentlich nur recht und billig, denn einen ganzen Mann ausrüsten, das koste schon etwas. Und einen, der das tue, den könne man doch nicht schutzlos der Willkür des Feindes preisgeben.
»Na alsdann, streiten wir nicht!« sagte der Guguck schließlich. »Davon kann ja eh' keine Red' sein, daß die Parlezvous bis auf Wien kommen. Wo wir Schottenfelder so viel für die Landwehr gezeichnet haben!«