Marcus Tullius Cicero
Von der Weissagung
Marcus Tullius Cicero

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72. Also weg auch mit dieser Traumweissagung, wie mit den übrigen! Denn die Wahrheit zu sagen, der über alle Völker verbreitete Aberglaube hat fast Aller Gemüther umnebelt und einen offen stehenden Wohnsitz in der menschlichen Schwäche gefunden. Diesen Satz habe ich schon in meinem Werke über das Wesen der Götter aufgestellt, und in der gegenwärtigen Auseinandersetzung besonders zu erweisen gesucht. Denn ich glaubte nicht nur mir, sondern auch meinen Landsleuten bedeutend zu nützen, wenn es mir gelänge, ihn gänzlich zu entwurzeln. Wird doch [und Das wünsche ich ja ernstlich beachtet zu sehen] durch Vernichtung des Aberglaubens nichts weniger als die Religion vernichtet. Denn erstlich wird ein weiser Mann die Anstalten der Vorfahren achten, und die äusserlichen Religionsgebräuche und Uebungen aufrecht zu erhalten suchen; und zweitens, fühlen wir uns ja durch die regelmäßige Einrichtung der Welt und die Ordnung die im weiten Himmelsraume herrscht, innerlich genöthigt, ein (über Alles) erhabenes und ewiges Wesen 978 anzuerkennen, das für das Menschengeschlecht ein Gegenstand der Ehrfurcht und Bewunderung seyn müsse. Aber, so wie es Pflicht ist, die Religion fortzupflanzen, so ist es auch Pflicht, alle Keime des Aberglaubens auszurotten. Denn er ist ein gewaltiger Bedroher und Bedränger; wende dich wohin du willst, er verfolgt dich: du magst einem Seher oder einem Vorzeichen Gehör geben: du magst opfern oder nach den Vögeln ausschauen; magst dich nach einem Chaldäer, oder nach einem Haruspex umsehen; mag es wetterleuchten oder donnern, oder Etwas vom Blitze getroffen seyn; ist Etwas wie ein Wunderzeichen zur Welt gekommen oder geschehen [und von allem Diesem muß sich häufig Etwas ereignen]; nie kannst du festen und ruhigen Geistes da stehen. Für eine Zuflucht von aller Mühsal, von allem Kummer, gilt der Schlaf. Aber er wird gerade die Quelle gar vieler Sorge und Angst. Diese würden aber an sich weit weniger Einfluß haben und weniger geachtet werden, hätten sich nicht die Philosophen zu Sachwaltern der Träume aufgeworfen, und zwar nicht gerade die am wenigsten geachteten, sondern sehr scharfsinnige, welche eben so gut das Widersprechende, als das Folgerechte, bemerken; ja, die schon fast für vollendet und vollkommen gelten. Hätte sich nicht Carneades ihrer Willkühr widersetzt, vielleicht würden sie gegenwärtig allein für Philosophen gelten. Und sie sind es gerade, mit denen ich es fast allein in meiner Widerlegung und Bestreitung zu thun hatte; nicht weil ich etwa sie für die Verächtlichsten halte, sondern weil sie ihre Behauptungen auf's scharfsinnigste und geschickteste zu vertheidigen scheinen. Da es aber der 979 Character der academischen Philosophie ist, kein entscheidendes Urtheil niederzulegen, dem Beifall zu geben, was der Wahrheit am nächsten zu kommen scheint, Gründe und Gegengründe abzuwägen, und, was sich über jede Behauptung sagen läßt, vorzutragen, ohne auf ihre eigene Ansicht ein Gewicht zu legen, sondern dem Zuhörer sein Urtheil unbefangen zu lassen; so will ich diese vom Socrates herab fortgepflanzte Weise beibehalten, und recht oft wollen wir uns derselben unter uns, Quintus, wenn es dir recht ist, bedienen. »Mir, wahrhaftig, erwiederte er, kann Nichts willkommener seyn.« Und als wir diese Reden gewechselt, standen wir auf.


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