Marcus Tullius Cicero
Von der Weissagung
Marcus Tullius Cicero

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56. Da überdieß Alles durch das Schicksal geschieht, (was an einem andern Orte bewiesen werden soll,) so kann, falls es einen Menschen geben kann, der die Verkettung aller Ursachen im Geiste zu erschauen vermag, wahrhaftig einem solchen Nichts unbemerkt [ungeahnt] bleiben. Denn Wer die Ursachen der künftigen Dinge kennt, muß nothwendig auch Alles kennen, was geschehen wird. Da Dieß nun außer Gott Niemand kann, so bleibt dem Menschen nothwendig nur noch Das, daß er an gewissen Vorzeichen, welche das Künftige andeuten, die Zukunft vorausahne. Denn was künftig ist, tritt nicht plötzlich in die Wirklichkeit; sondern wie man ein Schiffstau abhaspelt, so entwickeln sich die Ereignisse im Verlaufe der Zeit, die nichts Neues hervorbringt, und immer nur das Ursprünglichwahre [das von jeher Nothwendige] zur Entfaltung bringt. Das sehen sowohl Die, denen die natürliche Weissagungsgabe verliehen ist, als Die, welche durch Beobachtung den Verlauf der Ereignisse bemerkt haben. 876 Sehen Diese auch gleich die Ursachen nicht, so sehen sie doch die Vorzeichen und Kennzeichen der Ursachen, und nimmt man dazu Gedächtniß und Aufmerksamkeit, so gewinnt man durch Beiziehung der Erfahrungen früherer Zeiten diejenige Weissagung, welche die künstliche heißt, nämlich die aus den Opfereingeweiden, den Blitzen, den Anzeichen und himmlischen Vorzeichen. Man braucht sich also nicht zu verwundern, daß die Weissagenden Das vorausempfinden, was [noch] nirgends ist. Denn es ist [eigentlich] Alles; nur noch nicht in die Zeit getreten. Und gerade wie in den Saamen schon die Dinge, welche aus ihnen erzeugt werden, ihrem Wesen [ihrer Kraft] nach liegen; so liegen in den Ursachen schon die künftigen Dinge verborgen, deren einstiges Kommen der Geist entweder in begeisterter Aufregung oder vom Schlafe entfesselt schaut, oder die Vernunft aus Gründen oder Vermuthung vorausbemerkt. Und wie Diejenigen, welche den Aufgang, den Untergang und die Bewegungen der Sonne, des Mondes und der übrigen Gestirne kennen, lange zuvor vorhersagen, zu welcher Zeit jedes derselben sich zeigen werde, so verstehen Die, welche den Lauf der Dinge und die Aufeinanderfolge der Ereignisse durch lange Aufmerksamkeit an gewissen Zeichen erkennen, entweder immer, oder, wenn Dieß zu viel gesagt seyn sollte, meistentheils, oder, wenn man auch Das nicht einmal zugeben will, wenigstens zuweilen, was sich ereignen wird. Dieß und einiges Andere sind die aus dem Begriffe des Schicksals hergenommenen Beweise für die Weissagung.


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