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Brief an Reichskanzler Bethmann-Hollweg

Berlin, 28.6.1917

Die Sorge um das Schicksal unseres Landes zwingt uns, der Reichsleitung folgende Darlegungen zu unterbreiten:

Wir unterzeichneten Vorstände der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion befinden uns fortdauernd in engster Fühlung mit der Bevölkerung in allen Teilen des Reiches, vornehmlich mit den Schichten der unbemittelten Volksklassen. Wir sind durch zahlreiche Vertrauenspersonen der Arbeiterschaft über die Lage des Volkes und über die Stimmungen, von denen es erfüllt ist, auf das genaueste unterrichtet. Unsere eigenen Beobachtungen sowie die uns von allen Seiten zugehenden Berichte nötigen uns die Überzeugung auf, daß die innere Widerstandskraft unseres Volkes sich dem Ende nähert. Angesichts dieser überaus ernsten Lage halten wir es für unsere Pflicht, das auszusprechen, was nach unserer Meinung zu geschehen hat, um Schlimmstes zu verhüten. Wir unsererseits wollen keine Verantwortung mittragen, wenn das versäumt wird, was allein unser Land aus dieser furchtbaren Not retten kann.

Die Ernährungsverhältnisse haben sich dauernd verschlechtert. Die Nahrungsmittel, die der Bevölkerung in den größeren Städten und in den Industriegebieten gegeben werden, sind längst nicht mehr hinreichend, die Menschen zu sättigen und ihre Kräfte zu erhalten. Viele Millionen leiden am quälenden Gefühle des Hungers. Zahlreiche Menschen sind stark abgemagert, die Gesichter sind welk und hohl geworden. Trotz der Bemühungen, die Schwerarbeiter reichlicher zu versorgen, ist deren Leistungskraft durch die dauernde Unterernährung selbst in der Rüstungsindustrie so geschwächt, daß sie vielfach zu versagen droht. Auf die schwerwiegenden Folgen, die diese unzureichende Ernährung insbesondere auf die Frau und die heranwachsende Jugend ausübt, sei nur kurz, aber mit größter Eindringlichkeit hingewiesen. Die Stimmung der Bevölkerung ist durch die anhaltenden Entbehrungen aufs tiefste herabgedrückt. Zu dem Nachlassen der körperlichen und geistigen Spannkraft infolge der schlechten Ernährung treten die sonstigen zehrenden Sorgen des Krieges, die quälende Angst um das Schicksal der draußen kämpfenden Söhne und Brüder, Gatten, Väter und Ernährer, der Verfall des Familienlebens, die Furcht vor einer düsteren Zukunft in bitterster Armut und Not.

Die unzureichenden, meist verzögerten oder völlig verspäteten und dann auch noch in Halbheiten steckenbleibenden Maßnahmen der Behörden haben die Mißstimmung noch genährt. Macht sich doch auch gerade zur Zeit wieder ein geradezu verbrecherischer Wucher mit den Gemüse- und Obstpreisen unter den Augen der Behörden geltend. So ist denn nicht zu verwundern, daß Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, aber auch Erbitterung und Groll sich stets weiter ausbreiten und vertiefen. Die Bevölkerung mußte erleben, daß wohlhabende Kreise sich noch immer reichlich ernähren können, ja darüber hinaus reiche Gewinne aus Kriegsgeschäften und aus der Not ihrer Volksgenossen ziehen, während Millionen von Minderbemittelten ihre Existenz zusammenbrechen und sich der Verarmung und wachsenden Not ausgeliefert sehen.

Ein weiteres, die Stimmung verderbendes Moment liegt in dem Ausbleiben einer Neuordnung mehrerer innerpolitischen Verhältnisse auf der Grundlage gleichen Rechtes für alle. Hierdurch sind die breiten Schichten des Volkes, die in der Kriegszeit doch ihre ganze Kraft für das öffentliche Wohl eingesetzt haben, aufs tiefste erregt und mit heftigem Unwillen erfüllt worden. Zwar sind Anerkennungen für die tüchtige Leistung des werktätigen Volkes ausgesprochen und bedeutsame Zusagen gemacht worden, aber diesen Anerkennungen und Zusagen sind keine Taten gefolgt. Dagegen hat sich der Widerstand der bisher Bevorrechteten gegen eine freiheitliche Neuordnung immer schroffer geltend gemacht. So ist es erklärlich, daß in den Massen des Volkes das Mißtrauen nicht schwand, sondern der Gedanke mehr und mehr überhand nahm, daß die fortdauernde Hinausschiebung politischer Reformen schließlich mit einer schweren Enttäuschung endigen werde. Die günstige Wirkung der kaiserlichen Osterbotschaft konnte deshalb auch nicht von Dauer sein. Mißtrauen und Verärgerung fanden immer neue Nahrung, der Groll steigt von Tag zu Tag höher an.

Hinsichtlich der militärischen Verhältnisse wollen wir lediglich unsere Beobachtungen über die seelische Verfassung der Soldaten verzeichnen. Für die höheren Vorgesetzten ist es nicht leicht, zu einer wirklich zutreffenden Beurteilung der Soldaten in jetziger Zeit zu gelangen. Ihre autoritative Stellung erschwert es außerordentlich, daß sich ihnen gegenüber die innerste Meinung und Stimmung offen äußert. Auch bei den Truppen greift die Kriegsmüdigkeit um sich. Das ist erklärlich genug. Die Kette der an uns gelangenden Klagen über schlechte oder ungerechte Behandlung und namentlich auch über anstrengende, den vom Kampf übermüdeten Soldaten als zwecklose Quälerei erscheinende Exerzierübungen in den Ruhestellungen reißt nicht ab. Auch die bei zahlreichen Truppenteilen einseitig für die Mannschaften verschlechterten Ernährungsverhältnisse tragen dazu bei, Unzufriedenheit und Verdruß zu steigern. Aber schwerer noch fällt das durch lange Dauer des Krieges erzeugte allgemeine Verlangen nach Rückkehr in normale, friedliche Verhältnisse in die Wagschale. Der Mann im Felde sieht seine Zukunft im Ungewissen, seine seitherige Existenz ist im Kriege vielfach zusammengebrochen, immer schmerzlicher zehrt an den Familienvätern die Sehnsucht nach Heim und Herd, nach Frau und Kindern, die sie vielfach bei völlig unzureichenden Lebensverhältnissen wissen. Der Glaube an die Möglichkeit eines entscheidenden Sieges ist mehr und mehr erschüttert. So bemächtigt sich der Soldaten draußen ebenso wie der heimischen Bevölkerung das Gefühl, alle ferneren Opfer sind ja doch vergeblich, die Überlegenheit der Gegner an Zahl und materiellen Machtmitteln ist zu groß, je länger der Krieg dauert, um so schlimmer wird sich die Lage für uns gestalten.

Bei diesem Stand der Dinge droht das Auftreten und die skrupellose Politik der Alldeutschen vollends zur schwersten Gefährdung für unser Land zu werden. Die Agitation dieser Kreise, die mit großen, nicht zuletzt aus Kriegsgewinn stammenden Mitteln betrieben wird, erzeugt bei der Bevölkerung die Meinung, daß der Krieg um Eroberungen willen fortgesetzt wird, und daß die Schuld an dem Nichtzustandekommen von Friedensverhandlungen auch auf deutscher Seite liegt. Daher haben auch die Erklärungen zur Friedensbereitschaft, die die Reichsleitung abgab, eine beruhigende Wirkung nicht erzielen können. Diese Erklärungen stoßen auf Zweifel und Unglauben, weil die Regierung die Agitation für Landerwerbungen in Ost und West sowie für große Kriegsentschädigungen ohne entschiedene Gegenwirkung gewähren läßt, und weil zahlreiche zivile und militärische Behörden die alldeutsche Propaganda offensichtlich unterstützen und bevorzugen. Mit dem rücksichtslosen U-Bootkrieg sind von alldeutscher Seite besonders starke Hoffnungen auf rasche Beendigung des Krieges in der Bevölkerung erregt worden. Aber der U-Bootkrieg, so große Einwirkungen er auch auf die wirtschaftlichen Zustände in den gegnerischen Ländern ausübt, erreichte doch nicht das der Bevölkerung verheißene Ziel, England in Bälde auszuhungern, oder es wenigstens friedensbereit zu machen. Dem Erfolg des U-Bootkrieges steht der Nachteil des Anschlusses Amerikas an die feindliche Koalition gegenüber. Auch in bezug auf Amerika wird der schwere Fehler der Unterschätzung der gegnerischen Pläne und Kräfte bereits offensichtlich. Zweifellos ist der Kriegswille unserer Gegner durch das Hinzukommen dieses überaus mächtigen Bundesgenossen außerordentlich gestärkt worden. Die Seesperre wird immer enger, der Druck auf die europäischen Neutralen wird bis zur Unerträglichkeit gesteigert. Unsere Aussichten auf Bezug von Rohstoffen und Lebensmitteln aus neutralen Ländern schwinden damit fast völlig. Das Eintreten Amerikas in den Krieg bedroht uns mit seiner Verlängerung in den vierten Kriegswinter hinein und weit darüber hinaus.

Auch die Erwartungen, daß die russische Revolution uns dem Frieden näher bringen werde, hat sich bis jetzt nicht erfüllt. Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, daß das neue Rußland auch weiterhin der Entente Gefolgschaft leistet. Der Verdacht, daß Deutschland darauf ausgehe, mit Rußland nur deshalb jetzt zum Frieden zu gelangen, um dann desto größere Forderungen nach dem Westen durchsetzen zu können, hat nicht wenig dazu beigetragen, daß auch im russischen Arbeiter- und Soldatenrat starke Kräfte für die Fortsetzung des Krieges arbeiten. Die Beseitigung dieses Verdachtes ist die Vorbedingung zur Förderung der Strömung in Rußland, die eine entschlossene Friedenspolitik will.

So droht uns ein vierter Kriegswinter. Die Schicksalsfrage erhebt sich: Kann das deutsche Volk ihn noch durchhalten? Kämen wir in ihn hinein, so würden die Leiden der Bevölkerung noch ungeheuer gesteigert. Sind jetzt schon Verzweiflungsausbrüche in verschiedenen Teilen des Reiches zu verzeichnen gewesen, wieviel furchtbarer würde es dann sein: Katastrophen wären unausbleiblich. Man zeihe uns nicht der Schwarzmalerei, und man wiege sich nicht in der Hoffnung, es werde noch so weiter gehen, wie es schon so lange gegangen ist. Die Dinge haben ihre Grenzen. Die Sozialdemokratische Partei hat die Jahre hindurch alles aufgeboten, um die Widerstandskraft der Heimatbevölkerung aufrechtzuerhalten und an der Verteidigung des Landes nach bester Kraft mitzuwirken. Aber wir dürfen uns nicht verhehlen, daß die Kräfte unseres Volkes zu Ende gehen. Übermenschliches ist geleistet worden. Schneller als man denkt, kann die Stunde kommen, wo die Kraft und der Wille zum Widerstand versagen. Wenn die Belastung weiter steigt und nichts Durchgreifendes geschieht, dem drohenden Zusammenbruch vorzubeugen, so gehen wir der größten Gefahr entgegen.

Es gibt jetzt nur einen Ausweg, um schlimmstes Unheil zu verhüten. Die Staatsumwälzung in Rußland bietet eine Anknüpfungsmöglichkeit, die nicht verpaßt werden darf. Der Arbeiter- und Soldatenrat hat die Formel aufgestellt: Friede ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen! Die Antwort Eurer Exzellenz im Reichstag war ebensowenig genügend, wie die spätere Erklärung in der »Nordd. Allg. Zeitung«. Rußland wird in der Hand der Ententemächte bleiben, solange die deutsche Regierung sich nicht entschließt, einen allgemeinen Frieden auf Grund der Petersburger Formel zuzugestehen. Das wird aufs neue bestätigt durch den jüngsten Beschluß des zur Zeit in Petersburg tagenden Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte von ganz Rußland, der zwar die möglichst schnelle Beendigung des Krieges als wichtigste Aufgabe proklamiert, zugleich aber auch den Gedanken eines Sonderfriedens oder separaten Waffenstillstandes ablehnt. Gibt die deutsche Regierung eine jeder Deutungskunst entzogene Erklärung ihrer allgemeinen Friedensbereitschaft im Sinne des russischen Arbeiter- und Soldatenrates ab, so würde das eine mächtige Förderung aller der Kräfte in Rußland bedeuten, die auf einen baldigen Frieden hinarbeiten. Ihren Widersachern und den Werkzeugen der Entente würde die wirksamste Waffe damit aus der Hand geschlagen. Die Entwicklung würde entweder zum Bruch zwischen Rußland und seinen Alliierten treiben, oder aber die letzteren würden sich gezwungen sehen, gleichfalls auf den Boden dieser Formel zu treten. Jede Unklarheit, jeder Schein, als wollten wir uns doch noch Türen offen halten für gewaltsame Gebietsaneignungen oder sonstige Vergewaltigungen der Lebensinteressen anderer Völker, muß beseitigt werden. Nur durch eine solche Politik erscheint es uns auch möglich, die Koalition der feindlichen Mächte aufzulösen und das höchste Kriegsziel, dauernd friedliche Verhältnisse in Europa und in der Welt, zu erreichen.

Durch das offene Bekenntnis der Reichsleitung zu einem allgemeinen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen würde in allen Ententeländern die aus der Tiefe des Volkes kommende Friedensströmung, die schon durch das Friedensangebot der Zentralmächte sichtlich gefördert wurde, sehr gestärkt werden. Auch die Wirkung einer solchen Erklärung auf die nach Frieden verlangenden Massen unseres Volkes würde die denkbar beste sein. Die Überzeugung würde allgemein und fest begründet werden, daß wir nicht um Eroberungen willen, sondern lediglich zur Verteidigung unserer eigenen Lebensrechte den Krieg führen, daß unsererseits einem baldigen Frieden der Verständigung nichts im Wege steht und daß, wenn trotzdem kein solcher Friede zu erlangen ist, die Schuld lediglich auf der Seite der Gegner liegt.

Die zweite, nicht minder bedeutsame Maßnahme zur Festigung der Stimmung unseres Volkes und zur Stärkung seines Willens zum Widerstand gegen die Bedrohung von außen ist die freiheitliche Neuordnung der Dinge im Innern. Das Volk in seinen weitesten Schichten muß die feste Überzeugung gewinnen, daß es wirklich zu seinem Recht im Reich, in den Bundesstaaten und den Gemeinden kommen soll. Die freiheitliche Fortentwicklung der Reichsverfassung in der Richtung auf eine auf die Volksvertretung gestützte und von ihr ausgehende Regierung darf nicht verzögert werden. Die im Wahlgesetz von 1869 vorgesehene Gleichhaltung des Reichstagswahlrechts durch Berücksichtigung der Bevölkerungsvermehrung muß schleunigst nachgeholt werden. Die Durchführung der verheißenen Reform des Wahlrechts in Preußen im Sinne eines gleichen, direkten und geheimen Wahlverfahrens muß unverzüglich erfolgen. Jetzt ist die rechte Stunde. Das ganze Volk würde freudig zustimmen, und die kleine Gruppe derer, die ihre bisherigen Vorrechte verlieren, muß das Opfer ihrer Sonderinteressen bringen für das Vaterland, das in schwerster Lebensgefahr ringt.

Es geht jetzt ums Ganze! Das Deutsche Reich und seine Zukunft stehen auf dem Spiel. Das Festhalten an Kriegszielen, die über das eigene Recht und zugleich über das Erreichbare hinausgehen, verlängert den Krieg und führt uns dem Abgrund zu. Alle Welt soll wissen, daß das deutsche Volk um nichts anderes kämpft als um sein nationales Recht auf Leben und Entwicklung, und daß es zu jeder Stunde bereit ist, einen Frieden zu schließen, der ihm dieses sein Lebensrecht gewährleistet. Alles, was uns ihm näherbringt, muß schleunigst geschehen. Im Innern aber gilt es, dem staatlichen Leben die Formen zu geben, die, wie es in der Osterbotschaft heißt, »für die freie und freudige Mitarbeit aller Glieder unseres Volkes Raum geben«. Nur wenn in den Massen des Volkes die Überzeugung fest verankert wird, daß das Vaterland, für das sie kämpfen und leiden, auch im Innern eine Stätte der Freiheit und der staatsbürgerlichen Gerechtigkeit ist, werden sie ihr äußerstes daran setzen und ihr letztes hingeben, um es zu verteidigen gegen jeden Versuch der Knechtung von außen.

Mit ausgezeichneter Hochachtung ganz ergebenst

Die Vorstände der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und der Sozialdemokratischen Reichstagsfraktion.

Fr. Ebert. Ph. Scheidemann. Molkenbuhr. M. Pfannkuch. Otto Wels. O. Braun. Ed. David. Fr. Bartels. H. Müller. G. Gradnauer. H. Krätzig. R. Fischer. A. Gerisch.

 

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Fundstück: Zeitungsausschnitt lag im Buch


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