Emil Ertl
Die Leute vom Blauen Guguckshaus
Emil Ertl

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Auf der Stirn des alten Schroll zog sich ein Gewitter zusammen, als er hörte, daß Lebold wirklich ins Freibataillon eingereiht sei und schon als Landwehrmann an der Truppenschau teilgenommen habe. Bis zum letzten Augenblick hatte er die Überzeugung in sich genährt, sein Sohn würde es nicht wagen, etwas gegen den Willen des Vaters zu unternehmen. So freisinnig er über das Leben des Staates dachte, in der Familie huldigte er streng patriarchalischen Anschauungen, und die väterliche Gewalt galt ihm für nahezu unumschränkt. Es wäre ihm nicht eingefallen, einen Widerspruch darin zu erblicken. Der Staat erschien ihm als eine große Werkstatt, und die Bürger, das waren die Weber, die mußte man mit einer gewissen Freiheit bei ihrer Arbeit lassen, wenn etwas Ordentliches zustande kommen sollte, daß sie mit Vernunft und Liebe webten. In der Familie aber, da mußte es wie auf der Weiserstange einer Spulmaschine einen Weiser geben, der die Fäden streng gleichmäßig auf die Spulen leitete und keinem Faden gestattete, sich nach seinem eigenen Gutdünken abzuwickeln. Denn akkurat gespultes Garn war die Voraussetzung einer sorgfältig geschweiften Kette und einer guten Webe. Darum müsse auch in der Familie, meinte er, unbedingter Gehorsam herrschen und der Wille des Vaters das allein Maßgebende und Entscheidende bleiben; denn eine strenge Zucht im Hause sei die Grundlage aller Ordnung und alles späteren Gedeihens. Und daß die Kinder, so lange sie im Hause des Vaters leben, keine eigene Meinung haben dürfen, das kam ihm so selbstverständlich vor, daß er es für überflüssig gehalten hätte, ein Wort darüber zu verlieren.

Mit einer Art Staunen sah er sich jetzt einer vollzogenen Tatsache gegenüber, deren Eintreten er für unmöglich gehalten hatte. Und daß die Mutter die Partei Lebolds nahm, das machte ihn völlig irre. Solange er mit seiner Frau verheiratet war, hatte sie ihm nie in einer Sache von Bedeutung widersprochen. Nicht so sehr aus Unterwürfigkeit, als vielmehr aus natürlicher Übereinstimmung und wohl auch deshalb, weil sie den Verstand des Herzens besaß, den jähen und herrischen Mann, wenn er einmal fehlzugehen drohte, leise zum Guten zu lenken, ohne daß er es merkte, und ihm das Richtige nach und nach einzuflößen, bis er es schließlich für seine eigene und ursprüngliche Überzeugung hielt. Dabei hatte niemand mehr Verständnis für seine Art und mehr weitblickende Nachsicht mit seinen Schwächen als sie. Das fühlte er auch, und zutiefst in seiner verschlossenen Natur war ein Altar aufgerichtet, über dem das Bild seiner Gattin hing, das er im stillen verehrte, ohne je viel gute oder gar süße und weiche Worte zu sagen.

Und nun trat zum ersten Male ein ernster Zwiespalt zwischen ihm und seiner Gattin hervor, den er umsoweniger begriff, als er wußte, daß die Mütter seit unvordenklichen Zeiten die Feindinnen der Kriege gewesen sind. Das beunruhigte ihn, und er zürnte. Aber auch die Mutter war bekümmert und in ihrem Gemüte bedrückt. Zum ersten Male während ihrer Ehe konnte sie ihren Gatten in einer Angelegenheit von entscheidender Wichtigkeit nicht in ihr volles Vertrauen ziehen. Denn sie achtete die schamvolle Verschlossenheit, die ihren Sohn so lange verhindert hatte, die Kämpfe seines Innern zu enthüllen, und fühlte, daß er das, was er der Mutter anvertraut hatte, vermutlich nicht auch dem Vater preisgegeben wissen wollte. Und darum hielt sie sich nicht für berechtigt, die seelischen Leiden, die Lebold in seinem Entschlusse bestärkten, dem Vater zu offenbaren, und sah sich gezwungen den Schein auf sich zu nehmen, als hätte sie willkürlich und ohne zulängliche Gründe ihre Meinung bezüglich Lebolds kriegerischer Absichten geändert.

Aber andeutungsweise glaubte sie ihren Mann doch darauf aufmerksam machen zu müssen, daß es nach ihrem Dafürhalten nicht angebracht wäre, hier mit Blitz und Donner dreinzufahren. Denn man könne nicht wissen, meinte sie, was in einer so jungen Seele vorgehe, und schließlich sei doch das begeisterte Eintreten für Kaiser und Vaterland eine schöne Sache, und ein junger Mensch, der sich für nichts erwärmen könne, eine traurige Figur. Der Schroll änderte deswegen seine Überzeugung nicht. Aber seiner Frau zulieb tat er etwas, was er noch nie getan hatte. Er bändigte seinen Unwillen und beschloß, sich über den bereits offenkundigen Ungehorsam seines Sohnes hinwegzusetzen und ernst und ruhig mit ihm zu sprechen und ihm alles vorzustellen und deutlich zu machen. Und wenn Lebold Vernunft annähme und seinen Entschluß rückgängig mache, so würde er ihm verzeihen, bezüglich des bereits Geschehenen ein Auge zudrücken und den Reumütigen wieder als seinen Sohn betrachten, genau so, als ob er sich nie gegen den väterlichen Willen aufgelehnt hätte.

Also trat er denn eines Nachmittags in Lebolds Zimmer und setzte sich und begann davon zu sprechen, wie er von der Truppenschau vernommen habe, und wie er zuerst gar nicht hätte daran glauben wollen, daß Lebold sich wirklich gegen den ausgesprochenen Willen des Vaters habe einreihen lassen. Da er es nun aber endlich glauben müsse, so wolle er einmal klar mit ihm über die Sache reden. Und dann fragte er, ob es ihm denn wirklich ernst damit sei, und ob er bedacht hätte, was aus seinem ganzen Leben werden würde, wenn sie ihn zum Krüppel schössen. Und ob er denn nicht wisse, daß ein vernünftiger Mensch an seine Zukunft denken müsse und sie nicht leichtsinnig und unnötigerweise aufs Spiel setzen dürfe.

Lebold war dankbar und gerührt, daß sein Vater ihm Gelegenheit geben wollte, sich zu rechtfertigen. Es war noch nicht vorgekommen, solang er sich erinnerte, daß der Vater ihn in seiner Stube aufgesucht und sich gar bei ihm niedergesetzt hatte. So als ob er einen hohen Besuch empfangen hätte, empfand er es und blieb schüchtern stehen, bis der Schroll ihn niedersitzen hieß.

»Also, wir wollen einmal ganz ruhig und in Freundschaft miteinander reden,« sagte der Vater. »Was hast du mir auf das, was ich dir gesagt habe, eigentlich zu antworten?«

»Schauen Sie, Herr Vater,« sagte Lebold bescheiden: »ich mein' halt, es gehört sich so, daß man in den Tagen der Not nicht nur an sich selbst denkt.«

»Für einen Bandmacher,« sagte der Schroll, »gehört sich gar nichts, als an der Liegbank stehen und aufpassen, daß kein Faden reißt.«

»Aber wo es auf jeden Einzelnen ankommt, kann doch ein gesunder junger Mensch wie ich, sein Volk, seinen Kaiser und sein Vaterland nicht im Stich lassen!«

»Nein, das soll niemand,« sagte der Vater. »Sein Volk, seinen Kaiser und sein Vaterland soll kein wackerer Mensch im Stich lassen. Es kommt nur darauf an, wie man es meint. Der Offizier, der sich weigern wollte, gegen den Feind zu ziehen, der läßt seine Fahne im Stich. Und das Gesindel, das sie zu den Soldaten stecken, weil es zu nichts anderem gut ist, schießt man nieder, wenn es desertiert. Aber dem Bürger sein Posten ist wo anders. Sein Waffendienst ist die Arbeit und seine Kasern' die Werkstatt. Dorthin gehört er, und dort hat er auszuharren, wenn er seine Pflicht gegen Volk, Kaiser und Vaterland richtig begreift.«

»Bittschön,« sagte Lebold, »wenn ich dem Herrn Vater in allem kindlichen Gehorsam widersprechen dürft' – aber der Krieg ist halt doch etwas anderes als der Friede und hat wieder seine eigenen Regeln. Sie wissen es selbst, Herr Vater, daß ich immer gern bei der Arbeit gewesen bin. Und wenn der Sieg über die Franzosen erfochten ist, so will ich mit tausend Freuden in die Werkstatt zurückkehren. Jetzt aber hab' ich ein Gefühl in mir, das mich hinaustreibt, und wenn es mein Leben kostet, und das mir sagt, es muß so sein, und es ist auch recht, was ich tu'.«

Der Schroll fuhr sich mit der Hand durch das silberweiße Haar.

»Also,« sagte er, schon nicht mehr so ruhig wie früher, »wenn dir dieses Gefühl mehr wert ist als der Rat deines Vaters, so tu, was du magst. Aber das eine sag' ich dir: Für dein Zurückkommen bedank' ich mich schön. Du wirst gar keine Freud' mehr haben zu einer bürgerlichen Arbeit, wenn du dich einmal daran gewöhnt hast, in Feldlagern und Kasernen herumzuliegen und deine freie Zeit mit Saufen und Schürzenjagen zuzubringen. Und ich kann auch keinen brauchen, der kommt und geht, wann es ihm paßt, und mir davonläuft, gerade zu einer Zeit, wo die Arbeitskräfte rar sind, und wo ich alle Hände voll im Geschäft zu tun hab'. Bei uns, ja, da kommt es jetzt auf jeden Mann an, aber nicht dort, wo sich eh' genug Nichtstuer darum reißen, mit der Feldmusik zu marschieren und als Vaterlandsretter gefeiert zu werden, noch bevor sie ein Pulver gerochen haben. Und unsere Arbeit ist auch bedeutend wichtiger als das ganze Paradehalten und Bum-bum Tra-ra! Denn wenn wir nicht schauen, daß wir was verdienen, so können wir keine Steuer zahlen, und wenn wir Bürger nicht mehr arbeiten, so hört sich das Kriegführen überhaupt auf, weil kein Geld mehr da ist. Dann macht der Napoleon erst recht, was er mag, und steckt uns alle miteinander in sein Gilettaschel. Also, darum ist es ein Unsinn, daß der Bürger auch noch mit dem Schießprügel herumrennen soll, als ob er nichts Gescheiteres zu tun hätte.«

Jetzt fuhr sich auch Lebold mit den fünf Fingern durchs Haar. Sie hatten beide, Vater und Sohn, genau dieselbe gewohnheitsmäßige Bewegung, wenn sie in Hitze gerieten. Aber Lebold bezwang sich und sagte äußerlich ruhig:

»Ich weiß, daß es mit der Arbeit seine Not hat, und es tut mir weh, daß ich meine Bandmühl' soll stehen lassen. Sie wird glauben, daß ich die ganze Woche blauen Montag mach', und daß ich ein fauler Strick bin. Aber wenn ich wieder heimkomm', dann will ich für zwei arbeiten, so lang, bis ich alles wieder eingebracht hab', daß es gerade so ist, als wär' ich nie fortgewesen. Und dann wird niemand mehr glauben können, daß ich aus Scheu vor der Arbeit oder aus Freud' an einem ungebundenen Leben mit dem Freibataillon gegangen bin. Jetzt aber freut mich wirklich die gewöhnliche Arbeit nicht mehr, und wenn ich am Webstuhl stehen müßt', während draußen die Kanonen donnern und vielleicht entschieden wird, ob es noch ein Österreich geben soll oder nicht; und wenn dann der Napoleon vielleicht wieder in unserm Kaiserschloß zu Schönbrunn säß' und seine übermütigen Regimenter wieder wie vor drei Jahren bei der Mariahilferlinie hereinmarschieren täten – da müßt' ich mich schon vor mir selber verkriechen und mir wie ein feiger Taddädl vorkommen! – Dabei fällt es mir nicht im Schlaf ein, daß ich dem Herrn Vater widersprechen tät', als ob die bürgerliche Arbeit nicht wichtig wär', die doch das meiste Geld zum Kriegführen schafft. Aber jetzt ist es wie in einem Haus, das brennt. Da muß man halt löschen, und erst wenn gelöscht ist, kann man wieder an die ruhige Arbeit denken. Und wenn ich jetzt mithelfen will, den Brand zu löschen – das kann ich nicht glauben, daß der Herr Vater mir das so nachtragen wird – wo doch die Nation ruft! – und daß er mich nachher wirklich nicht wieder in die Arbeit nehmen will!«

Der Schroll lehnte sich über den Tisch und blickte seinen Sohn forschend an.

»Was ist denn das eigentlich für eine Nation, die dich ruft, he? In Frankreich, ja, da gibt es eine Nation, und das sind die Franzosen. Aber von einer österreichischen Nation hab' ich noch nichts gehört.«

»Was für eine Nation es ist, die mich ruft? Und da kann der Herr Vater noch fragen? So viel ich weiß, bin ich ein Deutscher und rede deutsch und stamme von deutschen Voreltern. Und die Deutschen sind ebensogut eine Nation wie die Franzosen, wenn sie auch unter verschiedenen Fürsten leben und nicht so viel Wind mit ihrem Volkstum machen. Unser Herr Kaiser selbst ist noch in Frankfurt gekrönt worden, und wenn er auch seit ein paar Jahren aufgehört hat, römisch-deutscher Kaiser zu sein, so haben deswegen doch wir nicht aufgehört, Deutsche zu sein, die unter seinem Szepter in Österreich leben und auch da zu Hause sind. Und der Herr Kaiser und seine Regierung lassen uns auch beständig daran erinnern, daß wir Deutsche sind, und je näher die Franzosengefahr heranrückt, umso beweglicher rufen sie das Gefühl in uns an, das halt doch einen jeden zwingt, ob er mag oder nicht, sein Volk gern zu haben.«

»Gut!« sagte der Schroll befriedigt. »In dem Punkt verstehen wir uns also. Wir sind Deutsche und werden es bleiben. Aber nicht dadurch werden wir deutsche Bürger bleiben, daß wir uns zum Kanonenfutter hergeben, sondern durch unsern deutschen Fleiß, durch unsere Arbeit und durch unsere deutsche Kultur. Denn es können schwere Zeiten für uns kommen, in denen die anderen Stände, die im Staate zählen, uns verlassen und wir um unser Volkstum ringen müssen. Was soll dann aus uns werden, wenn wir unser Haus nicht rechtzeitig bestellt haben? Seit der Rheinische Fürstenbund, der mit dem Bonaparte geht, das alte deutsche Reich gesprengt hat und wir das neue Kaisertum haben, seither kenn' ich mich nicht mehr recht aus in der Welt. Aber so viel seh' ich, daß unsere Politik alle paar Monat' ein anderes Gesicht macht, und daß sie uns heut freundliche und morgen wieder grantige Nasenlöcher zeigt, ganz wie sie mag. Und darum, mein' ich, müssen wir auf unserer Hut sein. Heute wird das Volksgefühl in uns aufgerufen, aber laß gut sein, das kann sich alles wieder legen, wenn der Krieg vorüber ist. Ich will nicht sagen, daß List darin ist; aber Willkür ist darin, und was ein Einzelner heute schafft, kann morgen ein Einzelner wieder zunichte machen. Jetzt findet der Stadion: einheizen ist gut, wir könnten ein kleines Feuerl brauchen. Nachher wird er oder ein anderer, der nach ihm kommt, vielleicht finden: unterducken ist halt doch noch besser.«

»Gerade darum,« rief Lebold, »müssen wir Deutsche in Österreich zeigen, daß wir unser Vaterland gern haben, und daß wir rechte Österreicher sind, die für Kaiser und Reich durch Wasser und Feuer gehen.«

»Nein,« sagte der Schroll, »gerade darum müssen wir zeigen, daß wir weiter blicken, als unsere Nase reicht. Der Napoleon, der ist keine wirkliche Gefahr für Österreich. Freilich gibt er alle paar Jahr' eine neue Landkarte von Europa heraus; aber glaubst du denn, daß diese Landkarten, die er mit seiner Degenspitze in den Sand zeichnet, Bestand haben können? Über Nacht wird der Wind sie verwehen, denn was Dauer haben soll, muß aus einem sittlichen Keim und aus einer tieferen Überzeugung hervorwachsen. Seine Triebkraft aber ist nichts als persönlicher Ehrgeiz und Geringschätzung der Menschennatur, und die Selbstsucht, die ihn heute emporführt, wird ihn morgen stürzen. Darum sollen die gegen ihn kämpfen, die Soldaten von Beruf sind, oder die nichts besseres zu tun haben. Wir Bürger aber müssen uns aufsparen für das, was nachher kommen wird. Dann erst fängt die wahre Gefahr für unser Vaterland an, dem der Napoleon gegen seinen Willen in mancher Hinsicht sogar nützlich geworden ist. Denn es ist ein Glück für unser Vaterland gewesen, daß man ihm mit geistigem Stillstand nicht Herr werden kann, und daß man ein bissel gescheit sein muß, um gegen ihn, den letzten Sohn der Göttin der Vernunft, wenigstens mit einiger Aussicht auf Erfolg zu kämpfen!«

Sie fuhren sich jetzt wiederholt ein jeder mit der Hand durch die Haare, der Vater durch seine weißen und der Sohn durch seine schwarzen.

»Der Herr Vater bringt es ja fast so heraus,« rief Lebold aufgebracht, »als ob wir dem Napoleon noch dankbar sein müßten! Sollen wir Bürger uns vielleicht darüber freuen, daß er unsern Kaiser und unser Vaterland bedroht und knebeln will?«

»So ist es nicht gemeint,« sagte der Schroll hitzig. »Aber unsere guten Kräfte sollen wir schonen und zusammenhalten! Der Bonaparte, der dreht sich schon selbst den Strick! Wenn er aber einmal abgetan ist, dann werden wir Bürger allein dafür zu sorgen haben, daß es in Österreich vorwärts geht. Denn der Adel und die Geistlichkeit, die Soldaten und die Bauern, die werden nicht dafür sorgen. Du kannst das alles heute noch nicht recht verstehen; aber wenn du als Bandmacher würdest freigesprochen sein, hab' ich mir vorgesetzt, dir einen Einblick aufzutun, wie es in Wahrheit in der Welt ausschaut und zugeht. Denn trotz aller Zensur und Rezensur hab' ich mir immer Bücher und Schriften zu verschaffen gewußt und in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, manches gelesen und auch viel nachgedacht über unser liebes, altes Österreich. Und da bin ich zu der Einsicht gekommen, daß die Zukunft dieses Reiches ein starkes deutsches Bürgertum braucht. Aus ihm hat es seit Hunderten von Jahren seine Kraft geschöpft, aus ihm wird es auch in Zukunft seine Kraft schöpfen müssen. Denn Freiheit und Fortschritt sind von unserm Herrgott dem Bürger zum Aufbewahren anvertraut, und in jedem Staatswesen gibt es zwei große Gewichter wie bei einer Bandmühl'. Das eine, das Seidengewicht, welches bewirkt, daß die Kette nicht zu geschwind abläuft, das ist der Adel, Militär-, Beamten- und Bauernstand zusammengenommen. Das andere aber, das Bandgewicht, das das fertig gewebte Band weiterschiebt und bewirkt, daß der Weber immer wieder so viel neue Kette vor sich hat, als er verweben kann, das ist der Bürgerstand. Du weißt es recht gut, daß das Bandgewicht immer ein wenig schwerer sein muß als das Seidengewicht, weil sonst der ganze Umlauf stocken tät' und die Arbeit nicht vom Fleck käm'. Und geradeso muß der Bürgerstand in einem Staate nach der Seite ziehen, nach der es vorwärts gehen soll, weil die anderen Stände ohnedies schon genug zurückhalten und bremsen. Aber das kann er nur, wenn er ein gehöriges Gewicht in sich hat, und damit mein' ich aber nicht den Geldsack. Damit mein' ich vor allem einen reinen und gesunden Kern.«

»Und wo könnte man den,« rief Lebold, »besser bewähren als im Krieg?«

»Im Frieden!« sagte der Schroll. »Und das ist auch ungleich schwieriger, weil man dabei viel länger ausdauern und auch mehr wissen und können muß als rechtsum und linksum. Es kann eine Zeit kommen für uns deutsche Bürger in Österreich, wo wir uns und unsere deutsche Art werden verteidigen müssen im friedlichen Ringen mit den andern Völkern, mit denen wir zusammenleben, und niemand wird uns dabei helfen können, ganz allein werden wir stehen. Und dann wird es nicht bloß darauf ankommen, wer am wohlhabendsten ist. Es wird auch nicht bloß darauf ankommen, wer am fleißigsten, einfachsten, sparsamsten und gescheitesten ist. Dasjenige Volk wird das stärkste sein, das das größte Kapital an freier sittlicher Überzeugung in sich hat. Da wird es nicht genug sein mit ein bissel Freisinnigtun. Denn wenn es nur dazu käm' und zu sonst nichts weiter, dann wär' der dritte Stand, der jetzt hinaufkommt, wert, von einem vierten verdrängt zu werden. Der innere Zug nach Freiheit und Selbständigkeit, der in der deutschen Natur liegt, der muß sich mit der wahren Lehre Christi verschmelzen, die auch, entgegen allem Formenwesen, einen jeden für sich innerlich stark und frei machen will. Wenn wir es so weit bringen, dann dürfen wir vielleicht hoffen, daß wir mitbauen werden am großen Dom der Zukunft.«

Er erhob sich, trat ans Fenster und lehnte die Stirn gegen die Scheibe. Es war schon dämmerig geworden, und nur schwach zeichneten sich am Novemberhimmel die Umrisse des Laurenziturmes ab, der in der Ferne aufragte, und von dem jetzt in langen, tiefen Schwingungen das Geläut der Abendglocke scholl. Auch Lebold war aufgestanden. Vater und Sohn schwiegen und lauschten, ihren Empfindungen hingegeben, dem Ton der Glocke. Erst als sie verstummt war, wendete der Schroll sich um. Es schien, als ob er jetzt eine Antwort, eine Entscheidung erwarte.

»Ich dank' Ihnen, Herr Vater,« sagte Lebold. »Ich glaub', ich versteh', was Sie meinen. Ich will an Ihre Worte denken, denn auch ein Soldat kann sie brauchen.«

»Dann verstehst du mich nicht,« sagte der Schroll mit verhaltenem Unwillen. »Was ich meine, das läßt sich nur durch Freiheit und Arbeit gewinnen; beim Gamaschenknopfdienst wird es sich nicht finden lassen. Aber wenn du durchaus auf deinen freien Willen und auf den Gebrauch deiner Vernunft verzichten und eine Livree tragen willst, so tu, was du nicht lassen kannst!«

»Es ist nicht mehr, wie es einst gewesen ist,« sagte Lebold, »daß der Soldat wie ein Landsknecht hinzieht und kaum recht weiß, für wen er sein Blut verströmt, außer daß er es für Sold tut. Denn der Kaiser und der Erzherzog Generalissimus haben erkannt, daß Haubenstöcke in Uniform nicht stark genug sind, den Thron und das Vaterland gegen den Ansturm der Feinde zu verteidigen, und darum haben sie sich erinnert, daß es auch bei uns ein treues und liebendes Volk gibt. Und das erste Mal, daß sie sich Mühe gegeben haben, es zu suchen, da sollen wir uns nicht finden lassen? Dann hätten die Franzosen ja recht, wenn sie uns über die Achsel ansehen und sagen: Ihr nennt unsern Empereur einen Gewaltherrscher, daneben sind wir aber doch Franzosen, während ihr nichts als Untertanen seid! Nein, Vater, jetzt wollen wir ihnen zeigen, daß wir nicht bloße Untertanen, daß wir Deutsche in Österreich und Männer sind!«

»Du beharrst also dabei,« fragte der Schroll mit einer vor Erregung zitternden Stimme, »dich gegen meinen Willen aufzulehnen?«

Nur einen kurzen Augenblick zögerte Lebold. Er war der Sohn seines Vaters. Was er sich einmal gründlich überlegt und vorgesetzt hatte, davon ging er nicht leicht wieder ab.

»Ja, Vater,« sagte er fest, »ich bleibe bei meinem Entschluß!«

»Dann haben wir zwei nichts mehr miteinander zu reden,« sagte der Schroll und verließ wuchtigen Schrittes das Zimmer.


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