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1902.

Aus einer Schrift des Bremer Arbeitersekretärs Ebert

Ergebnis einer statistischen Erhebung über die Lebensverhältnisse der bremischen Arbeiter.
1902.

Bei etwa der Hälfte aller Ganghäuser fehlt aber der besondere Abort ganz. An seine Stelle tritt das Tonnensystem. Die Tonne steht in einem meist gut verschlossenen Kasten, so daß der Geruch nicht besonders lästig ist. Der Kasten ist meist auf dem Boden dicht neben den Betten, in einzelnen Fällen auch im Hausflur angebracht.« Für solche »Arbeiterfreunde«, die die soziale Frage mit Moralpredigen zu lösen gedenken, wollen wir noch folgende Ausführungen beifügen: »Im allgemeinen setzt die Hausfrau ihren Stolz darein, das einfache Wohnzimmer möglichst sauber und wohnlich herzurichten. An den Fenstern sind Blumen, die Wände sind, meist auf Kosten des Mieters, tapeziert und mit Bildern und Andenken geschmückt, der Fußboden ist sauber gehalten. Fälle von Schmutz und Verwahrlosung kommen selten und fast nur bei Leuten vor, die aus dem Osten kommen. Solche Familien werden von den übrigen Bewohnern des Ganges gemieden. Erschwert wird die Reinhaltung durch Feuchtigkeit der Wände (Schimmelbildung) und durch die Undichtigkeit des Fußbodens, der Staub durchläßt.« Welche Gefahren durch solche Zustände insbesondere in gesundheitlicher Beziehung entstehen, geht daraus hervor, daß die Gesamtsterblichkeit, auf 10 000 Bewohner der Gänge berechnet, durchschnittlich jährlich 285,1 beträgt, während die gleiche Berechnung in der gesamten Stadt nur 205,1 ergab. Dabei ist die größere Sterblichkeit der Kinder von weniger als 5 Jahren und die der Erwachsenen zwischen 30 und 50 Jahren besonders auffällig.

Einen weiteren Mißstand bilden die hier in großer Anzahl vorhandenen Keller-, sogenannte Souterrainwohnungen. Die bremische Gewerbeinspektion sagt in ihrem Jahresbericht von 1898 in dieser Hinsicht folgendes: »Während früher eigentliche Kellerwohnungen unbekannt waren und nur die Ausnahme bildeten, sind diese bei den neueren Häusern die Regel. Die Kellerwohnung von durchschnittlich 2,5 Meter Höhe enthält einen Wohnraum von etwa 3x4 Meter, eine Schlafkammer von 2,5 x 2,8 Meter mit Licht und Lüftung vom inneren Hausgang, eine kleine Küche nebst Gelaß für Feuerung und dergleichen,« Recht zutreffend werden diese Art Wohnungen in Bremen auch von Dr. Jaffe in seiner Abhandlung ›Hausindustrie und Fabrikarbeit in der deutschen Zigarrenindustrie‹ geschildert: »Auf einer schmalen dunklen Kellertreppe gelangt man durch einen ebenfalls nur dürftig erleuchteten Gang in den als Küche dienenden Raum, der zugleich als Durchgang zu dem dahinter liegenden Hof dient; daneben befindet sich ein Wohnraum und hinter diesem eine kleine Schlafkammer, welche Licht und Luft nur durch ein kleines, auf den erwähnten dunklen Gang mündendes Fenster erhält. Da nach der Straße zu die zu den oberen Wohnungen gehörigen Kellerräume liegen, so erhält die Souterrainwohnung Luft und Licht nur von dem an der Hinterseite des Hauses liegenden Hof.«

Diese Schilderung trifft mit geringen Abweichungen auf sämtliche Souterrainwohnungen zu, die nicht nur bei zahlreichen alten Häusern vorhanden sind, sondern, wie die Gewerbeinspektion ganz richtig ausführt, bei den neueren Häusern die Regel bilden. Dabei ist ein Umstand noch besonders zu beachten. Es fehlt in der Bauordnung eine Bestimmung, wonach durch eine ausreichende Isolierung bei der Fundamentierung Schutz gegen die dem vielfach niedrig gelegenen Baugrund entströmende Feuchtigkeit geschaffen wird, so daß zu den oben geschilderten Mißständen sehr häufig noch Feuchtigkeit hinzutritt. Aus unserer Erfahrung bei der Auskunfterteilung wüßten wir über dieses Kapitel ein besonderes Lied zu singen.

Der Einfluß dieser Entwicklung auf die Wohnungsverhältnisse wird von der Gewerbeinspektion wie folgt gewürdigt: »Der ältere bremische Arbeiter kennt keine Arbeiterkaserne, in seinem kleinen einstöckigen Häuschen wohnt er allein und hat sich, wie ich im Bericht für 1891 mitteilte, auch mehr Sinn für ein freundliches Heim bewahrt, den er dadurch betätigt, daß er an Sonn- und Feiertagen sich damit beschäftigt, demselben innen und außen einen freundlichen Anstrich zu geben. Diesen Eindruck machen auch noch heute nicht nur einzelne Wohnungen, sondern ganze Straßen. Unmerklich scheint hierin eine Änderung einzutreten; zweistöckige Häuser (Keller, Erdgeschoß und Stockwerk), in denen fünf Parteien wohnen, deren Mitglieder sich auf etwa 40 Personen belaufen, von denen etwa 15 Kinder und etwa 15 Einlogierer sind, trifft man nicht selten. In einer Straße werden 25 solcher Häuser von 95 Familien bewohnt, die aus 222 Erwachsenen und 169 Kindern bestehen und bei denen 112 Personen einlogiert sich befinden. Es ist gar nicht so selten, daß Familien von 4-6 Personen sich auf ein Zimmer beschränken, das dann als Wohn-, Schlaf- und Eßzimmer dient, und die übrigen Räume vermieten; welcher Zustand herrscht, wenn Krankheit ausbricht, kann man sich denken.«

Wir glauben damit hinreichend dargetan zu haben, daß hier tatsächlich ein Wohnungsmangel besteht, der erklärlicherweise eine Übervölkerung der vorhandenen Wohnungen zur Folge haben mußte, und in Verbindung mit den schreienden Mißständen in den Ganghäusern und Kellerwohnungen die Richtigkeit unserer Auffassung über die hiesigen Wohnungsverhältnisse bestätigt. Welche Gefahren hierdurch für das gesundheitliche und sittliche Leben der Arbeiterklasse entstehen, brauchen wir hier nicht des näheren zu erörtern. Aber darauf hinweisen wollen wir, daß auf dem dritten internationalen Tuberkulosekongreß 1901 in London Professor Koch in eindringlicher Weise auf diese Tatsachen hinwies. Der Londoner Kongreß erklärte ausdrücklich: »Nach der Ansicht dieses Kongresses tragen Überfüllung der Wohnräume, mangelhafte Ventilation, Feuchtigkeit und allgemein ungesunde Zustände in den Häusern der arbeitenden Klassen dazu bei, die Veranlagung zur Krankheit und die Ausbreitung der Krankheit selbst zu fördern.« Die Ergebnisse unserer Erhebung, die wir nunmehr erfolgen lassen, werden ebenfalls zeigen, daß der bremische Proletarier – entgegen den vielfachen gegenteiligen Behauptungen – in seinen Wohnverhältnissen seinen Klassengenossen anderer Großstädte gegenüber nichts voraus hat.


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