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Friedrich Ebert
Ein Lebensbild von Paul Kampffmeyer

Das alte und das neue Deutschland

Wenige Wochen nach der Kaiserproklamation von Versailles wird Fritz Ebert in Heidelberg geboren. Diese Proklamation ist das Schlußglied einer Kette tiefgreifender politischer Umwälzungen, die Deutschlands politische Karte völlig neugestaltet haben. Bismarck, ein praktischer Verächter des Legitimitätsprinzips, leitet 1866 eine Revolution von oben ein, sprengt den alten verrotteten »Deutschen Bund« in die Luft, dem schon ein ganz durchdringender Verwesungsgeruch entströmte, und annektiert das Königreich Hannover, das Kurfürstentum Hessen-Kassel, das Herzogtum Nassau und die freie Stadt Frankfurt a. M.

Drei erfolgreiche Kriege festigen einen autoritären Obrigkeitsstaat, der das Parlament zu einer Schattenexistenz verkümmert und die staatsgestaltende Kraft der aufkommenden neuen Klassen der Arbeiter und Angestellten in eisernen Zwangsfesseln hält.

Das »Deutsche Reich« ist politisch eine Fortsetzung des alten Preußens, wirtschaftlich aber streben im Rahmen des geeinten Reiches neue wirtschaftliche und politische Mächte empor, die schließlich die atembeklemmende Schnürbrust der veralteten Reichsverfassung mit einem gewaltigen Ruck zerreißen. In ihr konnte sich aber immerhin wirtschaftlich ein Großkapitalismus mit starken kollektivistischen Ansätzen entfalten, in ihr konnte sich eine Partei organisieren, die folgerichtig die Ideale der Demokratie des Jahres 1848 erweiterte und vertiefte und den bürgerlichen Republikanismus in einen Sozialrepublikanismus umformte.

Bereits im Jahre 1871 treten sich das alte autoritäre, machtpolitische Deutschland und das neue, freiheitliche, sich auf das Selbstbestimmungsrecht stützende Deutschland messerscharf gegenüber. Am 10. Mai 1871 schließt das preußisch-deutsche Kaisertum den Frankfurter Frieden mit Frankreich ab und entreißt dem besiegten Lande das in der politischen Kultur Frankreichs wurzelnde Elsaß-Lothringen. Damit wird das Selbstbestimmungsrecht der Elsaß-Lothringer mit Füßen getreten, und damit werden zugleich die Scheite für den Weltkriegsbrand des Jahres 1914 gehäuft. Am 21. Juli 1871 erhebt die sächsische Staatsanwaltschaft eine Anklage wegen vorbereitenden Hochverrats gegen die leidenschaftlichen Vorkämpfer des neuen Deutschlands, gegen Liebknecht und Bebel, weil diese im engsten Bunde mit dem Braunschweiger Ausschuß der sozialdemokratischen Partei zu großen Massendemonstrationen gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen aufgerufen hatten. Bebel und Liebknecht waren mit dem Geist und Feuer des Jahres 1848 getauft. Sie wollten das Deutsche Reich von unten auf durch eine allgemeine Volksbewegung schaffen. Es war ein tief symbolischer Akt, als der Reichspräsident Ebert in den Maitagen 1923 in Frankfurt a. M. der nationaldemokratischen Bewegung des Jahres 1848 huldigte. Das neue soziale Deutschland reichte damit dem demokratisch-nationalen Deutschland des Jahres 1848 die Hand.

Die deutschen Fürsten hatten durch eine Politik gegenrevolutionärer Staatsstreiche und Verfassungsbrüche die Fundamentierung eines einigen Deutschland durch eine demokratisch-nationale Bewegung verhindert und damit eine gewaltsame Lösung des deutschen Problems durch den Militarismus vorbereitet, der durch drei blutige Kriege doch nur zu einem fragmentarischen Deutschland und zu einem bewaffneten, durch den deutsch-französischen Konflikt zerklüfteten Europa geführt hat.

Diese Zerklüftung Europas hat 1870/71 das junge soziale Deutschland zu verhindern gesucht. Wenige Tage nach der Septemberniederlage des französischen Kaiserreichs veröffentlichte der Braunschweiger Ausschuß der sozialdemokratischen Partei einen Aufruf, der einen ehrenvollen Verständigungsfrieden Deutschlands mit Frankreich und eine radikale Abwendung von jeder Annexionspolitik forderte. Das Braunschweiger Manifest sagte den furchtbaren Weltkrieg voraus. »Nehmen sie Elsaß-Lothringen«, so hieß es in dem Aufruf, »so wird Frankreich mit Rußland Deutschland bekriegen, und es ist überflüssig, die unheilvollen Folgen zu deuten.« Kühn warf in das neue Deutschland den unerhört neuen Ruf in die Massen hinein: »Es lebe die Republik!« Das neue Deutschland geht also seinen eigenen Weg in der Außenpolitik. Es bricht grundsätzlich mit einer Eroberungspolitik, die mit dem Schwerte ganze Landesteile einem Staat ab- oder zuschlägt, ohne nach den Lebensinteressen ihrer Bewohner zu fragen. Keine Herren- und Sklavenvölker sollen mehr bestehen, sondern nur noch gleichberechtigte Nationen.

Innerpolitisch knüpft das neue Deutschland an die Demokratie des Jahres 1848 an. Es ruft die volle Volkssouveränität aus und will in den Verfassungsformen alles beseitigen, was den Staat zu der Domäne einer Herrscherfamilie, einer Dynastie herabdrückt. Mehr als fünfzig Jahre ist die deutsche Geschichte von dem großen Kampfe für eine freie politische Selbstbetätigung der Volksmassen ausgefüllt. Die Sozialdemokratie leitete ihre Anhängerschaft zur lebendigsten Anteilnahme an allen bedeutungsvollen staatlichen Aktionen an, sie erzog sie in jahrzehntelangem Ringen um die Demokratie zum Staate selbst.

Das neue Deutschland ist das Deutschland der politischen und wirtschaftlichen Selbstbetätigung der Massen. Ein neuer Typus des Deutschen entsteht: der Gewerkschaftler, der organisierte Angestellte, das rührige Mitglied einer großen Partei. Das neue Deutschland offenbart sich in den Vereinigungen und Verbänden der um ihre wirtschaftliche und politische Befreiung ringenden Frauen.

Das neue Deutschland ist das Deutschland der Volksbühnen, der Arbeiterbildungskommissionen, das Deutschland der Jugendbewegung und der Körperkultur der Massen. Das neue Deutschland wirkt sich in der Begründung einer alle Wissensgebiete umfassenden selbständigen Arbeiterliteratur aus.

In dem großen Ringen des neuen Deutschlands um Macht und Ansehen hat sich die eigenartige Persönlichkeit Fritz Eberts voll entfaltet. Wer die ganze geistige und sittliche Struktur dieses Mannes von der vielgestaltigen deutschen Arbeiterbewegung loslösen will, der vernichtet damit das Geschichtlich-Bedeutsame in der Person Fritz Eberts.

Natürlich ist Fritz Ebert nicht ein bloßes passives Geschöpf der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der großen Umwälzungsperiode von 1871 bis 1918, sondern er ist ein hochaktiver Mitschöpfer der Geschichte dieser Zeit gewesen. In sich vereinigt er eben die wertvollen geistigen und sittlichen Qualitäten, die ihn zum wirklichen Führer unserer Zeit bestimmten. Und es wird gerade die Aufgabe unserer kurzen Lebensbeschreibung des Menschen und Politikers Ebert sein, diese persönlichen Fähigkeiten, die den ehemaligen Arbeiter zum höchsten Staatsamte in Deutschland emportrugen, tageshell zu beleuchten.


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