Charitas Bischoff
Amalie Dietrich
Charitas Bischoff

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Wolfenbüttel, d. 12. Aug. 65.

Meine liebe Mutter!

Wie selten schreibst Du mir! Wieviel Angst habe ich um Dich, und wie sehne ich mich nach Dir! – Der Sommer ist ungewöhnlich heiß, und wir dürfen uns deshalb mittags ein Stündchen aufs Bett legen. Erst wenn's am Abend kühl wird, fühlt man sich etwas wohler, da dürfen wir länger aufbleiben und in dem schönen, großen Garten spazieren gehen. Du solltest nur mal sehen, welche bunte Welt auf verhältnismäßig engem Raum sich da vermischt und einen Austausch anstrebt. Hier sind Schülerinnen aus Rußland, aus Schottland, aus Frankreich, der Schweiz, und eine ist sogar aus Algier. Wenn man aneinander vorübergeht, hört man, wie hier fleißig repetiert wird und wie da Freundschaften geschlossen werden. O, es ist eine ganz merkwürdige und interessante Welt. Ich habe mich sehr an Annette angeschlossen. Außerdem verkehre ich viel mit einer niedlichen Pastorentochter, die hier aus der Nähe ist, sie heißt Johanna.

Neulich fragte mich Johanna, wo ich meine großen Ferien verleben würde. Daran hatte ich schon oft gedacht, aber wissen konnte ich darüber nichts, ich sagte, ich würde wohl hier bleiben.

»Warum gehst du denn nicht zu deinen Eltern?« fragte Johanna.

»Nein,« sagte ich, »das kann ich nicht.«

»Hast du denn gar keine Eltern mehr?« fragte sie weiter, da erzählte ich ihr einiges. Sie war danach sehr herzlich zu mir, gab mir einen Kuß und sagte: »Sei nur nicht traurig! Gleich morgen schreibe ich meinen Eltern und frage sie, ob ich dich mitbringen darf, sie sind gut, und du sollst sehen, sie erlauben es gern.«

Da es dunkel war, konnte sie nicht sehen, wie bewegt ich war. – Mit großer Spannung erwarteten wir den Brief, und wie Johanna vermutet hatte, so war es, – ich darf mit nach Ampleben!

Wenn doch nur nicht solche Hitze wäre! Ich habe fast immer Kopfschmerzen, und als ich es Johanna klagte, gestand sie mir, daß es ihr ebenso gehe. Das ist schlimm in den Stunden! Wenn ich dem Lehrer noch so nahe sitze, so ist mir doch immer, als wenn die Stimme aus weiter Ferne zu mir käme. Ich bin wie in einem Traum. Wenn das so bleibt, komme ich in den Stunden schwerlich mit!

20. September 1865.

Wieviel hat sich ereignet, seit ich Dir die vorstehenden Zeilen schrieb! Hätte ich sie doch im August fortgeschickt, denn Du wirst Dich ja gesorgt haben, daß Du so lange ohne Nachricht bliebst. –

Mutter, ich bin sehr krank gewesen. Die Kopfschmerzen wurden immer schlimmer, und wenn ich die Treppe hinauf- oder hinunterging, hatte ich das Gefühl, als ob sich im Kopf etwas losgelöst hätte. Es war ganz unheimlich, und mir war oft zumute, als müsse ich den Kopf festhalten. – Eines Morgens stand ich am Waschtisch und wollte mir die Hände waschen, da wurde mir so sonderbar, – ich konnte plötzlich nicht mehr sehen, ich streckte voller Angst die Arme aus, – und dann muß ich umgefallen sein. Als ich wieder zum Bewußtsein kam, lag ich nicht in meinem Bett, sondern in einem kleinen Zimmer, das ich noch gar nicht kannte. Ich war sehr schwach, und es war mir alles einerlei. Der Doktor kam, er fühlte den Puls, fragte allerlei, auch ob ich noch Eltern hätte. Er schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln und gab seine Verhaltungsmaßregeln. – Nicht lange nachdem er fort war, hörte ich, daß man draußen mit allerlei herumschleppte, und dann hörte ich weiter, wie mit eintöniger Stimme gezählt wurde: sechs Schürzen, sechs Paar Strümpfe, zwölf Taschentücher usw. Das ging lange so, aber immer zählte eine andere Stimme. Zuerst dachte ich angestrengt darüber nach, was das zu bedeuten hätte, da mir aber vom Denken der Kopf wieder weh tat, sah ich mir nur noch das Tapetenmuster an und ärgerte mich, wenn die Sterne nicht genau aneinander paßten. Dann kam eine von unseren Vorsteherinnen, dieselbe, die mit dem Doktor da gewesen war, und brachte mir Milch und Zwieback. Ich fragte sie, was das Zählen bedeutete, sie sagte, die jungen Mädchen reisten alle nach Hause, sie hätten unter ihrer Aufsicht die Koffer gepackt.

Ich war sehr erstaunt und verwirrt und sagte: »Aber es sind doch noch keine Ferien?«

Anna sagte: »Laß nur das Denken und Grübeln, und frag nicht soviel, du bist krank, und der Doktor sagt, du brauchst Ruhe.«

»Ist denn Johanna auch schon weg?« Anna seufzte und kehrte sich ab. »So!« sagte sie dann, »iß deine Milch, und dann schlaf.«

Täglich kam der Doktor. Schmerzen hatte ich nicht, mir war sehr leicht zumute, gerade als ob ich gar keinen Körper mehr hätte. Eines Morgens wachte ich auf, und wie erstaunte ich, als auf dem Stuhl an meinem Bett die Kammerjungfer von Frau Doktor saß.

»Hannchen!« sagte ich, »wo kommen Sie denn her, und was wollen Sie denn hier im Institut?«

»Ich komme aus Kiel, wo meine Herrschaften diesen Sommer sind, und ich bleibe jetzt bei Ihnen, bis Sie so gesund sind, daß Sie mit mir nach Kiel reisen können. Sie sollen mal sehen, wie schön es da ist! Da an der Ostsee werden Sie sich bald wieder erholen.«

»Wissen Sie, ob schon Ferien sind?« fragte ich.

»Nein,« sagte sie, »fragen Sie auch nichts, was mit Ihrem Institut zusammenhängt, denn davon kann ich doch nichts wissen.«

»Ob wohl alle jungen Mädchen schon fort sind?«

»Ich glaube ja.«

»Ich sollte mit Johanna nach Ampleben.«

Hannchen zuckte die Achseln und sagte: »Ich habe nur den Auftrag, Sie mit nach Kiel zu bringen, sobald Sie reisen können.«

Wie lange Hannchen hier war, weiß ich gar nicht, aber eines Tages durfte ich hinunter ins Mittelzimmer, ein paar Tage danach in den Garten, und endlich kam der Reisetag.

Hannchen sorgte gut für mich. In Hamburg ruhten wir ein paar Tage in dem Hause an der Alster. Ein Arzt kam und gab allerlei Verordnungen. Endlich ging's weiter nach Kiel. –

Hier sah ich zum erstenmal das Meer! O wie prachtvoll! Weit draußen vor der Stadt haben Doktors ein sehr schönes Haus in einem großen Park. Von den Fenstern hat man den Blick auf das Meer. Ich wurde von Herrn und Frau Doktor sehr freundlich empfangen. Du brauchst Dich also nicht zu sorgen. Und was meinst Du, wen ich traf? Denke nur! – Elise mit der ganzen Familie Schurz ist hier! Elise nahm mich mit in ihr Stübchen, ach, es war ein ganz bewegtes Wiedersehen! Sie war so lieb zu mir, fragte teilnehmend nach meinem Ergehen, und dann erzählte sie mit großer Wärme von der Familie Schurz. Die beiden Mädchen, die sie zu erziehen hat, werden Handy und Pussy genannt. Von Herrn Schurz erzählte sie besonders viel, und was sie erzählte, war wie ein Stück aus einem spannenden Roman. Ich war ganz aufgeregt und sagte begeistert: »Ach, ich wollte, ich dürfte Herrn Schurz einmal die Hand geben!« Elise lachte sehr belustigt und sagte: »Na, der Wunsch kann dir vielleicht bald erfüllt werden.« Da ertönte die Tischglocke, Elise legte zärtlich meinen Arm in ihren und sagte: »Nenne mich doch auch »du«, und dann gingen wir, sie noch immer von Schurzens plaudernd, die Treppe hinunter. Auf dem Absatz der ersten Etage trafen wir mit allen Schurzens zusammen. Elise stellte mich eilig vor, und – denke Dir meinen Schreck, – sie erzählte sofort lachend meinen soeben geäußerten Wunsch. Herr Schurz nickte mir freundlich zu, kam mir ein paar Schritte entgegen, streckte mir beide Hände entgegen und sagte: »Gern mein liebes, kleines Fräulein, drücke ich ihnen die Hand, hier sind sie gleich alle beide!«

Ich war ganz verwirrt, erfaßte aber doch mit einem eiligen Blick die ganze Erscheinung. Schurz ist groß, schlank, fast überschlank. Haar und Bart sind rötlich. Aus dem fein geschnittenen Gesicht blitzten durch einen schwarz eingefaßten Kneifer die klugen Augen auf mich herab. Sein ganzes Wesen trägt den Stempel großer Einfachheit und Natürlichkeit. Als ich später mit Elise darüber sprach, sagte sie: »Paß mal auf, je gebildeter die Menschen sind, desto einfacher und natürlicher geben sie sich.«

Frau Schurz ist eine imposante, elegante Erscheinung, sie erinnert sehr an das Gemälde von H. C. Meyer, was so lebenswahr in der Bibliothek hängt. Sie hat dieselben großen, braunen Augen, den schönen, freien Blick, der einen so unaussprechlichen Zauber auf die Umgebung ausübt. Bei Tisch saß ich Schurzens gegenüber und hatte täglich Gelegenheit sein geistvolles Gesicht zu sehen, sein lebhaftes Minenspiel zu beobachten und seinen interessanten Erzählungen zu lauschen. Ich sage Dir, der Atem stockt einem, wenn er erzählt von dem Badener Aufstand, wie er durch Siele gekrochen ist, um seinen Verfolgern zu entfliehen, und nun erst gar, wie er die Flucht Gottfried Kinkels ins Werk setzt, wie er nach dieser Tat, steckbrieflich verfolgt nach Schottland flieht. Und nun sitzt er da hoch geehrt und in der alten und neuen Welt anerkannt und viel genannt. Ist ein solcher Lebenslauf nicht ein großes Wunder? Ich möchte Dir so viel von ihm erzählen, aber ich soll noch nicht so viel schreiben.

Ich sitze viel am Strande, und die schöne Luft kräftigt mich sehr. – Wenn Frau Doktor Zeit hat, darf ich bei ihr französisch lesen. Zuerst war ich recht ängstlich, aber nach und nach werde ich freier und sicherer.

5. Oktober.

Endlich reisten wir wieder nach Hamburg. Herr Doktor ging eines Tages mit mir ins Museum. Herr Kustos Schmeltz empfing uns sehr freundlich und war unermüdlich uns alles zu zeigen und zu erklären, was Du geschickt hast. Herr Schmeltz muß hinüber geschickt haben, denn plötzlich erschien Herr Godeffroy und unterhielt sich mit Herrn Doktor über Dich. Du kannst Dir gar nicht denken, wie gespannt ich aufhorchte, als er mit so warmer Anerkennung von Dir sprach. Er sagte, Du hättest ein merkwürdiges Verständnis fürs Sammeln und Präparieren, Du hättest Dich mit bewundernswerter Energie in die ganz neuen Aufgaben gefunden, er könne nur sagen: »Hut ab vor solcher Tapferkeit und solchem Fleiß!« Ach Mutter, als ich das hörte, mußte ich weinen. Wie liebenswert erschien mir in diesem Augenblick Godeffroy! Ich mußte immer verstohlen sein charakteristisches, festes Gesicht ansehen. Es liegt etwas Großes in diesen scharf geschnittenen Zügen. Wie gern hätte ich ihm meine dankbare Verehrung ausgesprochen, aber das wagte ich nicht. –

Herr Doktor ging allein fort und sagte, ich möge mir nur die Sammlungen noch in aller Ruhe weiter betrachten. Aber denke Dir, als Herr Doktor fort war, sagte Herr Godeffroy: »Na, mein liebes kleines Fräulein, nun kommen Sie mit hinüber zu uns, ich möchte Sie meiner Frau vorstellen.«

Herr Godeffroy sagte: »Sieh mal, liebe Emmy, da bringe ich dir die Tochter von unserer guten Frau Dietrich!«

Frau Godeffroy ist eine elegante Dame, die einen vornehmen Eindruck machte; sie war sehr freundlich zu mir, fragte mich allerlei nach meinem eignen Leben, und beide wünschten mir beim Abschied alles Gute für mein weiteres Fortkommen. Sie meinten, wenn ich nach Dir artete, dann müsse etwas Rechtes aus mir werden. Ach, dachte ich seufzend, sie sollten nur wissen, wie schwer mir alles wird, wie klein und unsicher ich mich fühle, und daß ich weder Lust noch Mut zu einem großen Kampf und Streben habe, wie ich mich vielmehr nach behaglichen, übersichtlichen Verhältnissen sehne, wo man nicht so große Anforderungen an mich stellt. Sehne ich mich denn nicht täglich nach Eisenach zurück? Ein kleines, bescheidnes Heim mit viel Liebe, das ist meine Sehnsucht. Ich werde ganz ängstlich, wenn die Leute von Dir auf mich schließen wollen. Der Tag aber im Museum und bei Godeffroys wird mir unvergeßlich bleiben, mir war so froh und leicht zumute, ich hatte ein Gefühl, als müsse ich gewachsen sein. Aber hab' nur keine Angst, im Institut schrumpfe ich schon bald wieder zusammen.

17. Oktober.

– Ja, und da bin ich wieder. Das ganze rege Leben umflutet mich wieder. Neue sind da, und mit den Alten knüpfte ich wieder da an, wo wir vor der Krankheit aufgehört hatten. Mit Freuden begrüßte ich Annette wieder, dann suchte ich die liebe Johanna.

Ach Mutter! Denk Dir mal, Johanna fand ich nicht wieder! Gestorben! Gestorben, während ich noch hier krank lag. Niemand hat es mir sagen mögen, weil ich selbst sehr in Lebensgefahr geschwebt habe. Ich bin sehr traurig. Ich denke viel darüber nach, wie wunderbar doch Gottes Wege sind. Warum ließ Gott sie sterben, die doch der Stolz und die Freude ihrer Eltern war, sie, die so tief betrauert und so schmerzlich vermißt wird! Nach menschlichem Ermessen wäre es doch viel verständlicher gewesen, wenn von uns beiden ich gestorben wäre, ich hätte niemandem gefehlt, um mich hättest nur Du geweint, und Dir konnte es eigentlich einerlei sein, wo Du mich mit Deinen Gedanken suchen solltest, wir haben doch nichts voneinander. Wirklich, liebe Mutter, es wäre mir auch sehr recht gewesen, denn ich fühle mich oft so unglücklich und einsam, so heimatlos. Welche schöne Zukunft hätte aber wohl Johanna vor sich gehabt! Ach, liebe Mutter, solche Gedanken trägt man so mit sich herum, sie sind doch in meinem Falle ganz natürlich, nicht wahr? Ich bin oft so niedergeschlagen, daß es mir ordentlich auffällt, wenn ich mal so von Herzen glücklich bin wie neulich, wo ich im Museum war.

Mit welchem Interesse sehe ich mir die armen Neuen an, denen das Heimweh auf dem Gesicht geschrieben steht. Einen kleinen Vorteil habe ich schon vor ihnen, und den will ich zu ihren Gunsten ausnutzen, ich kann ihnen doch hie und da mit gutem Rat beistehen.

Nun aber lebe wohl! Hoffentlich tun Dir die Papuas nichts.

Schreib bald Deiner
Charitas.


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