Marcus Tullius Cicero
Von der Weissagung
Marcus Tullius Cicero

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57. Aber, was die Hauptsache ist, warum werden denn keine solche Orakel mehr in Delphi ertheilt, nicht blos in unserer Zeit, sondern schon längst, so daß gegenwärtig Nichts verachteter ist? Geht man ihnen von dieser Seite zu Leibe, so sagen sie, es sey durch die Länge der Zeit die Kraft jener Stelle, wo der Dunst aus der Erde emporstieg, durch welchen begeistert die Pythia orakelte, ausgegangen [verdunstet]. Man 960 sollte meinen, sie sprechen von einem Weine oder von Fischlacke, die durch Alter umstehen. Von der Kraft jener Stelle ist die Rede, und zwar nicht von einer blos menschlichen, sondern von einer göttlichen. Wie ist denn diese verdunstet? Durch die Länge der Zeit, wirst du sagen. Welche Länge der Zeit ist denn im Stande, eine göttliche Kraft aufzureiben? Was ist aber so göttlich, als ein Anhauch aus der Erde, der den Geist so aufregt, daß er ihm den Blick in die Zukunft aufschließt, so daß er dieselbe nicht nur lange voraussieht, sondern auch in Rhythmen und Versen ausspricht? Wann ist aber diese Kraft ausgegangen? Nicht wahr, seitdem die Menschen angefangen haben, nicht mehr so leichtgläubig zu seyn? Pflegte doch schon Demosthenes, der dreihundert Jahre vor uns gelebt hat, zu sagen, die Pythia philippisire, d. h. sie halte es mit dem Philippus. Damit wollte er aber sagen, sie habe sich vom Philippus bestechen lassen. Woraus man schließen darf, daß es auch bei andern Delphischen Orakelsprüchen nicht ganz ohne Betrug abgelaufen ist. Aber sonderbarerweise wollen, so scheint es, jene abergläubischen und fast schwärmerischen Philosophen Alles lieber, als nicht albern erscheinen. Ausgegangen, sagt ihr, und erloschen sey Das, was, wenn es je gewesen wäre, gewiß ewig wäre, lieber, als daß ihr nicht glaubtet, was gar keinen Glauben verdient.


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