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Ein schöner Sonntag in den ersten Tagen des März lockte den Guguck und seine Tochter ins Freie. Auch der Pimperonkel, Thomas und Fany hielten mit. Die englische Lady zog es vor, zu Hause zu bleiben. Im Zimmer lief sie gern und lebhaft umher; aber Spazierengehen war ihr Fall nicht, es machte sie ungeduldig. Die Regelmäßigkeit und Stetigkeit, die dazu notwendig ist, lag nicht in ihrer Natur. Und es war auch kein Vergnügen, in ihrer Gesellschaft zu gehen. Entweder sie lief voraus, oder blieb stehen, um etwas Wichtiges zu sagen, oder war auf einmal weit hinter den anderen zurück, und man mußte auf sie warten.
Die kleine Gesellschaft fuhr von der Mariahilferlinie im Zeiselwagen bis nach Hietzing. Man hatte als Ziel den Schönbrunner Park ins Auge gefaßt. Es war ein wahrer Frühlingsnachmittag, aber die frisch zugestutzten Baumwände in den endlosen, weiträumigen Alleen standen noch kahl und braun. Dennoch hatte Wettl das Glück, an einem feucht-sonnigen Grasrand, unter dürrem Laub verborgen, ein wohlriechendes Veilchen zu finden. Sie freute sich darüber wie ein Kind. Immer war es ihr Frühlingstraum: Veilchen pflücken. Aber es kam so selten dazu. Entweder es war zu früh, wenn man hinauskam, oder es war zu spät. Und in der Zieglergasse wuchsen keine.
Überhaupt war Wettl fröhlich an diesem Nachmittag. Die Wiedergenesung des Großvaters hatte ihr Herz von einer schweren Sorge befreit. Und sie war so lange aus den Mauern des Guguckshauses nicht herausgekommen! Es dünkte sie eine Ewigkeit, daß sie kein größeres Stück Himmel gesehen hatte als den Ausschnitt, der zwischen Dächern und Feuermauern auf Hof und Garten herabblickte. Jetzt berauschte sie sich an der freiwehenden Luft und dem weiten Himmel und den ungeheuren, wahrhaft majestätischen Verhältnissen des kaiserlichen Parkes und ließ in den Glashäusern des botanischen Gartens ihre Einbildungskraft weite Reisen tun, in seltsame, exotische Länder, wo der Kokosbaum und der Kaffeebaum blühten und bunte, schmetterlingartige Vögelchen zwischen duftenden Vanillen, kafrischen Brotbäumen, Musapflanzen und Palmen flatterten. Bald war sie am Mississipi und bald am Ganges, bald auf Ceylon oder an den Küsten von Mona oder auf einer stillen Südseeinsel. In Käfigen oder freisitzend auf Stangen wurden auch andere seltene Vögel zwischen all dem fremdländischen Pflanzenwuchs gehalten, von denen man meinte, daß sie der feucht-warmen Treibhausluft bedürften, um fortzukommen. Da gab es Reissperlinge und Wittibvögel, kafrische Buschturteltauben und Paradeisvögel, von denen man sagte, daß sie in jedem Jahre Jüngling und Greis würden, und auch ein grellfarbiger Papagei war da, den der Guguck und der Pimperonkel beharrlich »Papagoy« nannten, sehr zur Erheiterung Fanys und Wettls. Aber die Herren behaupteten, man sage Papagoy, und »Papagei« sei falsch.
Aber in ihrer Fröhlichkeit verlor doch Wettl die ernste Absicht nicht aus dem Auge, die sie auch ein wenig mit veranlaßt hatte, diesen Ausflug anzuregen und ins Werk zu setzen. Denn sie hatte sich vorgenommen, mit Thomas ein vernünftig Wort zu reden und womöglich eine Annäherung zwischen ihm und Fany herbeizuführen. Es bekümmerte sie, daß ein bloßes Mißverstehen das Glück der jungen Eheleute trüben sollte. Und als sie auf dem Wege vom Botanischen Garten nach der Menagerie Gelegenheit fand, mit Thomas allein vorauszugehen, und er ihr erzählte, es sei jüngst ein prächtiger neuer Auerstier im Tiergarten angekommen, da dachte sie, daß es oft am besten wäre, den Stier gleich bei den Hörnern zu fassen. Sie sagte, wie sehr sie sich freue, Fany fröhlich zu sehen, und wie bewundernswert es sei, daß sie sich so rasch und leicht in die geänderten Verhältnisse geschickt habe.
»Man sieht daraus,« meinte sie, »wie treu sie zu dir hält, und wie gern sie dich hat.«
Thomas wurde sogleich ernst und düster.
»Siehst du, Wettl, dir will ich es sagen. Es ist wahr, daß Fany sich bemüht, mir zu verbergen, wie bitter der Verlust unsres Vermögens sie enttäuscht. Und das ist gewiß schön von ihr. Aber daß sie bitter enttäuscht ist, das fühle ich trotzdem. Denn ich weiß jetzt, was ich früher nicht gewußt habe: daß sie mich nicht aus Liebe genommen hat.«
Wie er das wissen könne? fragte Wettl. Und selbst wenn es wäre – warum Fany ihn nicht inzwischen dennoch wahrhaft lieb gewonnen haben könne? Sie habe schon öfter Beispiele von erst allmählich erwachter Neigung erzählen hören.
»Sie hat einen andern im Herzen getragen, als sie mir ihre Hand zur Ehe reichte,« sagte Thomas. »Das hab' ich schon damals dunkel empfunden, aber mich darüber hinweggetäuscht. Jetzt weiß ich es bestimmt. Und daß dieser andere ihr noch immer im Sinn liegt, das hab' ich gespürt, so lang wir verheiratet sind. Jetzt freilich, in der Zeit der Bedrängnis, ist sie gut zu mir und sucht mir meine Lage zu erleichtern, denn ein böses Herz hat sie nicht. Aber daß es nicht aus wirklicher Liebe zu mir geschieht, das weiß ich genau. Und seit ich volle Gewißheit darüber erlangt habe, daß ihr Herz nicht mir, sondern einem andern gehört hat, wie sie mit mir vor den Altar getreten ist, seither laß' ich mich nicht mehr täuschen.«
»Wie kannst du über all diese Dinge Gewißheit haben!« sagte Wettl. »Ich glaub', du redest dich nur selbst in deine Zweifel hinein. Wer sollte Fany im Sinn liegen und wen sollt' sie geliebt haben, wie sie deine Frau geworden ist? Unter allen unsern Bekannten weiß ich niemand, an den ich denken könnt'.«
»Schackerl ist es,« sagte Thomas.
Wettl staunte. Schackerl sollt' es sein? Das wär' wohl ein ungefährlicher Nebenbuhler, dachte sie bei sich, von dem niemand wüßt', wo er sei, und ob er sich überhaupt noch unter den Lebenden befinde. Sie konnte nicht glauben, daß Fanys Herz an einer halb sagenhaften Gestalt hänge. Thomas schien ihre Gedanken zu erraten. Sie kenne Fany nicht, sagte er, wenn sie glaube, daß Schackerls Verschollenheit dazu beitrage, ihn bei ihr in Vergessenheit geraten zu lassen. Gerade das Abenteuerliche, Seltsame und Dunkle halte Fanys Erinnerung an Schackerl wach, und in ihrer Einbildung sei er wahrscheinlich zu einer Art Heldengestalt emporgewachsen. Er für sein Teil sei vollkommen überzeugt davon, daß Fany immer an Schackerl denke und sogar auf ihn warte und fest daran glaube, daß er unversehens eines Tages erscheinen würde, um sein Versprechen einzulösen und sie abzuholen und zu entführen. Wettl schüttelte den Kopf. Sie hätte nie geglaubt, daß Thomas so verdreht sein könne. Jetzt aber, meinte sie, hab' er sich rein in Hirngespinste verloren; denn von einem Versprechen Schackerls, Fany abzuholen und zu entführen, könne er unmöglich etwas wissen. Also müsse er zugeben, daß es nichts als erträumte und erfundene Vermutungen seien, durch die er sein und Fannys Glück gefährde.
»Leider weiß ich mehr, als du ahnst, Wettl,« sagte er. »Erinnerst du dich an den hübschen, kostbaren Schreibkasten mit emaillierten Verzierungen und vergoldeten Beschlägen, den ich Fany einmal geschenkt hab'?«
Sie erinnerte sich wohl daran. Man habe das wertvolle Stück veräußern müssen, erzählte Thomas. Der Sicherheit halber hab' er vorher noch die Laden untersucht, und richtig hätte Fany in der Hast und Verwirrung, die damals bei ihnen herrschte, ein kleines Fach auszuräumen vergessen und Briefschaften darin zurückgelassen. Da hätt' er also glühende Briefe von der Hand Schackerls an Fany gefunden, und aus denen wäre hervorgegangen, daß sie sich miteinander versprochen hatten, und daß Fany um Schackerls Flucht wußte. Und im letzten Briefe am Tag vor seinem Verschwinden habe er geschrieben, sie würde jetzt lang nichts mehr von ihm hören, aber eines Tages würde er plötzlich auf einem feurigen Pferde geritten kommen und sie zu sich in den Sattel heben und sie entführen. Wenn sie ihr Versprechen aber bräche und inzwischen einem andern angehöre, so würde er sie töten.
»Glaub mir, Wettl,« sagte Thomas, »dieser Ton der Leidenschaft, wenn auch noch kindisch ausgesprochen, dieser Gedanke einer drohenden Gefahr, das Romantische der ganzen Geschichte – das alles ist wie dazu geschaffen, Fanys Kopf und Herz zu erhitzen. Und wenn sie sich auch nicht mehr vorstellt, daß er wirklich auf einem feurigen Pferd kommt und sie in den Sattel hebt – ich bin überzeugt: sie erwartet noch heute mit einem gewissen angenehmen Gruseln, daß er auf einmal auftaucht und da ist. No, und ein reicher Mann bin ich nicht mehr – vielleicht ging' sie wirklich mit ihm, wenn er käme.«
Wettl widersprach, doch war sie selbst durch seine Eröffnungen einigermaßen aus ihrer Bahn geworfen, und die volle Überzeugtheit und Sicherheit, mit der sie für Fany einzutreten gedachte, als sie das Gespräch begann, wollte sich nicht mehr ungeschmälert einstellen. Immerhin war es ihre aufrichtige Meinung, wenn sie sagte, es sei häßlich, aus der kindischen Überspanntheit halbwüchsiger junger Leute gleich einen so schweren Verdacht abzuleiten. Und wenn Thomas Schackerls Briefe gelesen habe, wozu er freilich kein Recht gehabt, so mög' er auch bedenken, daß diese Briefe ihm nie in die Hände gefallen wären, wenn Fany überhaupt noch daran dächte. Thomas aber ließ sich von seiner Überzeugung nicht abbringen und erwiderte, er wisse wohl, daß er die Briefe nicht hätte lesen dürfen, sei aber doch froh, es getan zu haben, denn nun wisse er wenigstens, woran er sei. Und daß sie ihm in die Hände gekommen, beweise nichts gegen seine Meinung; denn Fany wäre von je unachtsam in solchen Dingen gewesen und hätte oft etwas, das ihr wert war, Schmuckstücke und dergleichen, da oder dort liegen lassen und vergessen.
Ihr Zwiegespräch wurde jetzt unterbrochen, da der Guguck sie anrief. Sie hatten einen falschen Weg eingeschlagen und mußten ein Stück zurück. Gemeinsam trat die kleine Gesellschaft in den Tiergarten ein und kam zunächst in die Abteilung, in der sich die Merkwürdigkeiten befanden, ein Rehbock mit drei und eine Ziege mit fünf Füßen, ferner ein Hündchen, das mit einem Panther zusammen lebte und noch die Kühnheit hatte, seinen gefährlichen Genossen durch Sprünge und scherzhafte Bisse zu necken. Der Pimperonkel hielt sich den Bauch vor Lachen über das kecke Hunderl und war fast nicht weiterzubringen und ließ sich vom Wärter erzählen, daß der Panther nicht eher seine Nahrung berühre, bevor er nicht wisse, daß das Hunderl gefressen habe. Jedes fand in einer andern Abteilung seinen Liebling. Fany bewunderte besonders die prächtig schillernden Pfauen und sagte, vielleicht nicht ohne Beziehung, die Natur habe diesem Tiere hundert Augen gegeben, und manchem Menschen seien seine zwei schon zu viel, und er schließe sie absichtlich zu. Der Guguck erwärmte sich für die Kamele und Trampeltiere, denen man es ansehe, daß der Schöpfer sie eigens für die Karawanen erschaffen habe. Dabei erinnerte er sich an Pimpers hoffärtige Weste, auf der auch ein Kamel eingewebt gewesen war, und der Pimperonkel lachte und sagte, er hätte sie gut aufgehoben und würde sie schon wieder anziehen, sobald er wieder übermütiger geworden wäre. Das Bisamschwein aus Südamerika und ein Adler, der so alt war, daß er sich rühmen konnte, einst im Besitze des Prinzen Eugen das Belvedere bewohnt zu haben, fesselten des jungen Pimper Aufmerksamkeit, und Wettl schloß besonders das schwedische Pudelpferdchen ins Herz, das zwischen den Büffeln und den Steineseln hauste und so klein und wollig war, daß man es wirklich für einen großen Pudel hätte halten können.
Der Eisbär hatte schon im März Hitzen und stand aufrecht in seinem kleinen Weiher und ruderte Semmelbrocken, die ein junger Mann ihm zuwarf, mit der Pranke in sein Gitter hinein, wenn sie beim Wurf an einen Eisenstab geprallt und außerhalb des Gitters ins Wasser gefallen waren. Den Bärenfütterer erkannten sie, als sie sich näherten, und er grüßte freudig überrascht, als er die Gesellschaft erblickte. Es war der Lebold aus dem Schrollhaus. Sie plauderten fröhlich mit ihm, und er gab Fany und Wettl und Thomas von seiner Semmel, und dann vergnügten sie sich gemeinsam damit, in den weit aufgesperrten bläulichen Rächen des Tieres zu zielen, und immer wenn eins getroffen hatte, zollten die andern Beifall wie bei einem Scheibenschießen.
Da auch Lebold den Park von der Hietzinger Seite betreten hatte und gleichfalls zum Penzinger Tor hinaus wollte, so war ihr Weg derselbe, und sie gingen gemeinsam weiter. Sie gelangten jetzt in die weiten, stillen Baumalleen, in denen sich die Menschen verloren, und kamen an allerhand Rätseln und Scherzen vorüber, wie sie die Gartenkunst des achtzehnten Jahrhunderts geliebt hatte. Gewundene Waldwege führten sie schließlich zur prunkenden Gloriette empor, und sie beschlossen, die Plattform zu ersteigen, um die Aussicht zu genießen. Die jungen Leute eilten leichtfüßig die enge Wendeltreppe hinauf, der Guguck folgte langsamer, und der Pimperonkel kam ganz zu hinterst, ansehnlich ächzend und schwitzend.
Aufatmend traten sie auf die Plattform des hoch und frei gelegenen Gebäudes hinaus, das weit im Umkreis die Gegend beherrschte. Da sahen sie zu ihren Füßen das offene Parterre des Parkes, von Baumspalieren eingefaßt, und sich gegenüber das stattliche Lustschloß mit seinen Hunderten von Fenstern. Und etwas ferner, gegen Nordost, breitete sich, in goldene Abendnebel getaucht, das Häusermeer der Riesenstadt, und das weite Marchfeld dahinter verdämmerte ins Unbestimmte, und die über seiner graubraunen Fläche brauenden Dünste flossen mit dem Himmel zusammen. Inmitten des unendlichen Gewoges von Dächern sahen sie den Stephansturm aufragen, und westlich davon den hochgelegenen Turm von St. Laurenz, und wie ein äußerster Vorposten des weit geschwungenen Berg- und Hügellandes, hinter welches langsam die untergehende Sonne niedertauchte, blickte der kühn bis an die Donau vorgeschobene Leopoldsberg gleich einem treuen Wächter auf die unübersehbare Ebene hinaus und auf die Kaiserstadt zu seinen Füßen, in der die rauhen Lüfte der Alpen und der Sudeten sich mit dem heißen Hauch des Ungarlandes mischten.
Lebold stand neben Wettl an der steinernen Brustwehr. Sie blickten gemeinsam hinab und hinaus ...
»Wettl, sehen Sie diese Schönheit!« sagte er bewegt und doch mit einem Tone des Jubels in der Brust. »Das ist unsre Vaterstadt, das ist unser Vaterland!«
Sie konnte fast kein Wort hervorbringen. Das großartige Bild der herrlich hingebreiteten Stadt, das schmelzende Licht des Abends, das sich darüberhin ergoß, der Gedanke an die nahe Kriegsgefahr, und daß sie ihn voraussichtlich heute zum letzten Male sah, bevor er fortzog – dies alles bestürmte ihr Herz.
Der Pimperonkel kam angekeucht und trat zu ihnen. Sie mußten wieder scherzen und lachen und unbefangen tun. Beide suchten sie nach einer Gelegenheit, ein vertrautes Wort miteinander zu sprechen. Aber es wollte sich keine ergeben, immer hielt sich eins der andern zu ihnen, da Thomas und Fany im Gegenteile es vermieden, miteinander allein zu bleiben. Erst als sie schon bei sinkendem Abend auf dem Rückweg von der Gloriette durch die noch kahlen Eichenwälder an der künstlichen Ruine vorüberkamen, die ihre geborstenen Säulen und Architrave in einem verträumten Weiher spiegelte, da traf es sich, daß Fany sich zum Guguck und Thomas sich zu seinem Vater hielt. Lebold und Wettl schritten voraus, dem kaiserlichen Schloß und dem Ausgang entgegen. Er betrachtete sie verstohlen und fand sie entzückend in ihrem Hut aus Stroh mit hoher, kantiger Kappe und flacher Blende, auf der vorn ein paar Rosen lagen, während sie an den Seiten und rückwärts ganz schmal wurde. Mit zwei weißen Taffetbändern, die die Ohren deckten, war der Hut unter dem Kinn festgebunden. Er wünschte, daß er diese Bänder gewebt haben möchte, und hielt es nicht für unmöglich, daß es wirklich der Fall war.
»Ich nehm' heute von Ihnen Abschied, Wettl,« sagte er. »In wenigen Tagen marschieren wir aus. Werden Sie an mich denken, Wettl?«
Sie hatte nicht gewußt, daß es schon so bald sein würde, und erschrak. Sie reichte ihm das Veilchen, das sie gepflückt hatte.
»Nehmen Sie diesen Gruß des Frühlings als Andenken mit. Ich werde immer an Sie denken. Gott sei mit Ihnen, Lebold!«
»Glauben Sie, daß er mit mir sein wird?« fragte er mit bewegter Stimme.
»Ja, das glaub' ich,« sagte sie innig.
»Glauben Sie, Wettl, daß ein Gott über uns ist?«
»Das ist schon einmal ganz sicher,« sagte sie lachend; »wie denn sonst? Anders wär' es doch gar nicht denkbar!«
»Wenn aber einer nicht daran glauben könnte?«
»Das wird nicht leicht geschehen,« meinte sie unbefangen. »Der müßt' schon ganz verdreht sein wie der alte Herr Tollrian.«
»Wenn es nun aber so einen gäbe, der gern an Gott glauben möchte, und doch nicht recht an ihn glauben kann?«
Sie wurde nachdenklich und sann vor sich hin.
»Ich meine,« sagte sie ernst, »der müßt' damit anfangen und Gott einmal recht innig lieb haben. Dann braucht er gar nicht mehr zu glauben, dann weiß er es auf einmal, daß Gott ist. Wenn ich so manchmal das Gefühl in mir hab': jetzt machst du alles, was du sollst und so gut du es kannst, und jetzt verstehst du auf einmal, daß eine Ordnung und ein Sinn sein muß in der Welt, und siehst auf einmal, wie viel Gutes in jedem Menschen ist – dann kommt oft ein solches Vertrauen über mich, und dann spür' ich es auf einmal: jetzt ist er da! – Gott nämlich. Da, mein' ich, da drinnen.«
Sie legte die Hand auf die Brust: Lebold lauschte aufmerksam ihren Worten. Er fand es verständig, wie sie sich's dachte, und schön zugleich.
»Und glauben Sie auch,« fragte er, »daß Gott über uns wacht und unsere Schicksale in der Hand hält? Und daß er es entscheidet oder bestimmt: so oder so soll dein Los fallen?«
Abermals begann Wettl nachzusinnen.
»Ich weiß nicht recht ... wenn ich ganz aufrichtig bin, wie ich es zu Ihnen sein möchte – so wie ich's in der Christenlehr' gelernt hab', so stell' ich es mir eigentlich nicht vor: so als ob unser Herrgott wie ein Latzenzieherbub wär', der bei einem jeden von uns am Webstuhl stünd' und die Korden zög', während wir weben. Dafür ist er doch viel zu hoch und groß, kommt mir vor.«
»Und wie meinen Sie also, daß er wirkt?« fragte Lebold gespannt. »Oder glauben Sie, daß er sich gar nicht um uns kümmert, während wir weben?«
»O nein, das glaub' ich nicht! Aber nicht wie ein Latzenzieher zieht er die Korden, wie wir es ihn heißen. Sein Wirken ist, daß er uns Freud' und Kraft zum Weben gibt, und daß er uns Ruh' und Frieden ins Herz legt, daß wir gern bei der Arbeit sind. Aber weben müssen wir ganz allein, und wenn wir nicht klug und geschickt und gewissenhaft dabei sind, so kommt nichts Gescheites dabei heraus, und wenn wir noch so viel beten.«
»Es heißt aber doch, daß Gebete stärken, und daß wir auch den Willen Gottes dadurch beeinflussen können, wenn wir recht inbrünstig beten.«
»Es ist schon wahr,« sagte Wettl, »daß ich auch oft bete: Lieber Gott mach den Großvater wieder gesund oder laß das oder das geschehen – wie man halt das Beten von Jugend auf gelernt hat. Aber eigentlich, denk' ich mir manchmal, ist es doch recht keck von mir, daß ich mir einbild', Gott sollt' es machen, wie ich glaub', daß es am besten ist. Und wenn dann so ein heißes Gebet sich nicht erfüllt – müssen wir es da nicht spüren, als ob der liebe Gott uns verlassen hätt'?«
»So meinen Sie also, Wettl,« fragte Lebold, »daß wir überhaupt nicht beten und Gott nicht unsere Anliegen vortragen sollen?«
»Das mein' ich gar nicht,« sagte Wettl. »Aber wenn wir Gott darum bitten, daß er ein Unglück von uns wenden soll, so kann es sein, daß wir vergeblich bitten. Wenn wir aber darum ringen und beten, daß er immer bei uns bleibt, und daß wir auch im Unglück immer mit ihm und nie gegen ihn sind, so bitten wir ihn nicht leicht vergebens, denn ein solches Gebet geht nie gegen seinen Willen und Ratschluß. Und ein solches Gebet paßt auch für den, dem es schlecht geht, kommt mir vor. Der müßt' ja sonst rein glauben, der Teufel regiert die Welt, oder er tröstet sich damit, daß er sagt: Wen Gott lieb hat, den züchtigt er. Aber warum sollt' der liebe Gott denn gerade die züchtigen, die er lieb hat, und die schlechten Kerle laufen lassen? Das kann ich nicht glauben. Auch sehen wir es ja jeden Tag: er verhängt Schweres über die, die er lieb hat, und über die, die er nicht lieb hat. Aber die, die er lieb hat, die hält er auch im Unglück aufrecht, das ist der Unterschied. Und noch in der schlimmsten Not behalten sie Vertrauen und Kraft und Gottesfrieden und tun, was recht ist.«
Er war erstaunt darüber, wie schlicht und wahr sie sich die Dinge zurecht gelegt hatte. Was sie da aussprach, wollte er treu in seinem Herzen bewahren und mitnehmen ins Feld und vor den Feind, um es im Feuer zu erproben.
»Sie können es nicht wissen, Wettl,« sagte er, »wie wert es mir ist, was Sie mir da auf den Weg mitgeben. Wenn ich es so recht empfinden könnt' wie Sie, dann stünd' ich mutig in der blutigsten Schlacht.«
»Die Hauptsach',« meinte sie, »nicht bloß im Krieg sondern fürs ganze Leben, ist vielleicht der Mut, der von Gott kommt. Die Roslini hat es schön gesagt: es soll nur jeder unverdrossen sein Instrument spielen, der Kapellmeister dort droben, der zählt auf jede Stimme. Und wenn wir auch den Zusammenklang nicht hören – wir können uns darauf verlassen, daß es eine gute Weltmusik gibt, wenn nur jeder getreu sich an die Noten hält, die ihm aufgetragen sind.«
Sie waren das Parterre des Parkes entlang, durch die hallenden Torwege des Gebäudes und über den weiten Schloßhof gegangen und kamen nun an die Penzinger Brücke. Wettl blieb stehen.
»Jetzt müssen wir aber auf die anderen warten.« Sie stand gerade unter einer der mächtigen steinernen Sphinxe, die zu beiden Seiten der Brücke lagen, und Lebold war es, als schnitten diese starren Riesenweiber mit den Löwentatzen finstere Grimassen und ärgerten sich über dieses tiefgläubige Gemüt, das unbehelligt an ihren Rätseln vorüberging.