Emil Ertl
Die Leute vom Blauen Guguckshaus
Emil Ertl

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***

»Und so willst du uns wirklich verlassen, Lebold?« sagte sie traurig. »Ich kenn' dich nicht mehr: sonst warst du uns stets ein gehorsamer Sohn, und das Wort des Vaters hat bei dir gegolten. Und jetzt bietest du ihm Trotz?«

Es schmerzte den jungen Mann, seine Absichten so streng beurteilt zu sehen.

»Glaub mir, Mutter!« rief er, »es geschieht nicht aus Trotz! Es geschieht, weil ich nicht anders kann!«

Sie schüttelte traurig den Kopf und setzte sich neben ihn. Er verehrte, er liebte seine Mutter über alles, ihr gramvolles Aussehen schnürte ihm das Herz zusammen. Sie war eine blasse, schlanke Frau mit fast schwarzem, schon leicht angegrautem Haar und ruhigen, ernsten Augen, die klug und zugleich sinnend blickten. Jetzt ergriff sie Lebolds Hand und sagte eindringlich:

»Wir haben über diese ernste und wichtige Sache, die wahrscheinlich über dein ganzes Leben entscheidet, noch nicht miteinander geredet. Du hast deine Eltern diesmal nicht um Rat gefragt. Der Vater ist zornig darüber und will deine Gründe gar nicht hören. Eine Mutter aber ist nicht zornig, wenn ihr Kind ihr weh tut. Und darum will ich jetzt mit dir reden. Du sollst mir sagen, was eigentlich in dir vorgeht. Vielleicht kann ich dir raten. Vielleicht kann ich dir zeigen, daß du vorschnell und nicht zu deinem Besten handelst. Vielleicht machst du dir selbst erst alles recht klar, wenn wir darüber sprechen. Und vielleicht kommst du noch zur Einsicht, daß du auf dem falschen Wege bist. Denn auf falschem Wege bist du, will mir scheinen. Du, so weichherzig, so verträglich und sanft, so fügsam sonst gegen deine Eltern, so gutmütig gegen deine Geschwister, so nachsichtig gegen die Arbeiter und gegen die Dienstboten – du willst jetzt in den Krieg gehn und Menschen töten?«

»Es wird mir davor schaudern,« sagte Lebold. »Aber das Leben ist hart, und das Leben ruft mich. In dieser Zeit, in der wir leben, gehört einer nicht mehr seiner Arbeit und seinem Hause. In dieser Zeit kann nicht jeder tun, wie er mag ... Und dann ist noch etwas, Mutter, was mich forttreibt von hier. Etwas da drinnen in meiner Brust, was mich unselig macht ...«

Er stockte. Eine Art Schamgefühl des Herzens hatte ihn bisher verhindert, seine innersten Beweggründe zu enthüllen. Er gehörte zu den Naturen, die ihre Wunden gern verbergen und denen ihre Seele nicht auf der Zunge liegt.

»Wie soll ich es dir nur sagen, Mutter?« ... rief er mit sich kämpfend. »Siehst du dort drüben auf dem Freithof die dunklen Lebensbäume ragen, unter denen der Großvater begraben liegt? Hier, in ihrem Anblick will ich es dir und ihm gestehen. Ich weiß es noch gut, wie der Großvater gestorben ist, und wie ich als kleiner Bub von ihm Abschied genommen hab'. Da hat er mich angeschaut und mühsam die Hand gehoben und mir ein Kreuz auf die Stirn gemacht. Und mit schon schwerer Zunge hat er mahnend noch das eine Wort zu mir gesprochen, das sein letztes gewesen ist: Gottesfurcht! Immer hab' ich mir vorgenommen, seine letzte Mahnung zu beherzigen und ihrer nie zu vergessen. Und dennoch Mutter, dennoch –!«

Er weinte und sank der Mutter an die Brust: »Ich habe meinen Gott verloren, Mutter, ich habe keinen Gott mehr!«

Die Mutter erschrak heftig.

»Du wirst doch nichts Unrechtes getan haben, Lebold?« fragte sie zitternd.

Er richtete sich wieder auf und trocknete seine Tränen.

»Nicht mit Absicht,« sagte er; »und nicht mit meinem Wissen. Und doch komm' ich mir vor wie ein Verlorener, wie ein Ausgestoßener, wie einer, der nicht würdig ist, mit euch zu leben.«

Die Mutter überlegte.

»Du bist zu streng gegen dich selbst,« sagte sie milde. »Das hast du vom Vater, der immer streng gegen andere, aber noch viel strenger gegen sich selbst gewesen ist. Als Knabe zwar, da hast du mir immer den Eindruck gemacht, als wär' dein Wesen heiter und frei; und dann aber ist eine Zeit gekommen, wo du dich in dich selbst verkrochen und vielleicht mehr über die Dinge der ewigen Seligkeit nachgedacht hast, als gut ist. Es ist mir nicht entgangen, und ich hab' es wohl bemerkt, wie schwer du die geistlichen Lehren genommen hast, aber ich hab' auch gewußt, daß jeder sich mit diesen Dingen selbst auseinandersetzen muß, wenn ein rechter Mann aus ihm werden soll, und daß niemand ihm dabei helfen kann. Vielleicht war dein Herz zu empfänglich für die gewöhnliche Art der Lehrer und Katecheten, die mehr auf verstockte Gemüter berechnet ist. Und so hast du dich gequält und quälst dich noch, wie ich sehe, und das ist freilich das Richtige nicht. Wirf alles von dir, was dich beengt, und halte dich allein an Gott, so wirst du ihn wiederfinden, und er wird sich gerne finden lassen.«

»Laß mich beichten, Mutter, wie alles gekommen ist,« sagte Lebold, »so wird mir leichter sein, und du wirst mich verstehen und wirst mir nicht mehr zürnen, daß ich fortmöchte. Ich weiß nicht, bin ich so ganz anders gewesen als meine Kameraden – sie alle haben in der Trivialschule und die meisten auch später denselben Lehrer und Katecheten und die nämlichen Religionsbücher gehabt wie ich, und in der Kirche und in der christlichen Unterweisung ist ihnen dasselbe gesagt worden wie mir; und doch hab' ich immer gesehen, wie sie alles ohne Bedenken aufgenommen und in der Kirche das, was notwendig war, erfüllt haben, und dann wieder, als ob nichts weiter wäre, zu ihrer Beschäftigung und zu ihren Spielen zurückgekehrt sind. So ist es wohl auch bei mir lange gewesen. Aber an einem Tage, ich weiß nicht, wie es geschehen sein mag, da hab' ich mich gleichsam auf mich besonnen, und da war ich auf einmal wie allein mitten in der großen Welt, und dort oben, irgendwo hinter den Wolken oder hinter den Sternen, da war der liebe Gott. Und alle die vielen, vielen andern Menschen, die noch da waren, die waren nicht imstande, mir zu ihm zu helfen, und wo ich gegangen und gestanden bin, war ich mit ihm allein. Da hat mein Herz sich ihm aufgetan, und ich hab' mir vorgenommen, so gut und so rein zu sein, daß ich ihm gefallen möchte. Und immer hab' ich nur an ihn denken können, und er war gleichsam immer bei mir, und ich war so erfüllt von ihm, daß ich wie in einer andern Welt umhergegangen bin, und meine Kameraden haben mich ausgelacht und einen Traumwandler gescholten. Ich aber bin glücklich dabei gewesen und hab' mich nicht um sie gekümmert.«

»Siehst du, Lebold,« sagte die Mutter, »so hätt' es doch auch bleiben können? Und wenn es nicht so geblieben ist, so kann es doch wieder werden, wie es damals gewesen ist!«

»Ja, wenn es möglich wär', daß man nach einem innern Leben voll Enttäuschung wieder zum reinen, vertrauenden Kinde würde! Aber wenn mir einer mit unverständiger Hand in eine Seidenkette hineingreift und die Fäden bricht, verrottet und verknüpft, so kann ich nie wieder ein glattes Band daraus weben.«

Er schwieg traurig und lauschte dem Abendwind, dessen leises Rauschen durch die Blätterkrone zu ihren Häupten strich.

»Das Herz des Menschen hat Wunderkraft in sich,« sagte die Mutter. »An sie zu glauben, sollen wir niemals aufhören. Aber wie ist es geschehen, daß du deinen Gott verloren hast?«

»Da ist also einmal die österliche Zeit herangekommen, und der Katechet hat mit uns besondere Unterweisungen und Ermahnungen veranstaltet, um uns recht würdig zu machen für die Osterbeichte. Es ist mir auf einmal alles ganz neu vorgekommen, was er da gesagt hat. Aber ich hab' mich nicht darüber freuen können. Das war mein Gott nicht, den ich im Herzen trug! Der meinige war groß und frei und freudig und ein reiner Geist, wie es ja auch im Katechismus steht, wenn er gleich in meinen Gedanken vielleicht einen großmächtigen weißen Bart gehabt hat. Aber was hat es dagegen bei unserm Katecheten für Götter gegeben! Da hätten wir zum allerheiligsten Herzen Jesu beten sollen und Joannis-Nepomucenische-Andachten verrichten und die Ablässe, besonders den Porziunkula-Ablaß, nicht versäumen sollen! Und Litaneien haben wir singen müssen, zur heiligen Maria, der Zier und dem Glanz des Karmelberges, und zum heiligen Joseph, dem Schirmer und Patron des Karmeliterordens, und die heilige Therese, die hat gar die Wiese der Tugenden geheißen und der Glanz des Glaubens, das Schloß der Liebe und das Paradeis der Ergötzlichkeiten Gottes, die Schreibfeder des Heiligen Geistes, die Verehlichte mit dem Nagel des Kreuzes – und ich weiß nicht, was sonst noch alles! Da waren Gebete zur Seitenwunde Christi und zum heiligen Schweißtuch und zum heiligen Holz des Kreuzes, und in der Kirche im Schöff, wo wir manchmal zum Gottesdienst hingegangen sind, da war unser Gesang nicht: Herr, sei bei mir; da haben wir gesungen: O Maria, dein Gnadenbild sei meine Zuflucht, Schutz und Schild! Als ob wir zu Götzendienern sollten erzogen werden! Und wie hat bei dem allen Gott selbst ausgesehen! Ein Barnabiter, der als berühmter Prediger den Patres von St. Laurenz im Schulgottesdienst geholfen hat, der hat gemeint den Herrgott entschuldigen zu müssen, daß er auch die Seele eines Sünders noch in ihrem Leib lasse, und hat uns eröffnet, das tue er nur deswegen, damit er ihr im Jenseits inzwischen noch größere Qualen vorbereiten könne!«

»Es hat unser Kaiser Joseph nicht lange genug gelebt,« sagte die Mutter. »Man hört solche Dinge jetzt wieder. Aber ein gesundes Gemüt muß sie überwinden.«

»Auch das meinige hat sich dagegen gewehrt,« sagte Lebold, »und an seinem Gott festgehalten. Aber einmal hat der Katechet eine kleine Geschichte erzählt, die mir Schrecken eingejagt hat. Von einem andern Katecheten hat er erzählt, der auch so wie er zur österlichen Zeit junge Leute zu unterweisen gehabt habe, und geradeso wie in jenem Zimmer, in dem wir unterwiesen worden sind, habe ein Bild der schmerzhaften Muttergottes an der Wand gehangen, mit sieben Schwertern im Herzen. Aber auf einmal sei durch ein Wunder noch ein achtes Schwert im Herzen der Jungfrau zu sehen gewesen, und daran hätte man also erkannt, daß ein räudiges Schaf unter der Herde sei und einer von den Zuhörern hartnäckig im Stand der Todsünde verharre. – So einer aber, hat unser Katechet gesagt, ist sicher auch hier unter uns, und vielleicht weiß der es gar nicht einmal und glaubt noch Gott wohlgefällig zu sein. Denn gerade die Hoffärtigen sind die Schlimmsten, die Gott auf eigenen Wegen suchen wollen und wie die Ketzer meinen, der Glaube tue es allein, und die frommen Gebete und Ablaßwerke und die Verehrung und Fürbitte der Heiligen und das Fasten und Messehören und die heiligen Sakramente der Buße und des Altars, das alles zähle für nichts! O Mutter, was hat mein junges Herz da gelitten! Alle Blicke, hab' ich gemeint, müßten auf mich gerichtet sein, und jeden Augenblick war ich gefaßt, auf dem Bilde an der Wand noch ein Schwert erscheinen zu sehen. Denn vielleicht könnt' es doch gerade mit mir so stehen, ist mir eingefallen, und vielleicht bin ich wirklich nicht im Zustand der Gnade! Und vielleicht will wirklich Gott eine solche Art der Verehrung, wie der Katechet es sagt, und verschmäht meinen einfachen Gottesdienst des Herzens? Und mir ist gewesen, als ob der Katechet mir manchmal einen betrübten und vorwurfsvollen Blick zugeworfen und sein Wort an mich besonders gerichtet hätt'. So hab' ich halt nach und nach das Zutrauen in mich und meinen Gott verloren. Und jetzt hab' ich angefangen, mich nach einem Ersatz dafür umzuschauen, und so bin ich schließlich ein streng Kirchlicher geworden. Aber ich kann nicht sagen, daß ich jetzt getröstet war. Im Gegenteil. Jetzt hat die Not erst recht angefangen.«

»Mein armes Kind!« sagte die Mutter. »Daß dir so schwer geworden ist, was vielen andern nicht die geringste Sorge macht! Aber sei getrost! Denen, die um ihn gerungen haben, verschließt Gott sich auf die Dauer nicht!«

»Der Katechet,« fuhr Lebold fort, »der hat uns zur Vorbereitung auf die Osterbeichte ein kleines Büchlein zur Gewissenserforschung empfohlen, einen Beichtspiegel hat er es geheißen. Ich seh' mich noch heut' oben in meinem Zimmer sitzen, vor diesem gedruckten mönchischen Berater, der lüstern in alle Herzensfalten hat hineinleuchten wollen. Nach hundert und hundert Dingen hat er gefragt, da ist mir erst bekannt geworden, was man alles treiben kann, und was für eine abwechslungsreiche und mannigfaltige Kunst das Sündigen ist. Aber viele Dinge waren, die ich nur halb verstanden oder gänzlich mißverstanden habe, und gerade darin, meint' ich, könnt' ich gesündigt haben, weil ich eben nicht gewußt hab', was damit gemeint war. Es war in der Osterwoche, und die Glocken vom Laurenziturm haben geläutet, da bin ich ans Fenster geflohen vor diesem neugierigen Frager, der mir mehr wie ein Teufel als wie ein gutmeinender Berater vorgekommen ist, und hab' das Fenster aufgemacht, und die ehernen Stimmen sind zu mir hereingekommen und haben mich getröstet. Aber mit einmal haben die Glocken aufgehört zu läuten, sie seien nach Rom geflogen, hat es geheißen. Da war mir, als wär' ich jetzt ganz verlassen und wieder allein mit dem Beichtspiegel, der mich ganz verwirrt und zaghaft gemacht hat durch sein vieles Fragen. Hast du dies getan? Hast du jenes unterlassen? Hast du dich gegen die zehn Gebote Gottes vergangen? Und gegen welches? Und wie oft? Und auf welche Weise? Oder gegen die fünf Gebote der Kirche? Und wiederum gegen welches und wie und wie oft? Und wie steht es mit den sieben Hauptsünden? Und mit den sechs Sünden wider den Heiligen Geist? Und mit den vier himmelschreienden und den neun fremden Sünden? Und jede Sünde hat man wieder auf hunderterlei Art begehen können, in Gedanken, Worten und Werken, überall Sünden, nichts als Sünden, so als ob die ganze Welt nichts anderes sei als ein unendliches Sündigen und Zerknirschtsein. Gegen was alles, gegen wen allen, auf wie verschiedene Art und Weise man doch sündigen konnte! Es ist mir angst und bang geworden. Ein ganzes Sündenregister hab' ich mir angelegt, damit mir ja keine entwischen sollte, alle wollt' ich sie zur Schlachtbank führen und lieber eine zu viel angeben als eine zu wenig. Nur ja keine vergessen! Es wäre eine neue und die schrecklichste der Sünden gewesen, wenn ich das allerheiligste Sakrament des Altars unwürdig und nicht im Zustand der heiligmachenden Gnade empfangen hätte. Und gerade weil ich so vieles nicht verstanden und von mancher Sünde nicht gewußt habe, ob ich sie nicht am Ende doch begangen hätte, bin ich mir bei diesem ausgeklügelten Verhör so schwarz und sündhaft vorgekommen, daß es mir weh getan hat, wie du mich zu Abend geküßt hast, Mutter! Denn mir war, als könnte meine bloße Berührung dich beflecken.«

»Dein Gewissen war krank geworden,« sagte die Mutter, »wie es wohl vorkommt in der Zeit, wenn man kein Kind mehr und noch kein Erwachsener ist. Aber es nimmt mich wunder, ob dein Beichtvater dich nicht getröstet und auf den rechten Weg geführt hat?«

»Der geschorene Kopf hinter dem Beichtgitter,« sagte Lebold, »der die Stelle Gottes vertreten hat, der mag sich gehörig gewundert haben über meine Sündhaftigkeit. Ich weiß, er hat sicher die besten Absichten gehabt, und ehre seinen Stand. Aber meinen Fall hat er nicht erkannt, sondern all meine krausen und kindischen Selbstanklagen für bare Münze genommen. Auch er hat mich eine Menge Dinge gefragt und gerade solche, an die so ein junger Dölp in seiner Unschuld noch gar nicht denkt. Diese Sachen haben ihn so interessiert, daß er nicht müde geworden ist zu fragen, und dazwischen hat er immer wieder eine Prise genommen, damit ihm noch eine Frage einfallen soll. Was hätt' ich da alles beantworten sollen! Dinge, von denen ich nie gehört und geträumt habe! Da bin ich nur immer unsicherer und verzagter geworden, und wir haben einander nicht verstehen können. Schließlich sind mir zur heilsamen Buße zwölf Vaterunser samt Englischem Gruß und zwölf Glaubensbekenntnisse auferlegt worden. Ich hab' sie gebetet, aber es ist mir schwer geworden, zwölfmal hintereinander dasselbe zu beten, ohne anders als mit den Lippen allein zu beten. Und ich kann nicht sagen, daß ich mich danach von meinen wahren und eingebildeten Sünden hätte befreit gefühlt.«

Er schwieg. Die Kämpfe und Zweifel von damals wurden ihm wieder lebendig. Manches schöne Jugendjahr hindurch war sein Zustand derselbe geblieben, wie er ihn jetzt der Mutter geschildert hatte. Die ganze Not jener Zeit erwachte aufs neue in ihm. Und wozu war dies alles gewesen? Ist denn die Religion uns zur Qual geschenkt? Und soll sie uns nicht vielmehr zur Freiheit des Herzens und zu wahrer Freudigkeit emporleiten? Warum hatte sie es gerade bei ihm nicht vermocht, wo er so heiß danach rang?

»Für so viele Menschen,« sagte die Mutter, »hat die Beichte etwas Erlösendes und Erhebendes. Auch ich empfinde sie als eine wahre Tröstung.«

»Und ich will mich nicht vermessen,« sagte Lebold, »über die Einrichtungen der Kirche zu urteilen. Nur daß ihr Weg der einzige und allein richtige ist, kann ich nicht glauben. Mich hat er nicht zum Ziele geführt. Es ist mein Gott nicht gewesen, mit dem ich gelebt habe, und manchmal war mir zumute, als sei er hinter mir her wie einer von den Aufpassern, die es bei uns von Polizei wegen gibt. Ich kann es nicht anders sagen, als daß ich die Freud' zu diesem Gott immer mehr verloren hab'. Das war wieder eine arge Sünde, und ich hab' sie natürlich beichten müssen. Da hat es jetzt geheißen, daß ich verdammt und verstoßen sein würde und dahingeworfen wie ein ausgejätetes Unkraut, wo Heulen und Zähneknirschen herrscht. Und niemand war, der das Wort gefunden hätt', mich recht zu beraten und mein krankes Gewissen zu trösten. Nur immer wieder dieselben Fragen nach Dingen, die mich nichts angegangen sind, und immer wieder: Vaterunser und Glaubensbekenntnisse zur heilsamen Buße.«

»Es ist mir leider bekannt,« sagte die Mutter, »wie manche Diener der Kirche mit dem Beten wüsten. Sie vergeuden und verderben damit eine der schönsten Fähigkeiten des gläubigen Herzens, sich zu dem Unbekannten zu erheben, auf das wir noch über das Grab hinaus hoffen. Denn wie alle guten Gaben Gottes durch Unmaß in ihr Gegenteil verkehrt werden, so ist es auch mit dem Beten. Der gute Großvater, der dort drüben auf dem Schmelzer Freithof schlummert, hat oft gesagt: Ein alter Wein und ein frommes Gebet – von jedem so viel, als in einen Fingerhut geht!«

»Uns jungen Leuten sind die Gebete schockweis verordnet worden,« sagte Lebold. »Da ist es nun einmal so gekommen, daß wir in der Christenlehr' vom Gelübde gelernt haben. Wenn man Gott im Glauben und im richtigen Geiste Gebete verspricht, so kann man auch etwas dafür erlangen. Und so hab' ich halt einmal zehn recht andächtige Vaterunser versprochen, wenn meine arge Gewissensangst aufhören würde; und richtig ist mir vorgekommen, als ob es in den nächsten Tagen nach diesem Versprechen ein wenig ruhiger geworden wär' in mir. Aber wie ich Abends in meinem Bett mein Gelübde hab' einlösen und die zehn Vaterunser abzahlen wollen, da hat sich etwas Neues und Sonderbares zugetragen. Schon bei dem ersten ›Vater unser, der du bist...‹ hab' ich stocken müssen und bin nicht mehr vom Fleck gekommen. Es waren nur Wörter da, in einer sonderbaren Wortstellung, aber denken hab' ich nichts darunter können. Die Wörter waren mir fremd, als ob sie aus einer ganz anderen Sprache gewesen wären. Ich hab' versucht weiter zu beten: ›Geheiliget werde dein Name‹ und ›Zukomme uns dein Reich‹ – es hat sich alles in meinem Kopf gedreht, und ich hab' mir nichts, auch nicht einen Schein von Bedeutung unter all diesen Wörtern denken können. Vergebens hab' ich mich gequält und gequält Nächte lang, es ist alles vergeblich gewesen. Unwürdig hab' ich mich gefühlt, in dieser schönen, weiten Schöpfung zu stehen; aber schließlich hab' ich es erkennen müssen, und es war nichts daran zu ändern: Ich hab' nicht mehr beten können, Mutter, ich hab' nicht mehr beten können!«

Er hielt inne. Der Abend war herabgesunken. Es flimmerten jetzt schon viele Sterne über der Schmelz, aber hinter den in der Ferne sich verlierenden und mehr und mehr in Dunkelheit versinkenden Höhen des Wienerwaldes lag noch immer ein letzter blasser Schimmer des scheidenden Tages. Lebold erhob sich und trat vor die stille, ernste Frau, die nachdenklich auf der Bank saß, ihren Kopf in die Hand gestützt.

»Das ist alles kindisches Zeug, Mutter, nicht wahr? Es waren die Seelenkämpfe eines unreifen Knaben. Und doch ist etwas von ihnen in meinem Herzen zurückgeblieben. Etwas, das mich durch mein ganzes Leben zu begleiten droht: Eine fürchterliche Leere. Ich hab' meinen Gott nicht wiederfinden können, Mutter, und der, den sie mir dafür gegeben haben, das war nicht der meinige! Damals ist es geschehen, wie ich mich schlaflos auf meinem Lager hin und her gewälzt hab', daß immer wieder, wenn ich hab' beten wollen, eine Stimme dazwischengelacht und gehöhnt hat, und etwas Ungekanntes ist in mir aufgestanden, wie eine teuflische Lust, zu lästern und zu leugnen. Und das war gerade um die Zeit, wo der Schackerl davongegangen ist. Der alte Herr Tollrian hat mich gedauert, weil ihm sein Sohn davongelaufen war, und ich bin manchmal hingegangen. Da hat er mir viel erzählt von seinen philosophischen Dingen, und es sind mir dabei immer mehr Zweifel gekommen. Und das Wort ›Gott‹ hat mich jetzt wie etwas ganz Kaltes und Unbekanntes angeschaut, wie etwas, das nur ein Wort ist und keine Seele hat. O, Mutter!« – rief er ausbrechend und warf sich vor ihr auf die Knie, sein Gesicht in ihrem Schoße bergend; »ich bin kein Mensch, der ohne Gott leben kann! Ich brauche einen Gott und habe keinen! Diese Leere, diese Gleichgültigkeit, diese Abgestumpftheit, die jetzt in mir ist, wird mir unerträglich! Ich muß meinen Gott finden, wenn ich leben soll, und hier in dieser altgewohnten Umgebung, an meiner Bandmühl', in diesem Haus, in diesem Hof, in diesem Garten, auf die immer und immer gleich der Laurenziturm herüberschaut – hier find' ich ihn nicht, hier kann ich ihn nicht finden, das weiß ich nun schon. Aber im Donner der Geschütze vielleicht – wenn ich für mein Vaterland kämpfen und dem Tod ins Aug' blicken kann – vielleicht daß ich ihn dann wiederfände und mich in ihm!«

Sie streichelte ihm mit der Hand übers Haar. »Ich versteh' dich, Lebold,« sagte sie. »Es tut mir weh, daß ich dir nicht anders helfen kann, als indem ich dich gewähren lasse; das ist so oft unser hartes Frauenlos. Aber muß es denn wirklich der Krieg sein?«

»Laß mich ziehen, Mutter!« rief er. »Es muß ein hohes, ein würdiges, ein männliches Ziel sein, wenn es mir Heilung bringen soll. Verzeih mir, wenn du kannst, daß ich dir Kummer mache! Aber laß mich ziehen, Mutter, laß mich ziehen!«

Sie senkte jetzt ihr Antlitz auf sein Haar und küßte es.

»Ich hab' dich in Schmerzen geboren, mein Kind, du bist mein, denn keinem gehört ein Mensch mehr an als seiner Mutter. Und ich – ich gebe dich frei!«

Er küßte stumm ihre Hände und blieb vor ihr auf den Knien liegen und lehnte seinen Kopf an ihre Brust und schloß die Augen. Er spürte die Wärme ihres Leibes und hörte ihr Mutterherz pochen, und es war ihm, als hätt' er seit seinen Kindertagen nie wieder so süß geruht.

Sie hatte die Hände über seinem Haupte gefaltet, und ihre heißen Tränen benetzten seine Locken.

»Zieh hin, mein Kind,« sagte sie, »und kämpfe, wenn eine innere Stimme es dich so heißt. Es ist dein Gott, der deine Schritte lenkt, ich fühl' es, und er wird dir die Augen öffnen, daß du ihn erkennst. Was es für mich wäre, dich zu verlieren, das kannst du nicht ermessen. Aber einer Mutter Liebe muß nicht nur behüten, sie muß auch wagen können. Zieh hin und kämpfe! Ich kann dir jetzt selber nichts anderes raten: Zieh hin und kämpfe!«

***

In den Empfangszimmern des Hauses »Zum englischen Lord« in der Schottenfelder Kirchengasse ging es lebhaft zu. Nicht blos die jungen Leute, auch Freunde und Verwandte des Hausherrn und der Hausfrau hatten sich eingefunden. Erst stand man plaudernd in Gruppen beisammen, dann forderte die englische Lady, wie die Dame des Hauses scherzhaft genannt wurde, die Gäste auf, ins Eßzimmer »hereinzuspazieren«, wo die Kaffeetische aufgestellt waren. Sie war eine beleibte kleine Frau, die trotz ihrer vorgeschrittenen Jahre noch viel Lebenslust in sich hatte und wie eine Rakete zwischen den Kaffeetischen umherfuhr, um selbst nachzusehen, ob alle gut untergebracht wären und keinem etwas abginge. Da sie die moderne griechische Tracht trug, einen mit Kettchen und Anhängseln umwundenen Pythiaknoten und ein ausgeschnittenes kaiserblaues Oberkleid, das von den Knien abwärts auseinanderklaffte und einen weißen Chiton darunter sehen ließ, so hätten die Gäste sich einbilden können, eine Hebe sorge für ihr leibliches Wohl, hätte die massige Körperlichkeit und das laute, ruschlige Wesen der Lady die süße Täuschung nicht zerstört.

Ein Opfer der Gastfreundschaft, kam sie selbst erst zu ihrem Kaffee, als die übrigen damit fertig waren. Aber sie bat die Gesellschaft, sich dadurch in ihrer freien Bewegung nicht hindern zu lassen, und ganz nach Belieben wieder in die Empfangszimmer »hinauszuspazieren«. Die jungen Leute ließen sich das nicht zweimal sagen, und der Pimperonkel ergriff die Gelegenheit, die älteren Herren zu einem Spielchen aufzufordern.

»Ich leiste dir Gesellschaft, Rosalie,« sagte die Scheuklappentante zur Hausfrau; aber es war nicht die reinste Selbstlosigkeit, was sie neben Frau Pimper am Kaffeetisch festhielt. Denn auch ihre Kaffeetasse – die zweite freilich – stand noch bis zum Rande gefüllt auf dem damastenen Tischtuch. Es war ein dunkelgrüner Becher von feinstem Wiener Porzellan, mit Goldrändern und einem schwarzen Weinlaubgewinde verziert. Ein schlanker, vergoldeter Fasan, der seinen Hals und Kopf in zierlichem Bogen hoch über den Tassenrand emporhob, bildete den Henkel. Das gesamte Kaffeegeschirr war von derselben kostbaren Art, nur daß die Goldfasanen der Kannen, die noch auf dem Tische standen, die Väter oder Großväter jener kleineren Fasanenbrut zu sein schienen, die an den Tassen ihre Hälse zu Henkeln reckte und streckte.

Auch die andern anwesenden älteren Damen ließen die Hausfrau nicht im Stich und rückten näher um sie zusammen. Da war die Frau Hirnschal, die Gattin des Erzengels Michael aus der Neustiftgasse, dann die Schrollin, die Gattin des groben Schroll aus der Kaiserstraße, ferner ihre Nachbarin, die Woitech, die Gattin des roten Igels, dann die verwitwete Frau Lein, welche die türkische Tante genannt wurde, und noch mehrere sonst.

Die türkische und die Scheuklappen-Tante waren Schwestern, die eine verwitwet, die andere unverheiratet. Frau Lein hatte vor mehreren Jahren, als aller Augen auf die kriegerischen Vorgänge im Muselmanischen Reiche gerichtet und deshalb die Modestoffe à la Turc aufgekommen waren, einen gedruckten Zitz in türkischem Geschmack für ein Kleid gewählt; weil er aber nur im ganzen Stück erhältlich gewesen, so erwarb sie das ganze Stück. Das Muster gefiel ihr, und sie war zufrieden und ließ den Stoff liegen, und als das erste Kleid abgetragen war, ließ sie ein zweites und später ein drittes von demselben Stoffe für sich anfertigen. Diese Beharrlichkeit hatte ihr den Spitznamen der türkischen Tante eingetragen. Hingegen war der Scheuklappen-Tante ihrer auf den Hut aus grünem Taffet zurückzuführen, den sie, vermutlich ihrer Haarverhältnisse wegen, niemals, auch bei gastlichen Mahlzeiten nicht, vom Kopfe nahm. Er hatte einen haubenartig gefalteten Hinterkopf und eine mächtige, gleichfalls mit grünem Taffet überzogene Blende, die sich knapp an die Schläfen legte und dann noch weit darüber hinausragte. Dazu trug sie ein modisch hemdartiges Kleid von gleicher Farbe aus Kambrick, den man wegen seines narbigen, an die Haut einer gerupften Gans erinnernden Gefüges Gänsehaut-Kambrick nannte, und um den Hals und den tiefen Ausschnitt des Kleides eine grünseidene Buffante.

Jetzt näherte Melcher, der seine Jause beendet hatte, sich dem Tische, an dem die Damen saßen. Er fühlte sich gehoben und zu vielem Dank verpflichtet, weil er sich mit Recht sagen durfte, daß er gewissermaßen der Anlaß zu dieser »Assemblee« gewesen war. Um seinen Gefühlen Ausdruck zu geben, schlug er die Absätze zusammen und machte eine militärische Verbeugung vor Frau Pimper. Sie nickte ihm wohlwollend zu, mit der gewohnheitsmäßigen Liebenswürdigkeit der Gesellschaftsdame, die es für ihre Pflicht hält, den Sonnenschein ihres Lächelns allen Gästen gleichmäßig zu spenden, und entließ ihn mit einigen freundlichen Worten.

»Ein prächtiger junger Krieger!« sagte sie leise zu den Damen. Alle anerkannten seine gute Erscheinung und sein angemessenes Benehmen.

»Das Militär gibt den jungen Leuten doch gleich einen gewissen Schliff,« meinte die türkische Tante. »Wenn ich einen Sohn hätte, er müßte mir Soldat werden.«

»Für den Sohn einer Hausmeisterin ist es gut,« sagte die vom »Roten Igel«; »aber einen Bürgerssohn erzieht die Familie. Ich bitte Sie, wozu würde mein Pepi zum Beispiel noch militärischen Schliff brauchen!«

Die Scheuklappentante ergriff mit zwei Fingern den Goldfasan und hob mit einer altjüngferlichen Bewegung, die dem Soldaten zulieb ein wenig geziert ausfiel, ihre Kaffeetasse in die Höhe des Mundes.

»Die zweite Schale trinke ich immer kalt,« sagte sie und leerte den Becher auf einen einzigen Zug, als ob es ein Schierlingsbecher gewesen wäre.

Melcher hielt mit der Abmeldung bei der Hausfrau seine dienstlichen Obliegenheiten im Kaffeezimmer für erledigt. Jetzt, meinte er, dürfe er sich dem Vergnügen hingeben und Wettl suchen gehen. Unter den vielen Leuten, die anwesend waren, hatte er sie noch kaum gesehen und nur einen flüchtigen Gruß mit ihr getauscht. Sporenklirrend machte er kehrt und trat dem groben Schroll auf den Fuß, der nicht rasch genug ausweichen konnte, weil die Gäste, die aus dem Speisezimmer in das anstoßende Sitzzimmer strömten, eine Stauung verursachten. Der Kürassier war zu Tode erschrocken, seine Bekanntschaft mit dem von ihm gefürchteten Mann in dieser wenig passenden Form eingeleitet zu haben. Aber eigentlich grob, wie sein Hausname behauptete, schien der alte Herr gar nicht zu sein, nicht einmal unwirsch; im Gegenteil

»No, no, no, junger Kriegsmann!« sagte er gutmütig lachend, ohne aus seiner ruhigen, aufrechten Haltung zu fallen.

Melcher stammelte eine Entschuldigung. In Kebach, der daneben stand und den kleinen Unfall mit angesehen hatte, regte sich der Meister. Er fühlte sich gewissermaßen verantwortlich für alles, was Melcher hier tat.

»Noch alleweil ein bissel wie ein junger Hund ist er,« sagte er gleichsam entschuldigend zum Schroll »Na ja, wenn einer vom Latzenzieherbuben auf einmal zur Kürassiergröß' aufschießen tut, so hat er halt Arm' und Bein' noch nicht so ganz in seiner Gewalt!«

Der Schroll klopfte Melcher freundlich auf dir Achsel.

»Eine Spannung zwischen Bürger- und Soldatenstand wird deswegen nicht gleich eintreten. Das wär' ja jetzt gar nicht erlaubt,« sagte er, einen Finger hebend und schalkhaft lächelnd, »wo doch von oben her alles geschieht, die Scheidewand zwischen Verteidigern und Verteidigten fortzuräumen.«

Er war ein hochgewachsener, ebenmäßig gebauter Mann von auffallend gerader Haltung, der mit seinem gebräunten, glattrasierten Gesicht, seinem reichen, silberweißen Haar und seinen ruhigen, beinahe schwerfälligen Bewegungen ein wenig an einen trotzigen alten Bauern erinnern mochte. Auch der lange, dunkelgraue Schoßrock mit hohem, umgelegtem Kragen, den er statt des sonst fast allgemein üblichen Fracks trug, konnte diesen Eindruck nur verstärken.

Fany versammelte die Jugend im sogenannten Löwenzimmer um sich, einem großen, dreifenstrigen Gesellschaftsraum, dessen Wände mit einer feinen, silbergrauen Tapete bekleidet waren. Hellere Streifen liefen in gewissen Abständen nebeneinander von der Decke bis zum Boden, und auf jedem Streifchen waren mehrere kleine Kreise aufgefädelt, in denen immer wieder ein winziger grauer Herkules mit einem winzigen grauen Löwen rang. Die aus Seide gewebte Polsterung der Stühle und Kanapees zeigte dasselbe Muster, und alle Möbel standen auf schwarz polierten Löwenbeinen, deren zottige Schenkel und deren Prankenzehen teilweise vergoldet waren. Sogar die schwarze Stockuhr ruhte auf vier zierlichen goldenen Löwentatzen, und auf der großen, mit zartgrauem Schmelz überzogenen Rundsäule des Ofens, auf der sich die Kreise von den Wänden in weißer Glasur wiederholten, setzten winzige Herkulesse unentwegt ihren erbitterten Kampf mit niedlichen Nemeïschen Löwen fort.

Fany war heiter und angeregt; ihre Fähigkeit, über alles zu plaudern, was ihr gerade durch den Sinn fuhr, belebte die Gesellschaft, in der sonst leicht ein steifer und fremder Ton hätte Platz greifen können, wie es wohl geschehen mag, wenn ehemalige Jugendfreunde, die ihr Lebensweg auseinandergeführt hat, sich später wieder begegnen. Sie saß neben Wettl auf dem Kanapee, während die anderen ihre Polsterstühle vor ihnen in einen weiten Kreis gerückt hatten. Mit der Leichtigkeit, die nur die Übung verleiht, sprang sie von einem Gespräch zum andern und kam, wie man zu sagen pflegt, vom Hundertsten ins Tausendste. Vom Theater erzählte sie und von Spazierfahrten, vom Wetter und von Feuerwerken, von kleinen Neckereien und heiteren Begebenheiten, von Landhäusern und Gesellschaften, von Ausflügen und von schönen Kleidern und von Tanzvergnügungen. Und etwas so schönes wie den neuen Apollosaal, behauptete sie, hätte sie überhaupt noch nicht gesehen.

»Du kennst ihn ja, Wettl, nicht wahr, du bist doch schon dort gewesen?«

Wettl kannte ihn nicht.

»Nein, wie das arme Kind in der Weltgeschichte zurück ist! Wer wird sich denn solche Herrlichkeiten nicht anschauen, wo sie doch in nächster Nähe sind! Aber du hast ihn doch gesehen, und du, und du?«

Alle hatten ihn gesehen, an die sie sich wandte: der Woitech-Pepi, der Sohn vom »Roten Igel«, und seine Schwester, die Woitech-Marie; der junge Wendelin Hirnschal, der der kleine Blasengel genannt wurde; die Reckenschuß-Mali, die Tochter von der »Munteren Tyrolerin« in der Zieglergasse; der Lebold aus dem groben Schrollhaus, sogar der Franzl, Lebolds jüngerer Bruder, der auch mitgekommen war; nur Wettl nicht.

»Nächsten Fasching mußt du mir aber mitkommen, Wettl!« rief Fany. »Das hat doch keine Art, sich in die Wirtschaft vergraben und Seide kavilieren und dem Herrn Vater auch noch Korden ziehen, wenn er gerade keinen Latzenzieherbuben hat – als ob nicht Arbeiter genug da wären!«

»O ich tu's gern,« sagte Wettl, »das ist mir das allerliebste, wenn ich mithelfen kann!«

»Ja, ja, das weiß ich, aber Unterhaltung muß doch auch sein. Da begreif' ich es, daß die jungen Herrn nicht mehr tanzen mögen, wie es heißt, wenn die hübschesten Mädeln ihr Licht so unter den Scheffel stellen. – Na also, deswegen brauchst nicht gleich erröten,« lachte sie gutmütig; »aber diese Coiffure à la Ninon steht dir wirklich allerliebst.«

Sie umarmte sie und drückte sie an sich. Es war ein hübscher Anblick, wie die zarte Blonde im hochgegürteten Battistkleid einen Augenblick in Fanys Armen ruhte, die heute ein lila Samtkleid und im üppigen schwarzen Haar ein mit Goldborte und weißem Seidenhasen verziertes phrygisches Mützchen von gleichem Stoffe trug.

»Ei, nennt man das eine Coiffure à la Ninon?« fragte Wettl, die über und über rot geworden war.

»Und das weiß sie nicht einmal!« rief Fany, »Was sollt' es denn sonst sein?«

»Locken sind's halt,« sagte die Wettl. »Aber in den Apollosaal werd' ich wahrscheinlich nicht gehn dürfen.«

»Da wird nicht lange gefragt werden, ich nehm' dich einfach mit!«

Wettl seufzte.

»Du weißt doch, daß der Herr Vater sagt, es hätt' noch Zeit bei mir mit dem Tanzen.«

»Ja freilich! Immer der Herr Vater und der Herr Vater! Ein aufgewecktes Frauenzimmer wickelt jeden Mann um den kleinen Finger, wenn sie geschickt ist, auch den Herrn Vater; merk dir das!«

»Hoho, Madame!« machte ihr Mann, der junge Pimper; »verraten Sie die Geheimnisse Ihrer Diplomatie nicht!«

Der junge rote Igel, der mit dem Zeitgeschmack ging und gerne mythologisch wurde, sagte:

»Nun sind Sie gewarnt, Pimper. Nun wissen Sie, daß Sie wie Ödip an einem Abgrund stehen, wenn Sie die Rätsel nicht lösen, die diese reizende Sphinx Ihnen aufgibt.«

Er fand das geistreich gesagt und strich sich mit Befriedigung, aber vorsichtig über das rötliche Haar, das er glatt gescheitelt trug, weil er à la Titus schon für etwas überlebt hielt.

»Ich mache keine Geheimnisse aus meiner Art,« lachte Fany; »aufrichtig wenigstens bin ich, wie der Spitzbube ungefähr, der im Beichtstuhl bekannte: ›ich stehle‹, und dabei seinem Beichtvater die Börse aus der Kutte gezogen hat. Sehe sich also jeder vor, der mit mir zu tun hat!«

Sie schilderte Wettl die Herrlichkeiten des Apollosaales.

»Und das alles hat man um ein Eintrittsgeld von fünf Gulden,« sagte sie.

»Fünf Gulden!« rief Wettl entsetzt. »Wenn das der Herr Vater hören tät'! Fünf Gulden bloß als Eintrittsgeld zu einem Tanzvergnügen!«

»Als ob das gleich ein Vermögen wär'! Fünf Gulden sind doch kein Geld für einen wohlhabenden Mann, wie dein Herr Vater einer ist!«

»Aber du weißt doch, wie er immer aufs Sparen und Einschränken versessen ist. In dem Punkt ist er streng. Wenn ich einmal in einem Monat nur ein bissel mehr für die Wirtschaft brauch' – hui je! Und bei der schrecklichen Teuerung ist schwer mit dem auskommen, was er mir gibt. Jetzt schon wieder sind die Eier auf sechs Kreuzer das Stück gestiegen!«

»Ich will dir etwas ins Ohr sagen,« lachte Fany; »aber ganz leise, daß es niemand hört, denn es ist ein großes Geheimnis, wiewohl daß es die Spatzen auf den Dächern pfeifen.«

Sie neigte sich an Wettls Ohr und flüsterte so laut, daß alle es hören konnten:

»Ein bissel ein Geizkragen ist er, dein Vater!«

Der Wettl stieg abermals das Blut in die Wangen.

»Nein, das lass' ich über meinen Herrn Vater nicht sagen!« rief sie entrüstet. »Und es ist auch gar nicht wahr! Eine schandbare Lug' ist es, wenn das wirklich die Spatzen auf den Dächern pfeifen!«

»Na, na, ich mein's ja nicht gar so wörtlich,« lenkte Fany etwas erschrocken ein. »Aber das wirst mir doch nicht abstreiten, daß dein Herr Vater wohlhabend genug ist, um sich und dir mehr zu vergönnen, als er tut.«

»Daß er wohlhabend ist, das wird schon sein, denn ich hab' ihn selbst einmal sagen hören: Ich hab' auch soviel wie mancher andere, aber mit der einen Hand zum Fenster hinauswerfen, was ich mit der andern eingenommen hab' – davor tät's mir grausen.«

»Da hast du es ja!« frohlockte Fany. »Das ist es ja, was ich sag': das Festhalten macht ihm eine Freud'.«

»Das ist aber nicht Geiz, das ist Wirtschaftlichkeit!« rief Wettl eifrig. »Immer sagt er, beim Geldausgeben muß man es machen wie der Sperrkegel am Seidenbaum, auf den die Garnkette aufgewunden ist: nur zizelweis nachgeben. Und damit hat mein Herr Vater sehr recht! Denn wenn kein Sperrkegel wär', so tät' der Seidenbaum immerzu rollen und viel mehr Kette hergeben, als man verweben kann, und die Kette wär' nicht mehr nett und ordentlich gespannt, und alle Fäden täten sich verrütten. Und gerade so ist es, wenn in einem Haus mehr ausgegeben wird, als notwendig ist: das führt nur zu Unordnung und Unzufriedenheit. Denn wenn man immer nachdenken soll, was man sich Überflüssiges schaffen könnt', so kann man nicht an die Arbeit denken; no, und so verliert man halt die Freud' an der Arbeit, und schließlich g'freut einen überhaupt nichts mehr. So denk' ich mir's halt.«

Lebold fand es wacker, daß das junge Mädchen der gewandten Frau gegenüber so mutig ihren Vater und ihre Meinung verteidigte.

»Da haben Sie recht, Wettl,« sagte er, ihr zu Hilfe kommend; »an dem, was Sie sagen, daran ist viel Wahres.«

Auch Melcher wollte sich offen zu Wettl bekennen. Er wendete sich an Lebold.

»Wie hast du mir gestern erzählt, daß dein Herr Vater immer sagt? Wer im Zeiselwagen zu fahren gewohnt ist, der lernt das Fiakerfahren leicht; aber umgekehrt nicht!«

Lebold nickte.

»Mein Herr Vater ist auch streng dahinter her, daß nicht zu viel ausgegeben wird,« sagte er.

»Aber ich bitte, Fräulein Wetti,« jagte der junge rote Igel; »wenn Pomona mir ihr Füllhorn hinhält und mir Früchte anbietet – warum soll ich ihr denn einen Korb geben?«

»Damit sie die Früchte hineintun kann,« sagte Wettl; »denn in einem Körbel tragt sie's viel leichter als in einem Füllhorn.«

»Schlagfertig! Höchst schlagfertig!« rief der Woitech-Pepi und lachte entzückt.

»Geh, du hast dich schon oft an diesen Früchten überessen!« rief die Woitech-Marie in dem krittelnden Ton, der zwischen den beiden Geschwistern üblich war.

»Ich seh' auch nicht ein, warum man sich was abgehn lassen sollt',« sagte der kleine Blasengel; »ich tu' meine Arbeit, hernach aber will ich mich unterhalten.«

Er war in der Fabrik seines Vaters tätig, der sein Geschäft im Haus »Zum Erzengel Michael« in der Neustiftgasse betrieb. Und da sie beide, Vater und Sohn, Wendelin Hirnschal hießen, so nannte man auf dem Schottenfeld, um sie von einander zu unterscheiden, den Vater den alten Erzengel und den Sohn, der für sein Alter auffallend beleibt war, den kleinen Blasengel.

»Und wenn mein Herr Vater geizig wär',« sagte Wettl, in der es noch immer kochte, »so tät' er nicht jedes Jahr zu Weihnachten die Armen im langen Kellerhaus so reich beschenken. Jeder Pfründner und jede Pfründnerin kriegen ein Paar warme Winterstrümpf' und ein Paar warme Fäustling' aus Küniglhaar und außerdem jeder Mann extra eine warme Tuchkappe mit Ohrlapperln und jedes Weib eine gestrickte Winterhaube. Und bei den Gugelhupfen, die ich für sie backen tu', darf ich die Mandeln und Zibeben nicht anschauen. Und wenn jeder Fabrikant auf dem Schottenfeld neulich, wie für die Landwehr gezeichnet worden ist, so viel aufgeschrieben hätt' wie mein Herr Vater, so wär' noch viel mehr zusammengekommen, als eh' zusammengekommen ist. Also, daß mein Herr Vater geizig wär', das braucht er sich nicht nachsagen zu lassen. Bestimmte Grundsätz' hat er schon, das ist wahr, das ist aber auch ganz in der Ordnung. Denn da ist noch etwas, was ich ihn schon oft hab' sagen hören. Ein Wohlhabender, der sich nicht selbst einschränkt, dem geht es bald nicht besser als einem Armen. Denn wenn man gewohnt ist, sich alles zu vergönnen, so möcht' man immer noch mehr. Und alles, was es gibt, kann man doch nicht haben, dazu ist das größte Vermögen zu klein. So stoßt man bald an die Mauer, über die man nicht mehr hinauskann, und sehnt sich jetzt nach dem Überflüssigen, das einem versagt ist, mit derselben Herzenspein wie der Arme nach dem Notwendigen. Das sind dann armselige Reiche, sagt der Herr Vater, und die gehören mit den Armen in ein Gespann. Denn alle zwei haben sie weniger, als sie haben möchten. Und damit hat der Herr Vater wiederum recht!« schloß sie bestimmt und lehnte sich nachdrücklich in ihr Kanapee zurück.

»Hörst du es?« rief der junge Pimper seiner Frau zu. »Das sind sehr gesunde Ansichten, die die Wettl da vertritt. Die kannst du dir hinters Ohr schreiben, Fany.«

»Ach bitte, Thomas, seien wir keine Pharisäer!« sagte sie. »Ist zum Beispiel dein Pirutsch so notwendig, daß du es gar nicht entbehren könntest? Aber es macht dir eben Vergnügen ein Pirutsch zu besitzen, und darum hältst du es. Und ich sehe auch wirklich nicht ein, warum du nicht solltest.«

»Einfacher wär' es jedenfalls,« sagte Thomas, »wenn ich gar nicht den Wunsch hätte ein Pirutsch zu besitzen, übrigens benütze ich das Pferd zugleich als Reitpferd, und so erspare ich noch eines.«

»Ja, weil die Eltern ohnedies den Wagen haben, den wir auch benützen können,« sagte Fany; »sonst würdest du sicher mit einem Pferd nicht auslangen.«

»Aber ich bitte,« sagte der kleine Blasengel, »wer's hat, der kann's tun, zu was hat man's denn nachher, wenn man sich nichts vergönnt? Diese Ansichten, die die Fräul'n Wetti da vorbringt, sind Unsinn!«

»Sei so gut, Wendelin, und drück dich ein bissel manierlicher aus!« ermahnte ihn der Woitech-Pepi.

»No ja, weil's wahr ist,« sagte er in dem ihm eigenen raunzenden Ton. »Wenn einer das Geld dazu hat, warum soll er sich denn kein Pirutsch halten?«

Wettl war etwas betreten durch die Wendung, die ihre Worte dem Gespräch gegeben hatten.

»Du mußt's nicht so nehmen, Fany,« sagte sie, »als ob ich dir oder deinem Mann irgend etwas nicht gönnen wollt', das euch Freud' macht. Nur weil du gemeint hast, mein Herr Vater sei ein bissel zu karg, so hab' ich es halt erklären wollen, wie er sich 's denkt. Aber der Reiche wird sich deswegen schon mehr vergönnen dürfen als der Wohlhabende, und die Hauptsach' wird immer sein, daß jedes Jahr um ein gutes Stückel weniger ausgegeben wird, als eingeht, weil ja doch immer alles teurer wird, und weil man schon von selbst, auch wenn man dagegen ankämpft, immer mehr Wünsche kriegt, und weil ja auch einmal ein Notfall eintreten kann. Darum sagt mein Herr Vater, in einer guten Wirtschaft muß es sein wie beim Kettenspulen. Der Faden muß angesammelt werden, daß die Spule immer dicker und dicker wird, damit man später einen Vorrat in der Hand hat, mit dem man schweifen kann. Dagegen in einer schlechten Wirtschaft, da geht es zu wie bei einer Schußspulmaschine, wo nichts weiter geschieht, als daß die Fäden von ein paar großen Spulen auf viele kleine abgewickelt werden. Jetzt – dagegen,« sagte sie lächelnd, »wird schon niemand etwas einzuwenden haben.«

Die gemäßigte Fassung, die Wettl schließlich ihren Ansichten gegeben hatte, erstickte jeden Widerspruch. Gegen den wirtschaftlichen Grundsatz, daß mehr eingehen müsse, als ausgegeben wird, ließ sich wirklich nichts mehr einwenden, darüber waren alle einig.

»Höchstens der Staat darf mehr ausgeben, als er einnimmt,« sagte Thomas lachend; »denn der kann sich damit helfen, daß er immer wieder neue Bankozetteln drucken läßt. Und das Notwendigste, was er zum Leben benötigt, braucht er nicht einmal zu kaufen: die Soldaten. Die nimmt er sich einfach. Nicht wahr, Sie sind gewiß nicht gefragt worden, ob Sie dazu gehen wollen oder nicht?« fragte er Melcher.

Melcher verstand sich gut mit dem jungen Pimper, mit dem er schon vorhin eine längere Unterhaltung geführt hatte. Er gefiel ihm über Erwarten gut, wegen seines einfachen und ruhigen Wesens. Von untersetzter Gestalt und ausgesprochen häßlich, hatte er doch einen gescheiten Kopf und machte einen verläßlichen und besonnenen Eindruck.

Fany war ernst und nachdenklich geworden. Auch sie zweifelte nicht an der Richtigkeit jenes wirtschaftlichen Grundsatzes, der schließlich allgemeine Anerkennung gefunden hatte. Aber vielleicht war ihr Gewissen nicht ganz rein; so unbedingt streng mochte sie sich nicht immer danach gehalten haben. Doch nahm sie sich jetzt vor, es in Zukunft zu tun, und so waren Wettls Worte vielleicht auch für sie nicht ganz in den Wind gesprochen.

Entschlossen abspringend ging Fany auf einen anderen Gesprächsstoff über.

»Und hat denn keiner von euch etwas von unserm Schackerl gehört?«

Da waren sie nun endlich bei dem Gegenstand angelangt, bei dem es keine trennenden Gegensätze und keine abweichenden Ansichten gab: bei ihren Jugenderinnerungen. Jedes hatte irgend eine kleine Begebenheit besonders im Gedächtnis behalten und gab sie jetzt zum besten, während die andern mit einem beseligten Lächeln lauschten und sich dann meistens auch darauf zu besinnen wußten: ja, so ist es gewesen, ja, so haben wir es gemacht, und so haben wir es getrieben!

Aber was aus Schackerl geworden war, wußte niemand. Man hatte nichts mehr von ihm gehört seit jenem Tage, wo er aus der Wohnung seines Vaters spurlos verschwunden war.

»Es ist recht garstig von ihm,« sagte Wettl. »daß er den alten Tollrian so im Ungewissen über sich läßt.«

»Aber man kann ja gar nicht wissen, ob er überhaupt am Leben ist?« meinte die Reckenschuß-Mali.

»O, der Schackerl geht nicht unter,« rief Fany; »am Leben ist er sicher. Der hat sich schon durchgeschlagen, darauf möcht' ich schwören. Vielleicht taucht er auf einmal als ein reicher Engländer auf, oder als ein amerikanischer Goldgräber, oder so etwas. Bei dem muß man auf alles gefaßt sein.«

»Es ist ihm halt zu fad' geworden bei seinem Vater,« meinte der kleine Blasengel; »ich kann das begreifen. Immer in der Zieglergasse und immer in der Zieglergasse – das hat ihn halt nicht mehr g'freut.«

»Sie können das begreifen, Herr Wendelin?« fragte etwas vorlaut der junge Franzl aus dem Schrollhaus.

Man sagte dem Blasengel nach, daß er zur besseren Ausbildung in seinem Gewerbe nach Lyon hätte reisen sollen; daß er aber schon in Hütteldorf wieder umgekehrt sei, weil er den Laurenziturm nicht mehr sah.

»Es sind halt nicht alle Menschen gleich,« sagte er. »Ich hätt' keine Freud' am Abenteurerleben, ich find', es gibt in Wien Abenteuer genug, was brauch' ich denn deswegen fortzugehen? Aber der Schackerl war eben anders, der hat geglaubt, er muß durchaus etwas von der Welt sehen. No, und die ewige Philosophie von seinem Herrn Vater ist ihm halt endlich zuwider geworden. Ich begreif' das ganz gut.«

»Es hat eben jeder seine Ideale,« bemerkte der Woitech-Pepi.

Seine schnöde Schwester verriet ihn.

»Dem Pepi seine Ideale sind schöne Westen. Davon besitzt er schon eine ganze Naturgeschichte, solche aus dem Pflanzen-, dem Tier- und dem Mineralreich. Jetzt hat er eine neue im orientalischen Geschmack bekommen, die heißt Ispahienne en laine, mit grünen, gelben, roten und weißen Streifen, und in den Streifen sind wieder verschiedenartige Blümerln, die ganze Botanik von Persien. Und eine hat er von gedrucktem Ribs mit Tüpferln drauf, die wie Erdflöhe aussehen, und ein Floherl schaut immer nach rechts und das andere Floherl wieder nach links – da ist er stolz darauf! Und eine ist wie ein seltener Quarz, rosenrot mit grauen Streifen, die wird über einer weißen Unterweste getragen, das ist besonders fein. No, die, die er anhat, die brauch' ich nicht zu beschreiben, die sieht man ohnedies, das ist die allerschönste.«

»Ich sag' es immer,« rief Franzl, »eine Strafe Gottes ist es, wenn man eine Schwester hat.«

»No, du brauchst dich über deine Schwestern wirklich nicht beklagen,« verwies ihm Lebold seine Bemerkung; »die hätten eher Ursach' sich über dich zu beschweren!«

Um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, sagte der Woitech-Pepi zu Lebold:

»Du bist auch so ein Abenteurerblut, das hätt' ich gar nicht geglaubt von dir! Geradeso wie der Schackerl will er uns davonlaufen!«

»Ja, wieso denn? Davon hör' ich zum ersten Mal!« fragte Fany erstaunt.

»Gott Mars hat ihn betört,« erklärte der junge rote Igel. »Er läßt die Penaten, Merkur und Venus im Stich und gürtet sich ein Schwert um.«

»Haben Sie sich wirklich entschlossen zur Landwehr zu gehen?« fragte Thomas.

»Wenn es zum Krieg kommt, tu' ich mit,« sagte Lebold.

Alles staunte und wunderte sich.

»Ein sonderbarer Geschmack!« meinte der Blasengel.

Melcher faßte Lebold an der Schulter.

»Wir zwei miteinander werden es dem Napoleon schon zeigen!«

»Hast du schon eine Uniform?« fragte der Blasengel.

»Nein, aber angefriemt ist sie schon.«

»Wie sieht sie denn aus?« fragte der Woitech-Pepi sehr gefesselt.

»Sehr einfach,« sagte Franzi. »Ein Rock von grauem Tuch mit roten Litzen am Kragen und roten Vorstößen an den Aufschlägen. Ein aufgekrempter Hut mit Messingschild, worauf die Nummer des Bataillons steht. Dazu eine Muskete, eine Patronentasche an einer ungebleichten Gurte und eine Bajonett-Überschwung-Gurte. Fertig! Ich find', sie hätten's schon ein bissel schöner ausdenken können.«

»Ja, das find' ich auch,« meinte der junge rote Igel.

»Für den Pepi ist das nichts,« rief die Woitech-Marie. »Wenn der Rock zugeknöpft ist, sieht man ja nicht einmal die Weste!«

»Mein Herr Vater ist Hauptmann bei der Bürgermiliz,« sagte die Reckenschuß-Mali; »die haben eine viel schönere Uniform.«

Lebold hatte insgeheim Wettl beobachtet. Sie war blaß geworden und blieb still.

»Also sag mir Lebold,« forschte Fany; »da willst du also wirklich auf die andern schießen und die andern wieder auf dich schießen lassen?«

Lebold lachte.

»Na ja, wenn ich in eine Schlacht komm', natürlich! Wie denn sonst?«

»Aber wenn sie dich nun tot schießen, oder zum Krüppel schießen?«

»Es ist halt einmal nicht anders,« sagte Lebold. »Sollen wir uns von dem Napoleon alles gefallen lassen?«

»Weißt du,« raunzte der Blasengel, »mein Fall wär' das nicht. Da als Gemeiner mittun und sich schinden lassen und dann am End' noch vielleicht angeschossen werden – da tät' ich dafür danken!«

»Zum Vergnügen tu' ich es freilich nicht,« sagte Lebold. »Auch kann es jeder halten, wie er will. Aber ich – ich find' halt, daß wir jetzt, wo alles auf dem Spiel steht, unsern Kaiser und unser Vaterland nicht im Stich lassen dürfen.«

»Da haben Sie recht, Lebold!« rief Wettl. »Wenn ich ein Mann wär', ich tät' auch mit!«

Über Lebolds Gesicht leuchtete es.

»Wirklich? Finden Sie, Wettl, daß ich recht tue?«

»Sie tun, was jeder junge Mann jetzt tun sollte!« sagte Wettl bleich und mit zitternder Stimme.

»Aber ich bitt' Sie, Fräul'n Wettl,« wehrte sich der Blasengel, »zu was sind denn nachher die Soldaten da? Der Melcher wird es schon allein richten – warum sollen denn wir auch noch unsere Haut zu Markt tragen?«

»Das ist gar nicht zu vergleichen!« rief Wettl. »Die Soldaten, die tun's, weil sie müssen! Wenn aber einer mittut aus Liebe für Kaiser und Vaterland, der wird sich schon ganz anders halten, vor dem Feind!«

»Was meinst du denn, Wettl,« sagte Melcher; »ich werd' mich schon auch tapfer halten!«

»Von dir glaub' ich es, aber du wirst noch mit einer ganz anderen Freud' dabei sein, wenn du weißt, es tun auch viele mit, die es nicht notwendig gehabt hätten, und die auch hätten können hinter dem Ofen sitzen bleiben. Dann merken auch die andern erst recht, was für eine gute Sach' es ist, für die sie kämpfen, und jeder spürt, daß er jetzt nicht mehr an sich selber denken darf. – So kommt,« sagte sie, »ein ganz anderer Geist in den Krieg, stell' ich mir vor. Tausendmal recht haben Sie, Lebold! Kämpfen Sie mit und zeigen Sie den Franzosen, daß es in Österreich auch Männer gibt!«

»In dir steckt ja eine kleine Jungfrau von Orleans!« rief Fany lachend.

Die Gemüter waren jetzt aufgerührt, und die Meinungen prallten aneinander. Es wurde über nichts mehr gesprochen als über den bevorstehenden Krieg und über die Landwehr und über Lebolds Entschluß, sich zum Freibataillon werben zu lassen. Der kleine Blasengel blieb bei seiner Meinung, daß es ein sonderbarer Geschmack sei, während der Woitech-Pepi mehr hinter dem Berg hielt und so tat, als ob er, durch Lebolds Beispiel aufgemuntert, sich vielleicht auch noch dazu entschließen würde. Fany schüttelte nur immer den Kopf; das Abenteuerliche des Krieges gefiel ihr, aber der Schmutz und Staub, den er für den gemeinen Mann mit sich brachte, blieb ihr eine widerwärtige Vorstellung. Wettl hingegen fuhr fort, Lebolds vaterländischen Opfermut zu verteidigen, und wurde dabei von Melcher lebhaft unterstützt.

Der junge Pimper verhielt sich mehr zuhörend und schweigsam. Er beneidete den Lebold im stillen, am liebsten hätte er auch mitgetan, nur um dem alltäglichen Dasein zu entrinnen, das ihn bedrücke. Er fand keine rechte Freude am Geschäft, das nur einen langsamen und verhältnismäßig unbeträchtlichen Gewinn abwarf; aber das Geldgebaren seines Vaters, das mit dem »Negozieren« verbunden war, gefiel ihm ebensowenig und machte ihm Sorgen. Auch der große Aufwand, in den das ganze Haus allmählich und fast unwillkürlich hineingeraten war, und der sich trotz aller guten Vornahmen nicht mehr eindämmen ließ, bereitete ihm oft schlaflose Nächte. Dazu kam, daß er Fany leidenschaftlich liebte, aber nie die volle Gewißheit zu erlangen vermochte, ob sie diese Liebe echt und rückhaltlos erwiderte. Vorzuwerfen hatte er ihr nichts, nicht das geringste. Aber es blieb immer etwas wie eine unsichtbare Wand zwischen ihnen. Es waren sogar Augenblicke, in denen er argwöhnte, daß sie ihn nur seines Reichtums wegen genommen haben könnte. So gab es manches, das ihn quälte und nicht recht froh werden ließ. Wie gern hätte er dem allen ein Ende gemacht und wäre auch mit in den Krieg gezogen! Wie eine Erlösung hätte er es empfunden. Aber es war zu schwierig, sich loszureißen. Nein, es ging durchaus nicht an, hundert Widerstände hätte er überwinden müssen. Er konnte das Geschäft nicht im Stich lassen, seine Frau und seine Eltern hätten ihm Schwierigkeiten bereitet, auf seine Gewohnheiten und auf viele kleine Annehmlichkeiten, die ihm das Leben wert machten, hätte er verzichten müssen. Es schauderte ihn davor, wie ein gewöhnlicher Mann behandelt zu werden und vielleicht im Freien zu kampieren. Er konnte sich nicht aufraffen und die Kraft nicht finden, etwas Ungewöhnliches und Erwärmendes zu unternehmen, das Opfer forderte. Er konnte einfach nicht, so sehr er auch hin und her sann, es ging nicht, es paßte nicht für ihn, es war ihm unmöglich, so gern er es getan hätte. ...

Darum war es, daß er den Lebold im stillen beneidete.


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