Charitas Bischoff
Amalie Dietrich
Charitas Bischoff

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London, d. 30. Juli 1870.

Liebe Mutter!

Mit Schrecken sehe ich, daß ich Dir ewig lange keinen ausführlichen Brief geschrieben habe. Mir ist immer, als müsse ich im Geiste jedesmal die weite Reise nach Australien machen, wenn ich Dir schreiben will; und wenn ich mich wirklich zu einem Brief an Dich aufraffe, so bin ich fast in Verlegenheit, was ich Dir eigentlich schreiben soll, denn meist hat sich meine Stimmung ganz verändert, wenn Deine energisch ausgesprochenen Ratschläge in meine Hände kommen. Denk mal, nur wenn alles still und dunkel um mich her ist, kann ich mir Deine Züge noch wieder vor die Seele zaubern. Ich sehe Dich dann, wie Dein Gesicht, – umrahmt von dichten, dunklen Locken, – so zuversichtlich und unternehmend aussah, und ich möchte wohl wissen, ob Du noch so aussiehst? –!

Es gefällt mir hier so gut, daß ich mir vorstellen könnte, ich möchte immer hier bleiben. Ach Mutter, was wird mir hier geboten, viel mehr als ich fähig bin aufzunehmen.

In den ersten Wochen war mir manches recht schwer. So konnte ich mich z. B. nicht recht in meine selbständige Stellung finden. Keine Schulglocke regelte mein Tun. In Wolfenbüttel wurden die Stundenpläne unter der Leitung der Vorsteher entworfen, hier hatte ich ganz freie Hand. Mr. und Mrs. Buxton leben in den unteren Räumen, hier oben im Schulzimmer und in der Kinderstube haben die nurse und ich unser Reich mit den drei Kindern. An den letzteren hängt mein Herz sehr, jedes hat seine besonderen Reize.

Mabel ist schon sehr verständig, versteht und spricht sehr gut deutsch und folgt dem Unterricht mit Interesse. An den Einzelunterricht mußte ich mich auch sehr gewöhnen, ich dachte oft: ›Lieber dreißig als eine.‹ Der Wetteifer fehlt, aber nun habe ich mich auch daran gewöhnt.

Am Nachmittag ist's anders, da habe ich den Kindergarten; da geht's frisch und fröhlich zu, nur haperte es zuerst mit der Sprache. Mrs. Buxton hat mir ein Buch gegeben, in dem ich das ganze Fröbelsystem, auch die Bewegungsspiele auf englisch habe. Da sitze ich abends und lerne auswendig.

Die Zweite, Ethel, ist ein bildschönes Kind. Ich kann mich nicht satt an ihr sehen, ihr Teint ist so rosig und durchsichtig, ihre Formen so rund und weich, die Augen groß, blau und träumerisch, sie sieht aus, wie ein verkörpertes Märchen.

Harrald ist ein drolliger kleiner Kerl, ein Ausbund von Kraft und Gesundheit; seit er im zoologischen Garten gewesen ist, spielt er am liebsten die Rolle des Löwen, rennt brüllend um den Tisch, daß ihm die blonden Locken in die Stirn fallen, und daß ihm das liebe, frische Gesichtchen kirschrot wird. Die kleine Ethel verkriecht sich dann furchtsam hinterm Schrank.

Mrs. Buxton! Ja, Mutter, das ist eine ganz eigentümliche Dame. Zuerst hatte ich eine große Scheu vor ihr. Sie ist mittelgroß, hat ein energisches, interessantes Gesicht, das mich immer an Napoleon I. erinnert. Zuerst sah ich sie wenig, und wenn ich sie sah, war sie sehr zurückhaltend und kühl, das machte mich sehr besorgt, ob ich auch alles recht mache. Dann kam sie manchmal ganz unerwartet in die Stunde, auch die Kindergartenbeschäftigungen sah sie sich zuweilen an. Ach, und dann, ich war schon recht lange da, ließ sie mir eines Abends sagen, ich möge zu ihr in die Bibliothek kommen. Mit Herzklopfen ging ich hinunter, ich hatte solche Angst, sie könne unzufrieden mit mir sein. Sie saß vorm Kamin und stocherte mit dem poker das Feuer zurecht. Ich saß so, daß sie mir den Rücken zukehrte. Ich wartete schweigend auf ihre Anrede. Und endlich sprach sie, immer in die brennende Flamme hinein, und doch ging die ganze Rede mich an. O, ich war so überrascht, so unbeschreiblich glücklich, daß ich heftig weinen mußte. Sie sagte mir so viel Gutes, sprach davon, daß sie volles Vertrauen zu mir habe, sie hoffte und wünschte, daß ich mich in Mount-House wohl fühlen möge. Das sagte sie sachlich, in ihrer kühlen Art, und doch, o wie beglückt war ich! Dann, wohl um meiner bewegten Stimmung eine andere Richtung zu geben, machte sie sich in derselben kühlen Art, sehr lustig über allerlei. Was mich so alt gemacht hätte, äußerlich und innerlich, ich solle doch flott und jung sein, nicht immer die Nase ins Buch stecken, das hätte ich ja nun lange genug getan, ich solle die Augen aufmachen, die Seele weiten, das Leben solle ich auf mich wirken lassen. Weshalb ich ängstlich sei, allein auszugehen? London füge mir kein Leid zu. Selbständig müsse ich werden, mutig, ich müsse eine Meinung über Dinge haben, und ich dürfe sie auch aussprechen. Ich wolle doch wohl die Kinder zur Selbständigkeit erziehen, da müsse ich notwendig bei mir selbst anfangen. Sie karikierte mich so, daß ich herzlich lachen mußte, obgleich es über mich selbst herging. Endlich erhob sie sich, holte ein Buch, legte es vor mich hin und sagte: »Das Kindergartenbuch genügt doch wohl nicht für Ihre englischen Studien. Hier ist ein Roman, ich habe ihn selbst geschrieben, und hier ist ein Heft, versuchen Sie sich mal im Übersetzen, ich will Ihnen sehr gern helfen; wenn ich mal Zeit habe, sehe ich Ihre Arbeit nach. Nächstens bringe ich Ihnen Noten mit, da müssen Sie üben, und wenn Sie etwas können, spielen wir vierhändig.«

»Ach,« sagte ich erschrocken, »ich habe das Klavierspielen aufgegeben, ich habe gar kein Talent.«

»Nun, wir fangen von vorne an, und dann nehmen Sie sich meinen Wahlspruch zu Herzen, er steht hier in diesem Ring: ›Wo ein Wille, ist auch ein Weg!‹ Sie wollen doch vorwärts in allem, da müssen Sie sich neue Ziele stecken. Seien Sie jung und froh und flott! Sie sollen mal sehen, nächstens nehme ich Sie im Ponywagen mit nach Hydepark, da werden Sie mal Leute sehen, die ihr Leben zu genießen verstehen.«

O wie dankbar war ich ihr! Wie leichten Herzens ging ich mit dem Buche hinauf. Ich hatte so ein Gefühl, sie setzt eine Leiter an und wünscht, daß ich hinauf klettere, sie hebt und ermutigt mich. –

Und die folgende Zeit hat bewiesen, daß ich recht hatte. Ich nahm mir vor, ich wollte entbehren, aber dazu habe ich gar keine Gelegenheit, Mrs. Buxton bietet mir beständig Genüsse edler Art. Sie nimmt mich mit in Konzerte, in Vorträge und ins Theater. Denke Dir, neulich sah ich Hamlet. Weißt Du wohl noch, wie das in Siebenlehn in der Puppenkomödie gegeben wurde? Ich sehe im Geiste noch die Zettel, die an Häusern und Scheunen angeklebt waren: »Hamlet, Prinz von Dänemark, oder die Komödie in der Komödie.«

Ich erinnere, wie der Untertitel lockte! Ja, damals sah ich den Prinzen von Dänemark auf dem kleinen Theater in Siebenlehn, aber denke Dir nur, hier habe ich im Hydepark den richtigen Prinzen von Dänemark gesehen, und zwar in Gesellschaft der Königin Viktoria, des Prinzen und der Prinzessin von Wales! Mrs. Buxton nahm mich in ihrem reizenden Ponywagen mit nach Hydepark, sie selbst führte die Zügel, während der flotte Kutscher mit verschränkten Armen hinter uns saß. Wie wunderbar kam mir diese Fahrt vor! So viel vornehme Equipagen, bespannt mit wunderschönen Pferden, deren Fell glänzte wie Seiden-Moiré. Die königlichen Wagen waren mit vier Pferden bespannt. Wir fuhren rotten-row, das ist eine schöne, breite Allee, wohl eine Stunde lang langsam auf und ab. Es war ein überaus prächtiger Anblick, denn wohl Hunderte von vornehmen Wagen fuhren im langsamen Tempo aneinander vorüber. Von Mrs. Buxton könnte ich Dir immerzu erzählen, sie ist eine äußerst anziehende, interessante Persönlichkeit, auch ihr Äußeres imponiert mir sehr, ob sie nun in eleganter Gesellschaftstoilette, im knappen Reitkleid, oder die Zügel führend im Wagen sitzt. – Übrigens, Mabel reitet auch, sie sieht in ihrem langen, dunklen Reitkleid entzückend aus.

Immer denkt sich Mrs. Buxton etwas aus, was mir Freude macht, oder was mich fördern kann. Neulich brachte sie mir eine Karte mit, darauf stand: »Miß Burton und Miß Sanderson bitten Fräulein Dietrich nächsten Freitag zu einem Abendbrot; mehrere Herren Geistliche werden Ansprachen halten, sowohl in englischer wie in deutscher Sprache. Onslow Square 1.«

Mrs. Buxton beschrieb mir, wie ich dahin kam. Ich war etwas ängstlich, denn es war eine recht lange Reise, bald ging die Fahrt unter, bald über der Erde, aber ich kam richtig an. Ein alter Diener in kurzen Kniehosen, der sehr vornehm und würdevoll aussah, führte mich, nachdem er mir beim Abnehmen des Zeuges behilflich gewesen war, in einen großen, schönen Raum, da saßen in zwei großen Stühlen die Damen, die mich gütigerweise eingeladen hatten. Ich sagte meinen Namen, sie reichten mir freundlich die Hand und sagten, sie hofften, mich jeden ersten Freitag im Monat wieder zu sehen. Der Diener brachte mich in einen großen Saal, da war eine Orgel, und hier fand ich eine Menge Landsleute. Die beiden alten Damen hatten englisch gesprochen, hier hörte ich nur deutsch. Man wurde bald miteinander bekannt, es waren Lehrer, Erzieher, Gouvernanten, junge Pastoren, lauter Deutsche, die in abhängiger Stellung waren, und denen die Damen in ihrer großen Güte jeden Monat Gelegenheit zu dieser Art Geselligkeit gaben. Es wurden Choräle gesungen mit Orgelbegleitung, nachher auch Volkslieder, und manchen wurden die Augen feucht, als wir die Lorelei und andere heimatliche Lieder anstimmten. In einem Saale waren große Tafeln gedeckt, da aßen wir, und nach dem Essen wurden die Ansprachen gehalten. Es war ein schöner Abend, und ich bekam einen Begriff von der Wohltätigkeit, die in solcher Stadt ausgeübt wird. Ich war sehr dankbar für den Abend.

Denke Dir nur, neulich nahm mich Mrs. Buxton mit zu dem berühmten Romanschriftsteller Charles Dickens. Wie ich mich darauf freute!

In Wolfenbüttel hatte ich während der Ferien einige seiner Romane gelesen. Wenn Du seine Sachen noch nicht kennst, kannst Du Dir gar nicht vorstellen, wie er schreibt. Besonders ein Roman hatte es mir angetan, er heißt: »David Copperfield.« Ich konnte mich so gut in die Leiden des armen kleinen, herumgestoßenen Jungen versetzen, ich fühlte mit ihm, als er aus diesen drückenden Verhältnissen erlöst war. Ich sprach mit Mrs. Buxton darüber, und die erzählte mir, daß vieles in dem Buche Selbsterlebtes sei, und nun war ich erst recht gespannt, diesen Mann, dessen Lebensschicksale so wunderbar sind, und der durch seine Schriften einen so unbeschreiblichen Zauber auf mich ausgeübt hatte, selbst zu sehen. Wie dankbar bin ich Mrs. Buxton, daß ich diesen Abend erleben durfte! Auf dem Wege zu ihm erzählte sie mir, daß Dickens soeben von einer Reise nach Amerika zurückgekommen sei, wo er sich durch Vorlesen seiner Romane große Schätze erworben hätte. Jetzt wolle er hier noch einen Zyklus von Vorlesungen halten, die er selbst als Abschiedsvorlesungen bezeichnete, weil er beabsichtigte, sich danach zurückzuziehen, da er leidend sei. – An unserem Bestimmungsort angekommen, traten wir in einen riesengroßen Saal. Der Versammlung war eine freudige Spannung anzumerken, die etwas Ansteckendes hatte, ich war vor Erwartung ganz aufgeregt. Und dann kam er! Ein Sturm allgemeiner Begeisterung brauste durch den Saal, ein Jubel, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Ich war so ergriffen, daß ich weinen mußte, denn ich stellte mir vor, wie ihm zumute sein müsse, wenn in dieser Minute seine harte Vergangenheit an seiner Seele vorüber zöge. Er, der einst hungernd und an Liebe darbend in diesem selben großen London mit der Not des Lebens gekämpft hatte, der stand jetzt da wie ein Sieger, alle Widerwärtigkeiten hatte er bezwungen, und in allgemeiner Verehrung und Begeisterung flogen ihm alle Herzen entgegen.

Nach dem lauten Begrüßungssturm trat feierliche Stille ein, und aller Blicke hingen an der schlanken Gestalt.

Er las aus: »Dombay and Son.« Es war eine Freude, sein Gesicht dabei zu beobachten; wie lebhaft war sein Mienenspiel! Er führte uns jede Persönlichkeit so vor, daß man meinte, sie leibhaftig vor sich zu sehen. Eine charakteristische Geste, ein Heben und Senken der modulationsfähigen Stimme, und man meinte, den protzigen Dombay, die liebliche Florence, das leidende Kind vor sich zu sehen. Ich saß so, daß ich in sein Buch sehen konnte, und es war mir interessant, daß der Text rot und schwarz gedruckt war. Später sagte mir Mrs. Buxton, daß das der leichteren Übersicht wegen so eingerichtet wäre. Nur zu bald kam das Ende. Das war ganz ergreifend! Der kleine Dombay stirbt. Wie er das Herannahen des Sterbens malte! Man meinte, die Fittiche des Todes durch das Haus rauschen zu hören. Wie ein unterdrücktes Schluchzen lag es über der Menge, und still, fast feierlich, als habe man soeben einem Begräbnis beigewohnt, verließen wir alle den Saal. Ich meine, für Dickens war das die beste Anerkennung. – Nie werde ich diesen Abend vergessen. Und nun, da ich Dir dies schreibe, ist Dickens schon tot! Abschiedsvorlesungen waren es gewesen! Die Trauer war allgemein. Ich hatte eine Besorgung zu machen, da sah ich, wie die Droschkenkutscher ein schwarzes Schleifchen an der Peitsche hatten. Der Milchmann, der Gemüsehändler, einer rief es trauernd dem andern zu: »Dickens is dead!« Schon nach wenigen Tagen konnte man überall sein Bild in den Läden sehen: ich habe mir zwei gekauft und schicke Dir das eine.

Nun freue ich mich doppelt, daß ich ihn noch gehört habe. Er kommt in die Westminster-Abtei in die Dichterecke.

Vor einiger Zeit fuhren wir im Wagen nach Harrow on the hill. Ich wunderte mich ordentlich, daß wir mal aus dem unendlich großen London heraus kamen. Mrs. Buxton nahm mich mit auf den Kirchhof und zeigte mir das Grab, auf dem Lord Byron als Schüler oft gesessen hat, und wo er seine ersten dichterischen Versuche gemacht hat. O, hier konnte er wohl inspiriert werden! Welch einen herrlichen Blick hat man von hier oben in das liebliche Tal.

Neulich kam Mr. Buxton ins Eßzimmer, legte die Zeitung auf den Tisch und sagte: »Es gibt Krieg zwischen Deutschland und Frankreich.« Ich hätte so gern Näheres gewußt, wagte aber nicht zu fragen. Mrs. Buxton ahnte wohl meine Gedanken, sie sagte nach Tisch: »Bitte Fräulein Dietrich, nehmen Sie doch die Zeitung mit auf Ihr Zimmer, diese Kriegserklärung wird Sie doch interessieren.«

Ach, denk doch nur, schon wieder Krieg! Ob Du da auch mal eine Zeitung in die Hände bekommst?

Für heute lebe wohl, und sei herzlich gegrüßt von
Deiner Charitas.


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