Emil Ertl
Die Leute vom Blauen Guguckshaus
Emil Ertl

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Kaum war der Schnee weggeschmolzen, so fing es abermals zu schneien an und wollte gar nicht mehr aufhören. Es war die Zeit, wo einem ein warmer Ofen, in dem das Feuer singt, wie ein guter Freund vorkommt. An einem Abend saß der Guguck mit Wettl in der großen Wohnstube bei der Ölfunse und blätterte in einem Büchlein, das er in der Hand hielt.

»Sonderbar,« sagte er, »im Toleranz-Boten steht, daß man den Februar auch Taumond heißen kann, wenn man mag. Und jetzt haben wir doch schon Mitte Februar, und es schneit noch alleweil wie nicht gescheit!«

Er erwartete Antwort, erhielt aber keine, blickte auf und sah, daß Wettl leise weinte. Was sie denn habe, und ob ihr am End' etwas fehle? fragte er bestürzt.

»Geh, Wettl, sag mir's, was ist dir denn übers Leberl geloffen?«

Sie lächelte, und dabei stieß sie der Bock. Es sei fast aus Freude, daß sie ein bissel habe weinen müssen. Denn seit ein paar Tagen komme es ihr vor, der Großvater fange an sich zu erholen. Das sei aber nicht so ein unheimliches Aufflackern wie damals, um Neujahr herum. Sondern ganz langsam, mit jedem Tag, werde es ein klein wenig besser mit ihm. Schon seit ein, zwei Wochen bemerke sie es, habe sich aber nicht recht daran zu glauben getraut. Heut' aber hab' er auf einmal wieder gewebt! Wirklich gewebt, nicht nur so am Webstuhl gesessen! Und wie sie dazugekommen, hab' er sie vergnügt und zufrieden angeschaut, ganz wie gewöhnlich, und dann auch ein bißchen mit ihr geplaudert, beinah' so, als ob ihm nie etwas gefehlt hätt'.

Der Guguck freute sich mit ihr, und sie gingen an diesem Abend beruhigter zu Bett als seit langer Zeit. Wettl hatte sich nicht getäuscht: die Besserung im Befinden des Salzküfels war kein scheinhaftes Aufflackern, sondern wirklich ein allmähliches Zurückkehren seiner Sinne und Kräfte. Er begann wieder zu weben, freilich im Anfang nur ein paar halbe Stunden und dann ein paar Stunden im Tag, und dazwischen rastete er immer wieder und saß nur an seinem Webstuhl, ohne zu weben. Aber die Ruhepausen wurden mit jedem Tage kürzer, und die Arbeitszeiten verlängerten sich. Es war, als ob neue Frühlingssäfte in den alten knorrigen Stamm einschössen. Er fing an wieder umherzugehen, erst in seinem Zimmer, später auch im Hof, und es dauerte nicht lang, so nahm er in allem und jedem sein gewohntes Leben wieder auf. Seine Geisteskräfte waren fast ungeschwächt wieder zurückgekehrt. In der Arbeit freilich leistete er weitaus nicht mehr dasselbe wie früher, aber er selbst merkte es nicht. Er lächelte stolz, wenn der Guguck und die Wettl, um ihm eine Freude zu machen, sich wunderten, wie schön seine Webe sei, und wie viel er gefördert hätte, und schien es zu glauben, wenn sie sagten, der Fleißigste und Geschickteste im Hause sei halt noch immer er.

Gern plauderte er jetzt, wenn er vom Weben müde geworben war, und dabei blieb er am Webstuhl sitzen, hielt die Schütze oder die Weberlade in der Hand und hatte offenbar das Gefühl, als sei er bei seiner Arbeit. Verworren redete er nie; aber Dinge aus längst vergangener Zeit gingen ihm manchmal durch den Kopf, er erzählte gern davon oder sprach wohl auch von ihnen wie von gegenwärtigen. Ganz ohne Zusammenhang begann er oft von diesem oder jenem zu reden, was ihm gerade einfiel, und Wettl, die so viel wie möglich in seiner Nähe weilte, weil sie wußte, daß ihn nichts froher machte, hörte ihm nicht ungern zu, weil sich in der Art, wie er die Sachen vorbrachte, gelegentlich sein ganzes Wesen aussprach.

»Das war ein gewisser Cataloni,« fing er zum Beispiel ganz unvermittelt an, »der hat als erster das Lotto unternommen. Damals aber hat man es das Genueser Spiel geheißen – werden jetzt so ein fünfzig, sechzig Jahre her sein ... In der kaiserlichen Reitschul' in der Hofburg haben die Ziehungen stattgefunden, da sind viele Leut' hingeloffen, und viele haben ihr Geld verspielt. Und ich war auch oft dabei, aber ich weiß nicht, ich hab' immer Glück gehabt – ich hab' nie verloren!«

»Wirklich? Und gar nie hat der Herr Großvater verloren?« wunderte sich Wettl.

»Weil ich nämlich nie gesetzt hab'; so dumm war ich nicht!« sagte er lachend und freute sich unbändig, daß Wettl ihm aufgesessen sei.

Manchmal besuchte ihn auch der alte Tollrian und saß eine Weile bei ihm. Tiefsinnig, wie Tollrian immer war, bemerkte er einmal, während er ihm beim Weben zusah, vom Standpunkt des Seidenspinners sei das Zeugmachergewerbe ein grausam hartes, indem die arme Raupe, die sich hoffnungsvoll einspinne, um später als Schmetterling gen Himmel zu entflattern, meuchlings heiß abgesotten, ihrer eigentlichen Bestimmung entrissen werde, um der menschlichen Eitelkeit zu dienen. Er sei gottlob ein Mensch, erwiderte der Salzküfel, und könne die Dinge nicht vom Standpunkt einer Raupe aus betrachten. Jedenfalls dünke ihn das große Kopfabschneiden, das sie früher in Paris betrieben hätten, und das dem Tollrian so gut gefallen habe, grausamer als das Abbrühen schlummernder Kokons. Das sei nicht richtig, versetzte Tollrian, daß er das Kopfabschneiden gebilligt hätte; aber große Fortschritte auf allen Gebieten hätte die Revolution deswegen doch gebracht. ...

»Wie hat man die Unglücklichen,« rief er aus, »die freiwillig aus dem Leben gegangen sind, noch zur Zeit des Königtums in Paris behandelt! Ihr Andenken ehrlos erklärt, ihre Familie ehrlos, ihr Gut konfisziert, die Leiche mit einem Pfahl durchstoßen!«

»Hat ihnen nicht mehr weh getan,« bemerkte der Salzküfel trocken.

»Beerdigte sogar,« rief Tollrian entrüstet, »haben sie noch einmal ausgegraben und auf einem Schleifwagen, mit dem Kopf nach unten an den Füßen aufgehangen, durch die Straßen gezerrt!«

»Davon weiß ich nichts,« sagte der Salzküfel. »Mein Webstuhl schwatzt ein gut Teil zusammen, wenn er so einen Tag lang klappert, von Früh bis Abend. Aber von diesen Dingen hat er mir noch nie nichts erzählt.«

Einmal, als er wieder auf Besuch herüben war, schien Tollrian ganz besonders schwermütig und verbittert. Der Salzküfel erinnerte sich, daß der Geburtstag Schackerls sei. Dieser war nämlich, wie er immer etwas Besonderes hatte haben müssen, an einem 29. Februar auf die Welt gekommen, so daß er streng genommen nur jedes vierte Jahr seinen Geburtstag hatte; aber für gewöhnlich wurde der 28. dafür angenommen.

»Es tut mir in der Seele leid,« sagte Tollrian mit einem galligen Lachen, »daß ich nicht weiß, wo der Taugenichts sich aufhält, sonst würd' ich ihm heute gern etwas schenken. Es ist eine gute Einrichtung, däucht mich, daß Eltern ihren Kindern zum Geburtstag Geschenke machen. Sie wollen ihnen damit gleichsam Abbitte dafür leisten, daß sie sie in die Welt gesetzt haben.«

»Geh, hör auf,« sagte der Salzküfel zornig, »jetzt redest du wieder einmal ganz dalkert. No ja, es muß einer ja schließlich damisch werden, wenn er sich nur alleweil in dem Rad drinnen dreht und dreht – weißt du, wie mein Eichhörndl, von dem ich dir einmal erzählt hab' –; statt daß er ruhig und geradeaus seinen Weg geht! Ein steinalter Bursch, wie ich bin, kann ich dir sagen: noch heute bin ich meinen Eltern dankbar, daß sie mich in die Welt gesetzt haben! Es ist freilich lang her und fast schon gar nicht mehr wahr, daß ich geboren worden bin – aber ich hab' damals eine Freud' darüber gehabt und hab' auch heut' noch eine Freud' darüber.«

Tollrian mußte lachen.

»Damals wirst du wohl keine Freud' gehabt, sondern wie jedes neugeborene Kind geschrien haben!«

»Ja,« meinte der Salzküfel, »geschrien werd' ich schon haben, aber nur aus lauter Freud'!«

Das erste, beharrte Tollrian, was ein Kind in dieser Jammerwelt tue, sei immer nur heulen und weinen, und der Salzküfel werde es im Wickelkissen auch nicht anders gemacht haben. Aber der Großvater blieb dabei und ließ es sich nicht ausreden: er könne es nicht glauben, daß er geweint habe, als er auf die Welt gekommen sei, das sehe ihm gar nicht ähnlich; und wenn er schon geschrien hätt', so könne es höchstens aus Freude darüber gewesen sein, daß er auf die Welt gekommen.


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