Emil Ertl
Die Leute vom Blauen Guguckshaus
Emil Ertl

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

***

An demselben Abend, wo Schackerl den unerbetenen Besuch bei Fany gemacht hatte, lagen auf der Löwelbastei, jeder seine Muskete im Arm, zwei Männer, der eine in Bürgerkleidern, der andere mit einem weißen Soldatenfrack angetan, nebeneinander auf der Erde und lugten zwischen den Schanzkörben und Wollsäcken über das Glacis hinweg nach der Häuser-Lisière der Vorstädte Spittelberg und Josephstadt und nach dem langgestreckten Gebäude der kaiserlichen Stallungen hinüber.

»Schauen Sie einmal dorthin, Vincenz, über den Seitenflügel des Hofstallgebäudes,« sagte der eine. »Ist das Rauch, was von Zeit zu Zeit dort aufwirbelt, oder ist es Staub?«

»Meiner Seel', schon wieder eine Wolke!« sagte Vincenz. »Aber was ein Pulverrauch ist, das kenn' ich von Austerlitz her. Es muß Staub sein,« entschied er. – »Wissen Sie, Herr von Pimper, was ich glaub'? Ein Haus werden sie dort niederreißen – in der Breiten Gasse ungefähr muß es sein, am Spittelberg.«

»Wer wird denn heut' dort arbeiten und ein Haus einreißen, am Christi Himmelfahrtstag!«

»Nicht die Maurer mein' ich,« sagte Vincenz. »Die Franzosen.«

»Wozu sollten die Franzosen ein Haus einreißen?« fragte Thomas, der in der Kriegskunst nicht so erfahren war wie sein Gefährte.

Eine neue Staubwolke wirbelte auf.

»Verdammt,« sagte Vincenz, »der Hügel hinter dem Hofstallgebäude ist der einzige in der Nähe, den die Blauröcke benützen können. Es wär' ein Wunder, wenn sie nicht darauf verfallen, ihre Stücke dort aufzufahren. Wissen Sie, Herr von Pimper, was ich glaub'? Sie werden ein Haus niederreißen, damit sie ihre Haubitzen aus der Breiten Gasse bequem auf den Hügel hinter den Stallungen schaffen können.«

Thomas führte sein kleines Fernglas ans Auge, das aus einer Röhre aus Pappe bestand, in die ein paar Linsen eingefügt waren. Angestrengt spähte er über das Dach des Hofstallgebäudes hinweg und musterte die dahinter aufragende Häuserzeile.

»Eine kleine Zahnlücke ist da,« sagte er, »die früher nicht gewesen ist, kommt mir vor. Und von Zeit zu Zeit sieht man darin etwas krabbeln und blitzen.«

»Wenn ich der Erzherzog Max wär',« sagte Vincenz, »so ließ' ich jetzt alle Stücke auf die Stell' richten und tät ordentlich dreinpfeffern.«

»Unsinn! Da wären ja alle Häuser in der Näh' beim Teufel und ihre Bewohner auch.«

»Dieser Täg' wird noch mehr zum Teufel gehn als ein paar Zinshütten,« bemerkte Vincenz mit dem Gleichmut eines an Kriegsgreuel Gewöhnten. »Wenn sie einmal mit Kanonen herschießen – was wird uns denn übrig bleiben, als zurückschießen? Und wenn das acht oder zehn Täg' so fort geht... No ja, acht oder zehn Täg', heißt es, braucht der Erzherzog Generalissimus, eh' daß er uns mit der nach Böhmen zurückgeworfenen Armee zu Hilf' kommen kann. So lang müssen wir uns halten. Und können es auch! Denn mehr als zehntausend Mann reguläres Militär soll in der Stadt sein, und außerdem heißt es, daß ein paar Landwehrbataillone vom Hillerischen Korps vom linken Donauufer über die Taborbrücke zu uns gestoßen sind. Also, dazu kommt die Bürgermiliz, an die tausend Mann vom Studenten- und Künstler-Korps und das freiwillige Aufgebot, zu dem wir zweibeide gehören. Wär' nicht aus, wenn wir alle miteinander die Stadt nicht acht oder zehn Täg' halten könnten! Aber freilich – wenn wir acht oder zehn Täg' lang auf unsere Vorstädt' hinüberkartätschen, so schießen wir ganz Mariahilf, die schottischen Freigründ' und die Josephstadt zum Haufen. Da bleibt kein Ziegel auf dem Dach und kein Stein auf dem andern.«

»Das hab' ich gar nicht so recht bedacht,« sagte Thomas kleinlaut.

Er hatte sich nur immer vorgestellt, die Franzosen würden Graben und Bastionen stürmen, und die Verteidiger sich gegen die Stürmenden wehren und sie womöglich zurückwerfen. Erst jetzt kam es ihm zu Sinn, daß der Fernkampf der Haubitzen das gewichtigste Wort in der Sache zu sprechen haben würde, und daß man die Kanonenrohre von den Basteien auf den weiten Kranz der eigenen, dichtbevölkerten Vorstädte richten mußte, wenn man die Franzosen treffen wollte.

»Wenn es so kommt,« sagte er besorgt, »so schießen ja unsere Kanonen unsere eigenen Häuser und unsere eigenen Angehörigen zusammen?«

Vincenz wollte zeigen, daß er vom Scheitel zur Zehe ein ausgepichter Kriegsmann sei.

»Freilich,« sagte er mit nicht ganz echtfarbiger Kaltblütigkeit, »das ist schon einmal nicht anders im Krieg.«

»Das hätte man doch vorher überlegen müssen!« meinte Thomas den Kopf schüttelnd.

»Der Herr Meister hat es ja immer gesagt: am Kuruzzenwall müssen wir die Franzosen aufhalten. Und damit hat er recht gehabt. Und es wär' auch möglich gewesen, wenn die Verteidigung am Kuruzzenwall rechtzeitig in Stand gesetzt worden wär'.«

Nebenan lagerte am Fuß einer Kanone eine Kompagnie Bürgermiliz. Der Zeugmacher Lorenz Bargetti von der »Hollerstauden« in der Wendelstadt war ihr Hauptmann. Er saß auf der Lafette und verzehrte Brot und Käse. Thomas rief hinüber und machte ihn auf die Bewegung aufmerksam, die sich hinter den kaiserlichen Stallungen wahrnehmen lasse. Er habe es schon bemerkt, antwortete Bargetti, die Türken hätten vor hundertdreißig Jahren ihre Batterien genau an derselben Stelle aufgefahren. Das sei ein guter Posten, jetzt mehr noch als damals, weil das Stallgebäude die Stellung verberge und schütze. Thomas fragte, ob er meine, daß sie über das Dach hinweg Granaten werfen würde?

»Freilich!« sagte der Bürgerhauptmann und aß ruhig weiter. »Sobald es dunkel wird, werden die Batterien zu spielen anfangen. Die können uns gehörig zu schaffen machen! Und wir werden sie nicht treffen, weil wir sie fast nicht sehen können, und werden unsere eigenen Häuser bombardieren.«

»Daran hätte man doch früher denken müssen!« wiederholte Thomas.

»Jetzt sind wir Soldaten,« sagte Bargetti. »Tun wir halt unsere Pflicht.«

Vincenz stieß Thomas in die Seite.

»Wissen Sie, Herr von Pimper, was ich glaub'? Dort drüben, am Ausgang von der Burggasse, da blitzt hie und da ein Bajonett auf. Dort muß eine Abteilung französische Infanterie stehen, die wahrscheinlich die Batterien gegen einen Ausfall sichern soll. Sehen Sie jetzt! Schauen Sie! Schauen Sie!«

Er schob sich vorwärts und hob sich auf die Knie, riß die Muskete an die Wange und zielte scharf durch die Scharte mit der Sicherheit eines Geübten. Der Schuß krachte.

»Gleich noch einen!« rief er Thomas zu und schob ihn vor, während er selbst rasch wieder lud.

Thomas zögerte einen Augenblick. Das Herz pochte ihm bis zum Hals herauf. Er legte an und schoß. Es war das erstemal, daß er auf einen Mitmenschen geschossen hatte. Vincenz spähte blitzenden Auges hinaus. Es komme ihm vor, am Boden liege etwas, gerade an der Ecke des Hauses, und rühre sich nicht mehr. Mit zitternder Hand führte Thomas sein Fernglas ans Auge. Ja, dort lag ein Mensch in Uniform und rührte sich nicht mehr! Thomas hatte die Augen voll Tränen. Das sei kein Mitmensch, das sei ein Gegenmensch, tröstete ihn Vincenz. Auch brauche einer, den man erschossen habe, darum noch lange nicht tot zu sein. Die meisten seien doch nur verwundet. Er möge keinen Kummer tragen, man glaube es gar nicht, wie schnell der Mensch oft wieder zusammenheile.

Die Sonne sank langsam hinter die fernen Höhenzüge des Wienerwaldes, und der goldene Knauf auf dem Turm der Laurenzikirche glitzerte über das Häusermeer herüber. Thomas dachte an Fany. Ob sie sich um ihn ängstigte? Doch wohl ein wenig – aus Gewohnheit des Zusammenlebens und weil er doch ihr Mann war. Aber daß sie tief für ihn fühle, wie er für sie, daran glaubte er nicht. Er hielt sich die Hand vor die Augen und sann. Was tat es, wenn eine feindliche Kugel ihn traf, daß er hinfiel und sich nicht mehr rührte wie jener Franzose dort unten? Dann war wenigstens sein sehnsüchtiges Herz getröstet, das vergeblich nach ihrer Liebe dürstete ...

Ein Zug Landwehr marschierte im Eilschritt hinten die Bastei entlang. Thomas und Vincenz wandten sich um und erkannten, daß es Lebolds Bataillon war, und auf einmal sahen sie ihn mitten darunter. Sie riefen ihm zu, und er gewahrte sie und winkte herzlich mit der Hand herüber. Aber er konnte nicht aus der Reihe treten und mußte vorwärts. Jetzt erhoben die Landwehrmänner ihre Stimmen und sangen begeistert das Landwehrlied. Ihre gleichmäßig trappenden Schritte und ihr Gesang verhallten langsam in der Ferne.

Der Abend war still und frühlingsweich, und der Abendstern glänzte friedlich am reinen Himmelsgewölbe. Auf einem mit Blüten übersäten Kastanienbaum, der auf der Bastei stand, saß eine Amsel und sang lange in die Dämmerung hinein ihr schmelzendes Lied ...

Vincenz hatte sich auf einen Sandsack gesetzt und war ein wenig eingenickt. Bangen Herzens spähte Thomas nach dem Spittelberg hinüber, wo man hie und da einen schwachen Lichtschein und eine gewisse Bewegung wahrnehmen konnte. Leise sank die Dunkelheit nieder, und am Himmel oben flimmerten die Sterne. Jetzt kündete von den Augustinern herüber die Turmuhr die neunte Stunde. Da leuchtete plötzlich drüben ein Blitz auf, ein dumpfer Krach rollte über die Mauern hin, ein Seufzen ging durch die Luft, und ein roter Faden wie ein Komet zeichnete sich für einen Augenblick in den tiefblauen Nachthimmel. Sogleich antwortete aus nächster Nähe ein Donnerschlag, der die Erde erschütterte. Das Geschütz, um das die Bürgerwehr gelagert hatte, war gelöst worden.

Von allen Basteien, die man übersehen konnte, flammte es jetzt auf. Schlag auf Schlag beantworteten die österreichischen Batterien das Brüllen der ehernen Schlünde, das sich drüben erhoben hatte, und ein unausgesetztes Grollen und Sausen erfüllte die Luft. Soldaten und Bürger, wie sie auf dem weiten Kranz der Bastionen standen und lagen, hatten ihre Musketen fester gepackt und in Anschlag gebracht und erspähten, vorsichtig hinter ihre Deckungen gedrückt, in fieberhafter Erregung die Gelegenheit, wenn drüben ein hellerer Schein für einen Augenblick die feindlichen Stellungen deutlicher sichtbar machte. Dann knatterten in das wuchtige Dröhnen der Haubitzen hinein die Kleingewehrsalven, und ganze Mückenschwärme blutgieriger Musketenkugeln schwirrten unter den hohen Bogen feuriger Raketen, die die Granaten über den Himmel zogen, unsichtbar durch die Nacht, die Herzen des Feindes zu suchen.

»Wissen Sie, Herr von Pimper, was ich glaub'?« sagte Vincenz, indem er eifrig seine Muskete lud, die er eben abgefeuert hatte. »Ich glaub', ich hab' jetzt einen Offizier vom Pferd geschossen.«

In demselben Augenblick fiel hinter der Lafette der in der Nähe befindlichen Kanone eine geschickt geworfene Haubitzgranate nieder und krepierte mit einem fürchterlichen Krach. Thomas und Vincenz stießen ihre Köpfe aneinander, der Druck der Luft allein hatte sie ins Wanken gebracht. Sie sahen mehrere Mann von der Bürgermiliz aufspringen und in geduckter Haltung mit einer Laterne zurücklaufen und dann um eine Stelle herumstehen und sich niederbeugen. Und dann sahen sie andere, gleichfalls mit geducktem Oberkörper, im Laufschritt herankommen und eine Bahre tragen.

»Wer ist es denn?« rief Vincenz hinüber.

»Der Bürgerhauptmann Bargetti,« hieß es zurück.

»Schwer?«

»Beide Beine wurzab, knapp ober den Knien.«

»Fix noch einmal! Das Blut!« hörten sie einen sagen.

»Der ist fertig,« sagte Vincenz, zielte und schoß. Während er seinen Ladestock wieder in den Lauf stieß, sagte er noch: »Schad' um den, das war ein guter Mensch!«

»Sehen Sie, dort!« rief Thomas und wies gegen die Stadt hinein.

Feindliche Brandgeschosse hatten ihr Ziel erreicht: ein großes, palastartiges Gebäude, das in der Nähe hinter der Bastei stand, loderte in hellen Flammen, und auch etwas weiter entfernt sah man Feuerschein.


 << zurück weiter >>