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Der Sinn der Maifeier

Aus der Bremer Bürger-Zeitung.
3.5.1904

Bei der Festversammlung der Maifeier nahm der Arbeitersekretär Fritz Ebert zu der mit großer Aufmerksamkeit angehörten Festrede das Wort. Der Redner führte aus:

In den letzten Jahren ist innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung lebhaft über eine Abänderung der Art der Maidemonstration verhandelt worden. Veranlassung dazu war nicht die Abneigung gegen die Maifeier, sondern ein rein taktischer Grund. Das koalierte Unternehmertum hat der Arbeitsruhe einen immer größeren Widerstand entgegengesetzt, und die Opfer der Maifeier waren außerordentlich zahlreich. In diesem Jahr hat die Frage nicht zur Verhandlung gestanden, weil die Maifeier diesmal auf einen gesetzlichen Ruhetag fiel. Wenn man nun aber annahm, daß in diesem Jahr die Arbeiterschaft nun unbehindert ihre Maidemonstration vorbereiten und ausführen konnte, so hat man sich geirrt. Aus allen Gauen kommen Mitteilungen, wie seitens der Polizei und anderer Behörden den Veranstaltungen der Arbeiter hindernd in den Weg getreten wurde. In einem mitteldeutschen Staat wurde gar der Umzug aus Gründen des »öffentlichen Wohls« verboten. In Preußen sind den Polizeiorganen bestimmte Instruktionen gegeben worden. Man sieht, daß die Maifeier ihre Wirkung nicht verfehlt hat. Nicht wegen der eintägigen Arbeitsruhe, sondern ihres ganzen Charakters halber wird die Maifeier von der bürgerlichen Gesellschaft bekämpft. Die herrschenden Klassen haben erkannt, daß die Maifeier sich gegen die ganzen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände unserer Zeit richtet. Deshalb sucht man sie zu hindern mit allen Mitteln. Wir sehen also, daß wir den rechten Weg gegangen sind und daß wir alle Veranlassung haben, ihn weiter zu gehen.

Die Maifeier muß uns Anlaß geben, offen zu sagen, was wir wollen. Wir demonstrieren in erster Linie gegen die heutigen wirtschaftlichen Zustände im Staat; wir demonstrieren zum Schutze der unter diesen Zuständen leidenden Arbeiterschaft und stellen als vornehmste Forderung dieses Schutzes die Einführung des Achtstundentages auf. Wir demonstrieren gegen den Militarismus zu Wasser und zu Lande und gegen die Zerfleischung der Völker, die in die heutigen Kulturverhältnisse nicht mehr hineinpaßt. Es liegt nahe, einen Rückblick auf das Erreichte zu werfen. Als der erste internationale Kongreß zu Paris 1889 die Maifeier beschloß, um in erster Linie für den Achtstundentag zu demonstrieren, fand dieser Beschluß Hohn und Spott bei der herrschenden Gesellschaft. Unter dem Drucke des noch auf Deutschland liegenden Sozialistengesetzes waren die deutschen Delegierten kaum in der Lage, über die Verhandlungen des Kongresses zu berichten. Bald hernach, am 20. Februar 1890, hatte die deutsche Sozialdemokratie den Triumph, als stärkste Partei aus der Wahlurne hervorzugehen und den Schöpfer des Sozialistengesetzes gestürzt zu sehen. Sogleich die erste Maifeier erforderte große Opfer; sie brachte aber auch eine heilsame Lehre für die deutsche Arbeiterbewegung. Gerade diese Kämpfe zeigten, daß unsere wirtschaftlichen und politischen Organisationen sich bedeutend ändern und erstarken mußten, wenn wir erfolgreich für unsere Forderungen kämpfen wollten. Diese Lehre wurde allgemein befolgt und hat die besten Früchte getragen. Nach Feststellung der Generalkommission hat die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten heute über eine Million erreicht. In Bremen kamen 1890 etwa 2000 bis 3000 gewerkschaftlich organisierte Arbeiter in Frage, im verflossenen Jahr wies nach dem Jahresbericht des Kartells die gewerkschaftliche Organisation eine Stärke von etwa 160 000 Mitgliedern auf. Die Zunahme im letzten Jahr allein war so groß wie die Zahl der Organisierten von 1890. Vor zehn Jahren ungefähr wurde uns das Reichstagsmandat entrissen, heute haben wir es mit doppelter Stimmenzahl wiedererobert, hoffentlich für immer. Wie unsere Organisationen wohlfundiert und geordnet dastehen, so können wir sagen, daß sich allgemein die Arbeiterbewegung in gesunder und geordneter Weise entwickelt hat. Wir sind auf dem rechten Weg und müssen unser Streben darauf richten, ihn weiter zu verfolgen.

Auch bei unseren zukünftigen Kämpfen werden wir das Verlangen nach Verkürzung der Arbeitszeit, nach dem Achtstundentag in den Vordergrund stellen. Heute kann diese Forderung von keiner Seite mehr als unberechtigt hingestellt werden; heute stehen nicht nur die Arbeiter hinter ihr, sondern mit ihnen die Wissenschaft, vor allem die Gesundheitslehre. Der Redner legt eingehend die Schädlichkeit der übermäßigen Arbeitszeit für den menschlichen Körper dar und verweist insbesondere auf die großen Opfer, die die Tuberkulose unter der Arbeiterschaft fordert. Gegen die Tuberkulose existiert kein wirksamerer Bundesgenosse als die Verkürzung der Arbeitszeit. Der Redner erinnert dann an die vermehrte Unfallgefahr der langen Arbeitszeit und nennt dann ungeheure Zahlen der Toten, die seit 1886 auf dem Gebiete des Berufsunfalls unter den Arbeitern zu zählen waren. Die kürzere Arbeitszeit ist auch notwendig, um ein besseres Familienleben des Arbeiters zu ermöglichen. Wie liegen erst dort die Verhältnisse, wo die Frau gezwungen ist, mit in die Fabrik zu gehen! In der Textilindustrie arbeiten 60 % aller Arbeiterinnen noch 11 Stunden den Tag. Wir fordern den Achtstundentag, um außer der Arbeitszeit Muße zu finden, uns als Menschen fühlen zu können. Der Arbeiter muß auch Zeit finden, an den Genüssen der Literatur, der Natur und an Kulturbedürfnissen aller Art teilhaben zu können.

Auch an praktischen Erfolgen fehlt es nicht. In Amerika, Australien, auch in europäischen Ländern ist der Achtstundentag vorwärts gekommen. Auch in Deutschland haben einige ideal veranlagte Unternehmer mit dem Achtstundentag die besten Erfahrungen gemacht. Fest steht, daß die Mär von dem großen Schaden des Unternehmers widerlegt ist, daß die Arbeitsleistung bei verkürzter Arbeitszeit intensiver wird, daß der Wert der Arbeitskraft steigt. Als wirtschaftliches Gesetz gilt überall: Je kürzer die Arbeitszeit, desto höher die Löhne. Deshalb werden wir überall den Achtstundentag zu erreichen suchen müssen. Unsere wirtschaftlichen Kämpfe werden allerdings anderer Art sein müssen als früher. Die Erfahrungen lehren, daß das koalierte Unternehmertum allgemein die Taktik verfolgt, auch die kleinste Differenz durch Aussperrung zu beantworten, um die Organisation zu schwächen. Wir haben aber deshalb keine Ursache zum Kopfhängen. Die Arbeiterschaft ist in das Stadium des Entscheidungskampfes um die Anerkennung der Gleichberechtigung eingetreten. Wir können feststellen, daß es in keinem Kampfort möglich war, die Organisation zu vernichten. Wir müssen diesen Kampf durchführen, in dessen Anfangsstadium wir uns befinden. Wenn der Opfermut uns bleibt, dann wird es gelingen, auch die skrupelloseste Unternehmerorganisation zu zwingen, in Verhandlungen mit der Arbeiterschaft einzutreten.

Bei allen wirtschaftlichen Bestrebungen dürfen wir aber auch die politische Bewegung nicht vergessen. Sie ist es, die für den Kampf der Gewerkschaften den Boden ebnet. Ohne politische Bewegung kein Koalitionsrecht, ohne dieses keine wirtschaftlichen Erfolge. Nur unserer starken parlamentarischen Vertretung ist zu danken, wenn das Koalitionsrecht nicht schon den Arbeitern geraubt worden ist. Auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes hat die politische Organisation ein gehöriges Stück Arbeit geleistet.

Der Redner gedenkt nun der Bestrebungen auf internationalem Gebiet. Besonders die Fortschritte des Arbeiterschutzes fordern die internationale Verständigung. Wir sind aber auch international aus kulturellen, rein menschlichen Gesichtspunkten. Wir fordern Schlichtung der Völkerdifferenzen auf kulturellem Boden. Wir demonstrieren gegen den Militarismus, der alle Kulturfortschritte hindert und eine tiefe Kluft in die Bevölkerung reißt.

Wir sind uns aber dessen bewußt, daß alle unsere Bestrebungen im Gegenwartsstaat nur in beschränktem Maße durchgeführt werden können. Die Erreichung des Zieles jedoch ist nur möglich, wenn man die Klassengegensätze, die Klassenherrschaft beseitigt. In diesem Bestreben nach einer neuen, auf gesundem Boden stehenden Gesellschaftsordnung wissen wir uns eins mit dem organisierten Proletariat der ganzen Welt.

Der Redner gedenkt schließlich noch des hiesigen Böttcherstreiks und seiner Ursachen und verurteilt scharf das Verhalten der Brauereibesitzer, die sich allen Versuchen nach friedlicher Beilegung der Differenzen brutal entgegensetzten. Das Gewerkschaftskartell hat daher in seiner letzten Sitzung am Freitag beschlossen, den Böttchern zu Hilfe zu kommen und den Arbeitern zu empfehlen, bis zur Beendigung des Streiks kein Bier der Bremer Brauereien zu konsumieren. Wir müssen besonders heute klar zum Ausdruck bringen, daß wir nicht gewillt sind, das Produkt von Unternehmern, die sich derart rücksichtslos gegen Arbeiter verhalten, zu genießen. Die heutige Maifeier muß allen Gegnern Achtung vor den Arbeitern abzwingen. Hierauf muß das Bestreben jedes einzelnen gerichtet sein. Jeder steht heute im Dienst der großen Sache der Arbeiter. Verhalten wir uns so, und zeigen wir, daß die Arbeiter unweigerlich an ihren Forderungen festzuhalten entschlossen sind, dann können wir uns eins fühlen mit den Arbeitern aller Kulturländer und mit ihnen einstimmen in den Ruf, der heute über die ganze Erde hallt: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«

Anhaltender Beifall bewies dem Redner, daß es die Maigedanken der Tausenden von Anwesenden waren, die er zum Ausdruck zu bringen verstanden hatte.


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